Schule zementiert Rollenbilder ein – der Ungleichheitsfaktor Geschlecht im österreichischen Bildungswesen wirkt massiv

01. Juni 2023

Mädchen haben die Buben bei den Maturaabschlüssen überholt – das bedeutet aber nicht, dass Gleichstellung im Schulsystem erreicht ist. Das Schulsystem bringt Mädchen und Burschen immer noch auf sehr ungleiche Berufslaufbahnen. Diese wirken sich ein Leben lang in Form von Gender-Pay-Gap und Care-Gap aus. Die „unsichtbare Hand des Doing Gender“ prägt unterschiedliche Rollenerwartungen. Das differenzierte österreichische Bildungssystem verfestigt die Rollenbilder. Zwei von drei Oberstufenschüler:innen besuchen „typisch weibliche“ oder „typisch männliche“ Schulformen.

Nebenwirkungen und Langzeitfolgen

Seit Schulen koedukativ für alle Geschlechter offenstehen und Mädchen die Buben in den erreichten Bildungsabschlüssen überholt haben, ist der Diskurs über den Ungleichheitsfaktor Geschlecht innerhalb des österreichischen Schulsystems in den Hintergrund geraten. Das ist bemerkenswert, weil in der Oberstufe Schüler und Schülerinnen ganz eindeutig immer noch unterschiedliche Bildungswege wählen und diese Segregation sich langfristig auf Gleichstellungsfragen auswirkt – also umfassende Nebenwirkungen und Langzeitfolgen hat.

In der Schule geförderte Rollenvorstellungen & geteilter Arbeitsmarkt

Die geschlechtsspezifische Bildungswahl mündet in einem deutlich nach Geschlecht geteilten Arbeitsmarkt mit geringerer Entlohnung von als weiblich konnotierten Tätigkeiten. Der Gender-Pay-Gap speist sich u. a. aus geschlechtsspezifischer Berufswahl, einseitiger innerfamiliärer Aufteilung der Care-Arbeit und hoher Teilzeitquote unter den Frauen. In der Schullaufbahn erworbene und durch einschlägige Ausbildung geförderte Rollenvorstellungen festigen massiv die ungleiche Aufteilung der unbezahlten Familienarbeit.

Frauen im Bildungssystem begünstigt, Männer am Arbeitsmarkt

Über Jahrzehnte ist die Ungleichheit entlang des Faktors Geschlecht im Bildungssystem stabil dokumentiert:

  • Zwei von drei Schüler:innen besuchen in der Oberstufe eindeutig geschlechtsspezifisch segregierte Schulformen.
  • Buben sind in der dualen Berufsbildung (Lehre) überrepräsentiert.
  • Bei den Lehrberufen wählen Mädchen seit über 50 Jahren zum Großteil nur innerhalb von drei Berufen. Diese weisen bereits bei der Lehrlingsentschädigung schlechtere Bezahlung auf.
  • Buben sind in als „frauentypisch“ konnotierten Care-Berufen deutlich unterrepräsentiert.
  • Mädchen haben Buben im Zuge der Bildungsexpansion bei den höheren Bildungsabschlüssen überholt, bekommen am Arbeitsmarkt die erworbenen Kompetenzen aber nicht in Form höherer Entlohnung eingelöst.
  • In der höheren Bildung erreichen Männer nur noch den Doktoratsabschluss häufiger als Frauen.

Auch international betrachtet „scheinen Frauen im Bildungssystem begünstigt, Männer hingegen am Arbeitsmarkt“, so die OECD in Bildung auf einen Blick.

Typisch weibliche oder männliche Schulformen und Laufbahnen

Die ungleichen Besuchsquoten nach Geschlecht beginnen in Österreich in der Sekundarstufe I mit einer Überrepräsentation der Mädchen in Gymnasien und steigern sich mit fortlaufendem Alter. Die Statistik Austria spricht ab 33,3 Prozent bzw. 66,6 Prozent Besuchsquote von typisch weiblichen oder typisch männlichen Schulformen. An Polytechnischen Schulen und Berufsschulen sind Buben überrepräsentiert.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

In der Sekundarstufe II zeigen sich in Österreich geschlechtsspezifische Laufbahnen nach (Aus-)Bildungsdauer, -art und -fachrichtung.

  • Besuchen Mädchen eine AHS-Unterstufe, verbleiben sie eher im Gymnasium als Buben.
  • Vor allem nach einem Mittelschulbesuch werden unterschiedliche Bildungswege eingeschlagen: Mädchen wechseln dabei deutlich öfter als Buben an maturaführende Schulen. Sie entscheiden sich eher für den Wechsel an ein Gymnasium oder eine BHS. Auch steigen sie öfter in eine BMS ein.
  • Die Wahl der Fachrichtung an berufsbildenden Schulen ist deutlich geschlechtsspezifisch ausgeprägt.
  • Mädchen entscheiden sich seltener für eine duale Ausbildung (Lehre).
  • Wenn Mädchen eine Lehre beginnen, wählen sie viel eingeschränkter als Buben unter wenigen geschlechtsspezifisch zugeordneten („weiblichen“) Lehrberufen aus.

Die geschlechtsspezifischen Tendenzen in der Schulwahl haben sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Typisch weibliche Schulformen haben oft einen Care-Schwerpunkt, typisch männliche einen technischen. Sie reproduzieren die konservativen Rollenerwartungen an Frauen und Männer. Wer Kochen, Erziehen, Pflegen bereits in der Schule lernt, ist später auch eher dafür verantwortlich.

Geschlecht wird durch Schule konstruiert

In einem sich selbst reproduzierenden Kreislauf wird Schüler:innen vorgelebt, welche Rollen(-erwartungen) für Männer und Frauen vorgegeben sind. Der Erwerb des Geschlechterverständnisses durch Interaktion bzw. Sozialisation wird als Doing Gender“ bezeichnet. „Geschlecht“ wird in der Interaktion mit der Gesellschaft immer wieder neu konstruiert. Man hat es nicht, man „tut“ es.

Das Schulwesen trägt durch Vorbildwirkung und „Mikroerfahrungen“ im Unterricht zu Doing Gender bei und bietet auf systemischer Ebene durch seine äußere Differenzierung passende segregierte Ausbildungswege an. Geschlecht wird damit auch durch die Schule konstruiert.

Doing Gender passiert im Schulkontext beispielsweise durch:

  • Erlebnisse im Unterricht (ausgehend vom Unterrichtsinhalt oder durch konnotierende, wertende Bemerkungen durch die Lehrperson),
  • den Austausch mit Peers,
  • Imitationslernen, denn Geschlecht wird auch durch Nachahmung erlernt. Der Lehrberuf ist, zumindest aktuell, auf Ebene der Lehrer:innen weiblich dominiert. Führungsfunktionen im Schulwesen und in der Schulverwaltung werden hingegen überdurchschnittlich oft von Männern ausgeübt.
  • Unterschiedliche Unterrichtsangebote für Buben und Mädchen (z. B. Werkunterricht) – auch durch das Hervorheben von atypischen Angeboten als nicht selbstverständliche Besonderheit (wie Frauen in die Technik).
  • Passive Signale auf Ebene des Schulsystems wie das Angebot von geschlechtssegregierten Schultypen und Fachrichtungen auf Schulsystemebene, die ggf. einschlägig bezeichnet sind (bis in die 1990er Jahre trugen Schulen in Österreich Bezeichnungen wie „Lehranstalt für wirtschaftliche Frauenberufe“).

Dadurch werden berufliche Tätigkeiten und hinführende Ausbildungswege nicht als neutral angesehen, sondern „weiblichen“ oder „männlichen“ Kategorien zugeordnet und in Berufswahlentscheidungen miteinbezogen.

Problematisch wird das in Kombination mit einem ausdifferenzierten Ausbildungsangebot. Eine Besonderheit des österreichischen Schulsystems ist eine starke äußere Gliederung in unterschiedliche Schulformen, -arten und -sparten in der Sekundarstufe I und II. Sie verfolgt unter anderem die Absicht, möglichst begabungs- und interessenhomogene Lerngruppen herzustellen (die Einlösung dieser Erwartung ist empirisch nicht belegt!). Sie soll den Unterricht vereinfachen und für unterschiedliche Interessen passende Angebote bieten. Eine Gefahr ist aber auch die offenbar stattfindende Etikettierung der Ausbildungswege – die für atypische Bildungs- und Berufswahl zur Hürde wird.

Bewusstes Gegensteuern: Schulsystem, Berufsorientierung, Lehrer:innenbildung

Eine weniger geschlechtssegregierte Bildungs- und Berufswahl erfordert bewusstes Gegensteuern in der Organisation und im täglichen Ablauf von Schule.

  1. Jedenfalls fördert die starke äußere Differenzierung im österreichischen Schulsystem das geschlechtsspezifische Einsortieren der Schüler:innen auf geschlechtssegregierten Berufspfaden. Eine längere gemeinsame Schulzeit für Mädchen und Buben ist unter diesem Aspekt wünschenswert und die kleinteilige Gliederung des Schulangebots – bis hin zur schulautonomen Schwerpunktsetzung – abzulehnen. Die starke Ausdifferenzierung des Bildungsangebots wirkt sich überdies auch hinsichtlich anderer Ungleichheitsfaktoren segregationsfördernd aus.
  2. Die Institution Schule muss durch gezielte Bildungs- und Berufsorientierung die Rollenerwartungen von und an Mädchen und Buben aufbrechen. Diese Aufgabe kann von Lehrer:innen nicht „nebenbei“ erledigt werden. Dazu braucht es strukturell wirksame Ansätze – vor allem ein eigenständiges Unterrichtsfach mit dafür ausgebildeten Lehrer:innen. Bildungs- und Berufswahl ist ein Prozess – die Beschäftigung im Unterricht darf sich nicht nur auf die Schulzeit unmittelbar vor Nahtstellen (wie dem Übergang in die Sekundarstufe II oder das Maturajahr) beschränken.
  3. Lehrer:innen brauchen in den täglichen Interaktionen mit ihren Schüler:innen ein ausgeprägtes geschlechtssensibles Bewusstsein und Wertesystem, um dazu beizutragen, geschlechtsspezifische Rollenerwartungen nicht zu tradieren, sondern aufzubrechen. Insofern sind sensibilisierende Maßnahmen auch im Bereich der Lehrer:innenbildung auszubauen – besonders im Bereich der berufsbegleitenden Weiterbildung.
  4. Eine Qualitätsoffensive auf allen Ebenen und für alle Beteiligten des Schulsystems sollte die nachhaltige Umsetzung bereits bestehender Unterrichtsprinzipien und didaktischer Grundsätze sicherstellen, damit Interessenentfaltung und Berufswahl für Mädchen und Buben nicht weiterhin geschlechtsspezifisch eng eingeschränkt bleibt.
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