Wer Gleichstellung erreichen will, muss insbesondere auch in der Schule ansetzen. Das Unterrichtsprinzip zur Gleichstellung versuchte dem Rechnung zu tragen, wurde aber von der türkis-blauen Bundesregierung im Zuge der Rechtsbereinigung veralteter Erlässe aufgehoben. Dies wurde damals medial kritisiert. Ende Oktober 2018 folgte dem der Grundsatzerlass „Reflexive Geschlechterpädagogik und Gleichstellung“. Prinzipiell erscheint es sinnvoll, das aus dem Jahr 1995 stammende Unterrichtsprinzip „Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern“ zu überarbeiten und an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Genau wie in der Reform des Gleichbehandlungsrechts 2004, in der weitere Diskriminierungsmerkmale wie ethnische Herkunft, Religion und Weltanschauung, Alter und sexuelle Orientierung aufgenommen wurden, sind auch im Erlass diese Bereiche abgebildet.
Dass dies dringend notwendig ist, zeigt auch die 2017 veröffentlichte Sonderauswertung der PISA-Studie 2015. Demnach geben in Österreich 19 Prozent der SchülerInnen an, zumindest mehrmals im Monat gemobbt zu werden. Um dem entgegenzuwirken, ist der Förderung von respektvollem Umgang im schulischen Alltag große Bedeutung beizumessen.
Der neue Erlass – was wird betont, was kommt zu kurz
Der neue Erlass wird einer breiteren Auffassung von Gleichstellung aber nicht gerecht. Themen wie Diskriminierung im Netz, queere Lebensweisen, Umgang mit Fremdenfeindlichkeit und Rassismus werden ausgespart. Konkret wird der Grundsatzerlass vor allem dann, wenn es darum geht, das „Andere“, aufgehängt an anderer Kultur und Religion, festzumachen. Also wenn es um Familienehre, Geschlechtersegregation und Überwachung weiblicher Jungfräulichkeit, Zwangsverheiratung, FGM (weibliche Genitalverstümmelung) oder Teilnahme von Mädchen am Schwimmunterricht geht. Auffallend ist die Fokussierung auf das Thema Religion. Allein das Wort „Religion“ kommt in dem 16 Seiten umfassenden Erlass neunmal vor (zum Vergleich: Das Wort „Gender“ wird – abgesehen von Fußnoten – in den 16 Seiten zweimal gebraucht).
Dem Umgang mit dem Kopftuch wird gar ein eigener Abschnitt gewidmet. Damit zeigt sich einmal mehr, dass das Kopftuch in Österreich zum Symbol des Anderen geworden ist. In der medialen Öffentlichkeit hat es Platz eins bezogen auf Frauenthemen erreicht. Obwohl deutlich relevanter, erhalten Bereiche wie Lohngerechtigkeit oder Frauen am Arbeitsmarkt wesentlich weniger Aufmerksamkeit, wie die Jahresstudie 2017 zu frauen politik medien von media affairs zeigt.
An mehreren Stellen des Erlasses wird der Eindruck erweckt, Geschlechterdiskriminierung sei etwas, das in Österreich bereits überwunden sei und nunmehr wieder importiert würde. Etwa wenn die Rede davon ist, dass getrennte Bildungswege für die Geschlechter mittlerweile der Vergangenheit angehörten. Hier dient etwa das Textile und Technische Werken als Beispiel. Diese „tauchen jedoch indirekt wieder auf, etwa wenn es um die gleichberechtigte Teilnahme von Mädchen am Schwimmunterricht oder an koedukativen Schulveranstaltungen geht“. Allerdings sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass auch die Trennung von Textilem und Technischem Werken noch nicht lange Geschichte ist. An den Neuen Mittelschulen etwa gibt es auf sozialpartnerschaftliche Initiative seit Herbst 2012 ein gemeinsames Fach „Technisches und Textiles Werken“, in den Gymnasien (AHS) sind die Fächer Textiles und Technisches Werken nach wie vor getrennt, die SchülerInnen müssen sich für eines der beiden Fächer entscheiden. Das gemeinsame Fach wird an den Gymnasien 2021 eingeführt.
„Wir und die anderen“
So verwundert es nicht, dass der Grundsatzerlass konkrete Handlungsanweisungen und Ideen, wie die existierenden strukturellen Probleme in Bezug auf Gleichstellung und Diversität überwunden werden können, nahezu ausklammert: Dass in Österreich punkto Gleichstellung und Diversität längst nicht alles eitel Wonne ist, belegen Statistiken hinreichend. Österreich hat eine der größten Lohnscheren der EU (Gender Pay Gap), und auch die Rate der häuslichen Gewalt zählt zu den höchsten in der Union. Die Aufteilung der Kinderbetreuungs- und Hausarbeit geht hierzulande stark zulasten der Frauen, Kinderbetreuungseinrichtungen sind unzureichend ausgebaut, und Mädchen entscheiden sich nach wie vor überwiegend für typische Frauenberufe, während Burschen die typischen Männerberufe wählen.
Doch anstatt sich zu bemühen, existierende Ungleichheiten in der Gesellschaft, die im Schulsystem gespiegelt werden, aufzuheben und die Handlungsspielräume von Mädchen und Burschen gleichermaßen zu erweitern, ihren Selbstwert zu stärken und Entfaltungsmöglichkeiten jenseits von Rollenklischees zu fördern, wird auch mit diesem Erlass der von der Bundesregierung permanent strapazierte „Wir und die anderen“-Diskurs wiederholt.
Es geht aber darum, eine gendersensible Schule zu schaffen, die allen Mädchen und Burschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder sexuellen Orientierung den Raum und die Chance gibt, sich frei von Rollenvorstellungen und -zuweisungen zu entfalten. Davon würde letztlich die gesamte Gesellschaft profitieren.
In diesem Erlass bleibt das Zusammenspiel unterschiedlicher Diskriminierungsformen, also etwa die gezielte Abwertung von Schülerinnen nicht nur aufgrund ihres Geschlechts, sondern auch aufgrund ihrer (sozialen) Herkunft, ausgespart. Fragen der Intersektionalität sollten in einem Grundsatzerlass zur Gleichstellung aber jedenfalls enthalten sein. Die segregierenden Wirkungen des österreichischen Bildungssystems in Bezug auf soziale Mobilität, Geschlecht und Herkunft sind ebenfalls hinreichend belegt. So zeigt etwa die Schulwahl nach der Sekundarstufe I sehr deutliche geschlechterstereotype Entscheidungen auf: Während vier Fünftel der SchülerInnen an sozialberuflichen Schulen weiblich sind, sind es an technischen Schulen (HTLs) nur gut ein Viertel.