Deutsch(förder)klassen: Eine Evaluierung ohne echte Folgen?

21. September 2023

Seit nunmehr fünf Jahren werden “außerordentliche” (ao.) Schüler:innen mit Deutschförderbedarf in sogenannten Deutschförderklassen/-kursen unterrichtet. Die Kritik an diesem Modell war von Anfang an groß, zahlreiche Studien und Erfahrungswerte der letzten Jahre haben die Probleme in der Praxis und die teils drastischen Folgen für Schüler:innen nachgewiesen. 2022/23 kam mit der offiziellen Evaluierung im Auftrag des Bildungsministeriums eine neue Dynamik in die Debatte – ein Anlass, zu Beginn dieses neuen Schuljahres über die darin gewonnen Erkenntnisse, über bislang erfolgte bildungspolitische Reaktionen sowie über alternative Empfehlungen der Bildungs- und Sprachlernforschung Bilanz zu ziehen.

Evaluierungsergebnisse bestätigen jahrelange Erfahrungen und Kritik

Zur Erinnerung: Die Einführung der Deutschförderklassen/-kurse mit dem Schuljahr 2018/19 war ohne eine entsprechende Evaluierungsgrundlage auf politischen Anstoß der Regierungskoalition von ÖVP und FPÖ vorangetrieben worden. Eine erst 2019 veröffentlichte Evaluierung der bis dahin im Einsatz befindlichen Sprachstartgruppen/Sprachförderkurse durch das Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des Bildungswesens (BIFIE) (Opriessnig/Waxenegger/Oberwimmer 2019) hatte Verbesserungsvorschläge am bisherigen Modell formuliert, die in eine ganz andere Richtung wiesen: sie empfahlen vor allem eine durchgängige Sprachförderung, die möglichst früh im Kindergarten beginnt und die nicht auf zwei Jahre beschränkt ist. Die damalige Evaluierung floss jedoch nicht mehr in die Neugestaltung ein, da die Deutschförderklassen 2019 bereits eingeführt und nunmehr geltendes Modell waren.                    

Mit entsprechend großer Aufmerksamkeit wurde deshalb Ende 2022 die vom Bundesministerium für Bildung in Auftrag gegebene neue Evaluation der Implementierung des aktuellen Deutschfördermodells (Deutschförderklassen/-kurse) rezipiert. Darin befragte das Forscherinnenteam um Christiane Spiel, Vera Popper und Julia Holzer sowohl 80 Schulleiter:innen als auch 613 Lehrkräfte in Deutschförderklassen/-kursen, mittels “Extremgruppenvergleich” wurde jeweils eine Gruppe von Schulstandorten mit kürzerer Verweildauer der Schüler:innen im ao.-Status gegenüber einer Gruppe von Schulstandorten mit längerer Verweildauer verglichen. Die Ergebnisse der Befragung wiesen in eine deutliche Richtung:

Insgesamt fand das derzeitige Deutschfördermodell sowohl bei Schulleitungen als auch Lehrpersonen eher geringe Zustimmung (siehe Grafik 1). Auf einer Skala von 0 (keine Zustimmung) bis 5 (Zustimmung) beurteilten die Schulleiter:innen es lediglich mit 2,1 (an Standorten mit kürzerer Verweildauer im ao.-Status) bzw. 2,2 (an Standorten mit längerer Verweildauer im ao.-Status), während die Lehrkräfte es mit 2,4 bzw. 2,7 geringfügig besser, jedoch ebenfalls eher negativ bewerteten. Aufschlussreich waren zudem die unterschiedlichen Bewertungen der verschiedenen Unterrichtsformen: Während die segregierten Deutschförderklassen bei allen Befragten die deutlich schlechtesten Bewertungen bekamen (von 2,3 bis 3,0), erhielten die in geringerem Ausmaß segregierenden Deutschförderkurse deutlich bessere Einschätzungen (von 3,6 bis 3,9) und die integrative Deutschförderung die höchste aller Beurteilungen (von 3,8 bis 4,4).

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Das Modell führe aus Sicht der befragten Lehrkräfte dazu, dass eine Vielzahl „der Schüler*innen die sprachbezogenen Ziele am Ende des ao.-Status nicht erreichen“, so die Studienautorinnen – konkret würden sich 21 bzw. 24 Prozent der Schüler:innen auch nach zwei Jahren nicht trauen, Deutsch zu sprechen, und 48 bzw. 55 Prozent nicht, sprachbezogene Lernstrategien einzusetzen. Auch die flankierenden pädagogischen Ziele wie das Erlangen sozialer Kompetenz werde von etwa 25 Prozent der Schüler:innen verfehlt, 28 Prozent würde kein Selbstvertrauen erlangen und das Ziel der Erlangung von Mehrsprachigkeitskompetenz werde gar von 44 Prozent der ao. Schüler:innen verfehlt.

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Weitgehend einhellig fiel letztlich die Einschätzung zum Optimierungsbedarf des derzeitigen Modells aus (Grafik 2): Unter den Schulstandorten mit kürzerer Verweildauer äußerten 98 Prozent der Schulleiter:innen und 91 Prozent der Lehrpersonen Verbesserungsbedarf am derzeitigen Modell, unter den Kolleg:innen von Schulstandorten mit längerer Verweildauer äußerten 79 Prozent der Schulleiter:innen und 85 Prozent der Lehrkräfte einen solchen Wunsch. Als Ansatzpunkte für konkrete Verbesserungen wurden die folgenden Punkte am häufigsten genannt (Grafik 3):

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Diese Befunde der wissenschaftlichen Evaluierung im Auftrag des Bildungsministeriums verdeutlichen, dass Schulen hier ein Modell vorgesetzt worden war, welches diese mehrheitlich als dysfunktional und problematisch bewerten. Die Ergebnisse bestätigten damit auch von offizieller Seite jene Erfahrungen und Studienergebnisse, die bereits in den letzten Jahren veröffentlicht worden waren. Die bildungspolitische Frage lautete nun: Welche Folgen haben diese Befunde?

Die Folgen: Zarte Anpassungen ohne systematische Reform

Die Befunde sowie die anhaltende Diskussion haben im vergangenen Schuljahr zu ersten Anpassungen geführt, ohne jedoch das bestehende Modell systematisch zu reformieren:

Budgetausweitung. Seitens des Bildungsministeriums wurde auf die Evaluierungsergebnisse mit einer budgetären Aufstockung für Deutschförderklassen um 10 Millionen Euro auf nunmehr rund 40 Millionen Euro reagiert. Diese Summe soll für zusätzliche Planstellen eingesetzt werden, der Bund finanziert damit 577 statt der bislang 442 Planstellen aus Bundesmitteln. Bis dato stemmen die Länder selbst zusätzliche Planstellen aus ihrem Allgemeinkontingent, etwa wenn sie an besseren Betreuungsschlüsseln zwischen Pädagog:innen und Kindern interessiert sind. Die Aufstockung kommt diesem Bedarf nun etwas stärker entgegen, für eine systematische Verbesserung der Betreuungsverhältnisse wären jedoch wesentlich mehr Ressourcen und ein flexiblerer Einsatz notwendig.

Testüberarbeitung MIKA-D. Eine weitere Ankündigung wurde hinsichtlich des vielerseits kritisierten zuweisungsdiagnostischen Instruments MIKA-D („Messinstrument zur Kompetenzanalyse Deutsch“) gemacht. Dieses wird bis zum Jahr 2026 vom Institut des Bundes für Qualitätssicherung im österreichischen Schulwesen (IQS) überarbeitet. Bislang bekannt ist, dass auf Basis einer laufenden MIKA-Studie die Weiterentwicklung der Testitems in Richtung eines Baukastensystems geplant ist, aus dem Lehrkräfte individuell Screeningelemente zusammenstellen können. Diese Weiterentwicklung von MIKA-D verändert jedoch nicht grundlegend die Situation: Der MIKA-D fungiert weiterhin als ein Selektionsinstrument – das aus sprachwissenschaftlicher Sicht zudem fragwürdige Kompetenzen testet -, anstatt den Fokus auf den Ausbau einer individuellen Förderdiagnostik zu richten. Eine solche Förderdiagnostik würde Lehrkräfte dabei unterstützen, auf Basis von Diagnoseergebnissen jedes Kind entsprechend seinem individuellen Lernstand und -verlauf zu fördern.

Aufweichung der Aufstiegsregelungen. Zu Schuljahresende 2023 wurde Kritik an den starren Übertrittsregelungen für ao. Schüler:innen an den schulischen Nahtstellen (4. und 8. Schulstufe) publik, da diese einen Schulwechsel in den nächsthöheren Schultyp verunmöglichen, sofern ein:e Schüler:in nicht bereits im Halbjahr ein positives MIKA-D-Testergebnis vorweisen kann. Obgleich medial vor allem im Hinblick auf ukrainische Schüler:innen diskutiert, betrifft diese Hürde seit 2018/19 alle ao. Schüler:innen gleichermaßen und war schon in der Begutachtung des Modells als kontraproduktiver Schullaufbahnverlust kritisiert worden. Nunmehr wurde für das Schuljahr 2022/23 eine Sonderregelung gewährt, die ao. Schüler:innen an der Nahtstelle ein Jahreszeugnis und damit den Wechsel in den nächsten Schultyp ermöglicht, sofern diese über eine ausreichende MIKA-D-Testleistung verfügen oder bereits 2 Jahre auf derselben Schulstufe verbrachten haben. Die Sonderregelung zeigt, dass eine Anpassung der Aufstiegsregelungen also praktisch durchaus möglich ist. Dennoch wird eine dauerhafte Lösung ebenso abgelehnt wie eine weitergehende Flexibilisierung, die den ao. Status von seinem Charakter des Schuljahresverlusts entkoppeln könnte. 

Systematisches Umdenken ist notwendig

Im Rückblick wird deutlich: Seit Einführung der Deutschförderklassen/-kurse 2018/19 wurden manche Probleme des Modells aufgrund des fortdauernden Protests durch Wissenschaft, Sozialpartner, NGOs sowie von Pädagog:innen, Schulleiter:innen und Eltern etwas abgeschwächt – so auch durch die jüngsten Maßnahmen. An der problematischen Grundstruktur dieses Modells hat sich bis dato jedoch nichts geändert und – darf man den jüngsten Ankündigungen des Bildungsministers glauben – soll bzw. wird sich auch weiterhin nichts ändern. Das ist problematisch, weisen doch inzwischen die hauseigenen Evaluierungsergebnisse auf die massiven Defizite dieses Modells hin.

Folgt man wissenschaftlichen Empfehlungen, so verweisen diese auf die Wichtigkeit einer frühzeitigen und langfristigen Förderung. Ebenso wird die Notwendigkeit qualitativ hochwertiger Förderung unterstrichen, wozu neben qualifiziertem Personal auch engere Betreuungsverhältnisse statt großer Klassenstrukturen gehören, vor allem bei höherem Förderbedarf der Kinder. Zentral ist zudem, dass die Förderung von Erst- und Zweitsprachen aufeinander abgestimmt erfolgen sollte statt wie derzeit mit ausschließlichem Fokus auf die Deutschvermittlung. Nicht zuletzt wird möglichst viel Kontakt mit gleichaltrigen Sprachvorbildern als zentrales Element für erfolgreiche Sprachaneignung betont, statt in segregierten Settings getrennt von ihnen unterrichtet zu werden. Vor diesem Hintergrund hat die Arbeiterkammer Wien gemeinsam mit Expert:innen der Universität Wien einen Sprachschlüssel entwickelt, der diese Empfehlungen in ein alternatives Fördermodell gießt. Er zeigt, wie – bei entsprechendem politischen Willen – eine Verbesserung der Deutschförderung auch durch unmittelbar realisierbare Reformen erreichbar wäre.

Neben diesen unmittelbar notwendigen Anpassungen der Deutschförderung braucht es mittelfristig jedoch einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel des Bildungssystems im Umgang mit seinen Sprachen. Eine echte Anerkennung der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit der Kinder & Jugendlichen in Österreich impliziert auch eine Abkehr vom nach wie vor prägenden monolingualen Habitus. Stattdessen muss eine durchgängige und mehrsprachige Sprachbildung als Gesamtkonzept zum Standard für eine mehrsprachige Schüler:innenschaft werden. Schüler:innen aus ihrem Entwicklungsprozess und ihrem Regeklassenverband zu reißen, bis sie ein definiertes Niveau der alleinigen Unterrichtssprache Deutsch erreichen, widerspricht jedenfalls sowohl den Empfehlungen der Forschung als auch den Bedürfnissen der Betroffenen.

Weiterführende Studien und Veranstaltungsbefunde:

Schwab/Hassani (2023): Eine multiperspektivische Studie zu den Deutschförderklassen

Schweiger/Müller (2022): Abschlussbericht Forschungsprojekt Deutschförderklassen an der VS 1120, Deckergasse 1

Gitschthaler, Kast, Corazza, Schwab (2020): Inclusion of multilingual students—teachers’ perceptions on language support models

Veranstaltungsrückblicke: Erfahrungen nach einem Semester Deutschförderklassen | Deutsch wirksam fördern | Wie SchülerInnen und Eltern Deutschförderklassen erleben | Quo vadis Deutschförderklassen?

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