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Das Projekt MAGMA im niederösterreichischen Gramatneusiedl zeigt zudem, dass durch individuell abgestimmte und intensiv begleitete Angebote zur beruflichen Orientierung und zur Förderung von fachlichen Fähigkeiten Langzeitarbeitslose wieder erfolgreich am Berufsleben teilnehmen können. Unternehmen investieren selbst jedoch immer weniger in die fachlichen Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter:innen, wie sich anhand der rückläufigen Zahlen zur betrieblichen Weiterbildung zeigt. Auch das weist darauf hin, dass es Unternehmen – entgegen der verbreiteten Darstellung – nicht um die berufliche Qualifikation von Arbeitskräften geht.
Unternehmen haben Angst vor einem Verlust ihrer Machtposition
Beim von Unternehmen beklagten Mangel an Fachkräften handelt es sich also in Wahrheit um eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften – unabhängig vom Qualifikationsniveau. Diese Unterscheidung ist von Bedeutung, denn ein hoher Arbeitskräftebedarf ist – anders als ein „echter“ Fachkräftemangel – weder für arbeitssuchende und arbeitende Menschen noch gesamtgesellschaftlich ein Problem. Denn ein hoher Arbeitskräftebedarf ist ein Indikator dafür, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und damit die ökonomischen Anreize für Unternehmen, Produktion und Dienstleistungen auszuweiten, stark sind.
Das bedeutet, dass sich die Machtverhältnisse am Arbeitsmarkt zugunsten der Arbeitnehmer:innen verschieben. Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von einer Machtposition der Unternehmen, die es ihnen erlaubte, selbst für Stellen mit unattraktiven Arbeits- und Entlohnungsbedingungen zahlreiche Bewerber:innen zu finden. Nun sind es immer weniger Arbeitslose und Beschäftigte, die um Jobs konkurrieren, sondern zunehmend Unternehmen, die im Wettbewerb um Arbeitskräfte zueinander stehen und bessere Entlohnung, attraktivere Arbeitszeitmodelle oder betriebliche Kinderbetreuungs- und Weiterbildungsangebote bieten müssen, um nicht wegen Personalmangels von der Konkurrenz verdrängt zu werden. Da all diese Maßnahmen den Profit schmälern, ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Leistbarkeit solcher Maßnahmen von Unternehmen infrage gestellt wird.
Derzeitige Maßnahmen tragen nicht zu Wohlstand bei
Die Verschiebung der Machtverhältnisse am Arbeitsmarkt zugunsten der Arbeitnehmer:innen ist für Unternehmen eine beängstigende Aussicht. Ihre Warn- und Weckrufe an die Politik zielen deshalb darauf ab, den Arbeitsmarkt wieder zu einem klaren Nachfragemarkt zu machen: Gefordert werden von Unternehmen vor allem solche beschäftigungspolitischen Maßnahmen, die die industrielle Reservearmee erhöhen. Üblicherweise umfassen diese Maßnahmen härtere Sanktionen für Arbeitslose sowie diverse Verschärfungen für den Anspruch auf sozialstaatliche Leistungen. Zum Beispiel ist der jüngste Vorstoß des Arbeitsministers, Sozialleistungen für Teilzeitbeschäftigte zu kürzen, und das Maßnahmenpaket gegen den Arbeitskräftemangel in diese Richtung zu interpretieren.
All diese Maßnahmen orientieren sich an dem Ziel, die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer:innen zu schwächen, indem ihre „Outside Options“ reduziert werden. Dies wiederum erhöht den Druck auf Arbeitslose und Beschäftigte, ihre Existenzgrundlage durch mehr Lohnarbeit zu sichern, erhöht die Arbeitslosigkeit in Österreich, schwächt die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht und verstärkt so den Abwärtsdruck auf Arbeits- und Lohnstandards. Dass sie damit mitnichten zum gesellschaftlichen Wohlstand beitragen, liegt auf der Hand.
Die Chance des Arbeitskräftebedarfs nutzen!
Das laute Klagerufen von Unternehmen ob eines scheinbaren Fachkräftemangels muss aus Perspektive der Arbeitnehmer:innen als unbegründete Angstmacherei gesehen werden. Denn ein Mangel an Fachkräften – also an fachlichen Qualifikationen am Arbeitsmarkt – ist derzeit nicht zu beobachten. Stattdessen herrscht ein hoher Bedarf an Arbeitskräften, der viele Vorteile mit sich bringt. Er verbessert nicht nur die Situation für Arbeitslose und von der Arbeitswelt entmutigte Menschen (die sogenannte „stille Reserve“), sondern stärkt auch die Verhandlungsposition von Arbeitnehmer:innen und ihren Interessenvertretungen. Aus diesem Grund tun diese gut daran, die Hilferufe der Unternehmensseite zu überhören und stattdessen die erprobte sozialpartnerschaftliche Strategie zur Verbesserung der Entlohnungs-, Arbeits- und Lebensbedingungen der vielen voranzutreiben, zum Beispiel durch eine Reduktion der Normalarbeitszeit.
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