Die Idee einer Arbeitslosenrückversicherung für die Eurozone ist nicht neu – doch in der Corona-Krise ist sie so aktuell wie nie. Um dieses mutige Politikinstrument kreisen viele Mythen und falsche Annahmen. Doch es gibt mindestens drei gute Gründe, die „Versicherung der Versicherungen“ endlich Wirklichkeit werden zu lassen.
Am 4. März 2021 hat die Europäische Kommission ihren Aktionsplan zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte vorgestellt. Der Aktionsplan bildet das Herzstück der sozial- und arbeitsmarktpolitischen Agenda der aktuellen Europäischen Kommission. Bereits bei ihrem Amtsantritt hatte die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen ehrgeiziges Engagement für die soziale Aufwärtskonvergenz bekundet. Sie strebe eine „Wirtschaft im Dienste der Menschen an“, so ihre Worte 2019.
Eine Versicherung für die Versicherungen
Ein großes Versäumnis des Aktionsplans ist die Tatsache, dass die bereits angekündigte Initiative zu einer Arbeitslosenrückversicherung für die Eurozone in ihm keine Erwähnung findet. Während die Europäische Kommission ursprünglich noch in der ersten Jahreshälfte 2021 einen Vorschlag zu einer Europäischen Arbeitslosenrückversicherung vorlegen wollte, hat dieses Thema mittlerweile keine Priorität mehr. Auch wenn Beschäftigungskommissar Nicolas Schmit unterstreicht, dass eine solche Rückversicherung weiterhin auf der Agenda der Kommission stehe, spricht ihre Abwesenheit im Aktionsplan Bände.
Die Debatte geht also weiter, denn: Es gibt mindestens zwei Mythen, mit denen schleunigst aufgeräumt werden sollte – und drei gute Gründe, die Kommission mit Nachdruck an ihr Versprechen zu erinnern.
Mythos 1: „Die Arbeitslosenrückversicherung führt zu ‚Umverteilung unter Armen‘.“
Das heute diskutierte Modell ist explizit das einer Rück-Versicherung, die die Arbeitslosenversicherungen der Mitgliedsstaaten nicht vergemeinschaftet, sondern durch eine europäische Stabilisierungsfazilität ergänzt. Eine solche Rückversicherung wird nicht durch die Beiträge der Beschäftigten zu deren nationalen Arbeitslosenversicherungen finanziert, sondern aus den allgemeinen Haushalten der Mitgliedsstaaten – oder durch gemeinsame europäische Anleihen, die die Europäische Kommission im Namen der Mitgliedsstaaten zu günstigen Konditionen an den Finanzmärkten aufnimmt.
Das führt uns zum zweiten häufig verbreiteten Mythos:
Mythos 2: „Durch eine Arbeitslosenrückversicherung schaffen wir eine Transferunion durch die Hintertür.“
Die Angst vor der „Transferunion durch die Hintertür“ wurde bereits 2018 von einer Mehrheit der deutschen „Wirtschaftsweisen“ geäußert. Die dahinterstehende Annahme ist, dass manche Mitgliedsstaaten zu Nettozahlern und andere zu Nettoprofiteuren würden. Diese Befürchtung lässt sich jedoch empirisch widerlegen: Wie übereinstimmende umfangreiche Studien (der Bertelsmann-Stiftung und des Think-Tanks CEPS) zu den Langzeiteffekten einer transferbasierten Arbeitslosenrückversicherung zeigen, würden sich die erhaltenen Zuschüsse und die geleisteten Beiträge die Waage halten – und zwar für alle Mitgliedsstaaten, wenn man einen Zeitraum von 15 bis 20 Jahren betrachtet.
Darüber hinaus gibt es mindestens drei gute Gründe, die für die Einführung einer Arbeitslosenrückversicherung sprechen:
1. Die Rückversicherung wirkt als automatischer Stabilisator.
Die antizyklische Stabilisierung der Nachfrage nimmt bei schweren Wirtschaftseinbrüchen eine Schlüsselrolle ein. Nationale Arbeitslosenversicherungen leisten hier einen entscheidenden Beitrag, da sie Einkommenssicherheit für arbeitslos gewordene Beschäftigte bedeuten. Dies erlaubt es den Menschen, ihren Lebensstandard aufrechtzuhalten, auch in Krisenzeiten zu konsumieren und so die Konjunktur zu stärken. Passiert dies nicht, kommt die Wirtschaft in eine Abwärtsspirale, in der Arbeitslosigkeit zu einem Rückgang der Nachfrage und damit einer Verschärfung der Krise führt.
Die Währungsunion braucht einen automatischen Stabilisator jedoch nicht nur aus Gründen der Nachfragestabilisierung. Trifft eine einheitliche Geldpolitik auf auseinanderlaufende Konjunkturzyklen, führt dies zu einer Geldpolitik des „One size fits none“: Die Zinsen sind dann für die einen Mitgliedsstaaten zu hoch und für die anderen zu niedrig, was im schlimmsten Fall krisenverschärfend wirken kann. Daher braucht es wirksame Mechanismen, die Diskrepanzen in den Konjunkturzyklen frühzeitig erkennen und unmittelbar eingreifen, bevor es zu spät ist. Die Arbeitslosenrückversicherung kann diese Rolle – durch ihre automatisch einsetzende Wirkung – bestens erfüllen.
Hinzu kommen die Webfehler der europäischen Fiskalregeln, die verhindern, dass stark verschuldete Mitgliedsstaaten in Krisenzeiten Kredite aufnehmen können, um ihre Konjunktur zu stabilisieren. In der aktuellen Ausnahmesituation hat sich gezeigt, dass die Fiskalregeln nicht in Stein gemeißelt sein müssen: Die Europäische Kommission hat es den Mitgliedsstaaten durch Aktivieren der Ausweichklausel erlaubt, sich in historischem Ausmaß zu verschulden. Möglich wurde dies jedoch nur, weil die Corona-Krise alle Mitgliedsstaaten hart getroffen hat. Bei Konjunkturabschwüngen, die nur einzelne Länder betreffen, sind die EU-Fiskalregeln hingegen wenig flexibel. Genau in solchen Situationen könnte eine Arbeitslosenrückversicherung sinnvoll sein.
2. Die Rückversicherung wirkt als soziale Garantie.
Die Krisenpolitik der EU muss sich zum Ziel setzen, soziale Verwerfungen zu verhindern und diejenigen zu unterstützen, die die Folgen einer schweren Rezession schultern. In der Corona-Krise zeigt sich einmal mehr, wer die Hauptlast der Krise trägt: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz verlieren oder von Kurzarbeitergeld leben müssen, und vor allem junge Menschen, deren Ausbildungsplatz gestrichen wird oder die keinen Anschluss an den Arbeitsmarkt finden.
Neben einer Harmonisierung der Konjunkturzyklen und Stabilisierung der Nachfrage sollte eine Arbeitslosenrückversicherung auch zum Ziel haben, die Qualität der Arbeitslosenversicherungen in den Mitgliedsstaaten zu verbessern. So könnte der Zugang zu Mitteln aus der Rückversicherung an Mindeststandards für die Abdeckungsrate, Ersatzquote und Bezugsdauer von Arbeitslosengeld gekoppelt werden. Die Rückversicherung wäre damit auch ein wichtiger Beitrag zur sozialen Aufwärtskonvergenz in Europa.
3. Das Fenster steht offen!
Mit der Einführung des SURE-Instruments (Support to Mitigate Unemployment Risks in an Emergency), das Kredite zur Finanzierung von Kurzarbeitsmaßnahmen an die Mitgliedsstaaten vergibt, hat die EU ein „window of opportunity“ geöffnet: Der Erfolg von SURE im Bereich der Beschäftigungssicherung hat deutlich gemacht, welches Potenzial in stabilisierenden Instrumenten auf EU-Ebene steckt, und verleiht der Arbeitslosenrückversicherung starken Aufwind. Denn auch die Rückversicherung basiert auf der Idee, sich gemeinsam gegen Arbeitsmarktschocks abzusichern und dabei Geld und Zeit zu sparen.
Klar ist jedoch: Der SURE-Mechanismus – auch wenn er weiter aufgewertet und entfristet würde – kann die Einführung einer Arbeitslosenrückversicherung nicht ersetzen. Während SURE nur bestehende Arbeitsplätze schützt, bietet es keine Absicherung im Falle rapide steigender Arbeitslosigkeit. Darüber hinaus ist die Stabilisierungswirkung von SURE dadurch beschränkt, dass sie ex post eintritt – also erst dann greift, wenn die Krise bereits da ist.
Ein „doppeltes Sicherheitsnetz“ für Europas Beschäftigte
Vielmehr könnten SURE und die Arbeitslosenrückversicherung gemeinsam ein „doppeltes Sicherheitsnetz“ schaffen, das nicht nur Beschäftigung schützt und fördert, sondern auch bei stark steigender Arbeitslosigkeit Sicherheit bietet. Dies setzt voraus, dass auch SURE zu einem dauerhaften Instrument wird und neben Kurzarbeitergeldern auch vorausschauende aktive Arbeitsmarktpolitiken finanziert. Die Arbeitslosenrückversicherung trägt darüber hinaus durch ihre nachfragestabilisierende Wirkung zur Koordinierung der Konjunkturzyklen bei, da sie Nachfrageeinbrüche infolge von Arbeitslosigkeit abfedert.
Sowohl SURE als auch die Arbeitslosenrückversicherung müssen die Vergabe von Mitteln an die Bedingung knüpfen, dass die teilnehmenden Mitgliedsstaaten die Abdeckungsraten, Anspruchszeiträume und Leistungen ihrer Systeme zur Beschäftigungssicherung und -förderung bzw. ihrer Arbeitslosenversicherungen ausbauen. Nur so kann garantiert werden, dass die europäischen Gelder zur Unterstützung der nationalen Systeme auch die gewünschte stabilisierende Wirkung zeitigen. Für die Gewerkschaften ist außerdem klar, dass die Finanzierung dabei über die nationalen Haushalte und nicht über zusätzliche Beiträge zu nationalen Arbeitslosenversicherungen erfolgen muss, was die bestehenden Systeme sozialer Sicherheit nur unnötig belasten und zu adversen Effekten führen würde. Die Kosten einer Krise dürfen nicht auf die Versicherten abgewälzt werden.