Die Europäische Kommission argumentiert die Durchsetzung von Markt- und Wettbewerbsregeln auch in den Bereichen der öffentlichen Dienstleistungen bzw der Daseinsvorsorge immer mit der zu erreichenden höheren Effizienz und einem besseren Kundennutzen. Im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs auf der Schiene droht sie dabei jedoch dieses hehre Ziel aus den Augen zu verlieren und will Wettbewerb gegen die Interessen der Fahrgäste und das öffentliche Interesse durchsetzen. Deshalb geht es bei den ÖBB spannend wie in einem Wirtschaftskrimi zu: Kurz vor Weihnachten wurden die Konzernzentrale sowie die Verkehrsverbünde Wien-Niederösterreich (VOR), Oberösterreich und Salzburg von einer Hausdurchsuchung überrascht. MitarbeiterInnen der EU-Kommission forderten Zugang zu allen internen Unterlagen. Verdacht: Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung! Kartellabsprachen! Unerlaubte staatliche Beihilfen!
Als Hintergrund der Razzia werden suspekte Finanzflüsse zwischen öffentlicher Hand, ÖBB und den Verkehrsverbünden genannt. Aber auch illegale Beihilfen und Intransparenz bei der Preisgestaltung stehen am Pranger. Die Hausdurchsuchung soll Licht ins Dunkel des fast ausschließlich staatlich finanzierten Nah- und Regionalverkehrs bringen.
Was ist da los? Geheime Machenschaften, dunkle Finanzströme, Geldwäsche, Korruption? Aber nein: Es geht um die einfache Frage, ob das Angebot eines qualitativ hochwertigen öffentlichen Nahverkehrs durch den Staat für seine BürgerInnen im Rahmen des EU-Wettbewerbskorsetts möglich ist. Oder ob das Konzept, das dazu geführt hat, dass Österreich nach der Schweiz den bestausgebauten öffentlichen Nahverkehr bietet und die zufriedensten Bahnpassagiere hat unzulässigen Verdrängungswettbewerb darstellt.
Grundsätzlich steht in Österreich der Zugang zu den in Frage stehenden Verkehrsverbünden jedem Unternehmen offen. Bis auf das Unternehmen WESTbahn, das die Teilnahmebedingungen (Koordinierung der Fahrpläne, Taktung, Tarif) nicht akzeptieren wollte, sind beispielsweise im Verkehrsverbund VOR mehr als 40 Verkehrsunternehmen auf über 900 Bus- und Bahnlinien in der Ostregion beteiligt, u.a. Schienenverkehrsunternehmen, wie ÖBB, Raaberbahn, NÖVOG, Wiener Lokalbahnen und die Wiener Linien sowie über 30 Busunternehmen.
Bleibt also die WESTbahn als einziger Mitbewerber, der nicht an dem System teilnimmt – weil er ja eigentlich Fernverkehr anbieten wollte, der nicht öffentlich bestellt ist – und die Abwägungsfrage auslöst, ob diesem Unternehmen das Angebot seiner Dienstleistung durch die marktbeherrschende ÖBB unmöglich gemacht wird. Für die Bewertung sind vor allem drei Punkte von Bedeutung:
1. Ist der Zugang zu den Bahntrassen diskriminierungsfrei?
Die Zeitfenster werden an die Verfügbarkeit der Trasse angepasst. Dafür ist es u.a. erforderlich, dass die Züge auf bestimmten Streckenabschnitten nicht immer mit Höchstgeschwindigkeit geführt werden, sondern eine gewisse Taktung einhalten. Ein „Ausscheren“ wäre daher volkswirtschaftlich ineffizient und sicherheitsgefährdend. Es liegt daher im allgemeinen öffentlichen Interesse, dass die Einhaltung der Taktung durch sämtliche Mitbewerber gewährleistet wird. Die Nichtzulassung eines „Ausscherens“ der WESTbahn erscheint daher unter diesen Gesichtspunkt nicht als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung der ÖBB.
Oder anders gesagt: Wird es der WESTbahn ermöglicht, die Trassen der ÖBB mitzubenützen? Denn: Der Zugang zur Trasse bestimmt den Zugang zum Bahnsystem und ist Voraussetzung für jeden Bahnverkehr. Da die Dienstleistung an Schienennetze gebunden ist, ergibt sich – will man nicht für einen volkswirtschaftlich unsinnigen Parallelausbau der Netze plädieren – die Notwendigkeit einer Abstimmung der Zugfahrten im Gesamtnetz. Diese Abstimmung erfolgt anhand der Bestellungen der Gebietskörperschaften auf Basis der Wünsche der Fahrgäste im Personenverkehr sowie der Anforderungen des Gesamtnetzes (Durchlässigkeit, Verknüpfung und Abwicklung von Zugfahrten. Ein integriertes Taktverkehrssystem ermöglicht optimale Umsteigerelationen für die Fahrgäste und mehr Attraktivität für den Öffentlichen Verkehr.
2. Sind Verkehrsverbünde ein Kartell?
In Österreich hat im Wesentlichen jedes Bundesland einen eigenen Verkehrsverbund, der den öffentlichen Personennah- und Regionalverkehr organisiert. Ein Verkehrsverbund ermöglicht die Benützung aller beteiligten Verkehrsmittel mit einer einzigen Fahrkarte. Dies setzt einen einheitlichen Tarif voraus. Ein Verkehrsverbund hat eine Vielzahl gesetzlicher Aufgaben im öffentlichen Interesse zu erfüllen, unter anderem
- ein einheitliches Tarifsystem für Bahn und Bus (Verbundtarif);
- ein günstiger Tarif;
- freie Verkehrsmittelwahl (z.B. „Mit dem Bus hin, mit der Bahn zurück“);
Bund, Länder und Gemeinden bedienen sich der Verkehrsverbundorganisationsgesellschaft (VVOG), die diese Aufgaben erfüllen. Die VVOGs sind ein Organ der Länder (öffentlich-rechtliche Gebietskörperschaften). Sie legen in ihrem Auftrag und im gesetzlich vorgegebenen Rahmen die einheitlichen Tarife fest, Unternehmen der Privatwirtschaft sind nicht beteiligt. Die einheitlichen Tarife sind staatlich festgelegte Preise zur Erfüllung des Personenbeförderungsauftrages im städtischen Nahverkehr. Ohne diese Tarifeinheit könnten leistbare Preise für alle PassagierInnen nicht sichergestellt werden. Eine Tariffestlegung durch jedes einzelne Transportunternehmen hätte außerdem zur Folge, dass die PassagierInnen auf jeder Strecke, die von einem anderen Transportunternehmen bedient wird, eine weitere Fahrkarte lösen müssten. Dadurch käme es zu einer entsprechenden Kostenkumulierung und damit Preiserhöhung für die Fahrkarte.
3. Verdrängungswettbewerb des Marktbeherrschers gegen die WESTbahn
Wettbewerbspolitische Kernfrage bei der Beurteilung des österreichischen Nahverkehrssystems ist, ob Wettbewerb in diesem Markt eine Qualitätsverbesserung oder Verschlechterung bringt. Österreich hat sich dafür entschieden, dass es den öffentlichen Nahverkehr als Daseinsvorsorgeaufgabe definiert und der Staat diese Aufgabe wahrnimmt.
Bringt Wettbewerb besseren öffentlichen Nahverkehr?
- Nun ist es zwar unstreitig, dass ein Unternehmen in beherrschender Stellung, wie die ÖBB, spezielle Pflichten trifft. Dies nimmt ihm aber nicht das Recht, seine eigenen geschäftlichen Interessen zu wahren, wenn diese bedroht sind. Ihm muss in angemessenem Umfang die Möglichkeit eingeräumt werden, mit entsprechenden Wettbewerbspreisen seinen Mitbewerbern Paroli zu bieten, solange das Verhalten nicht gerade auf die Verstärkung dieser beherrschenden Stellung und deren Missbrauch abzielt. Schließlich entspricht das Angebot von verschiedenen Preiskategorien je nach gebotener Serviceleistung der gängigen Praxis der Reisedienstleistungsanbieter, sowohl im Bereich des Zug- als auch des Flugverkehrs.
- Es erscheint daher schwierig, daraus eine gegen die WESTbahn gerichtete Verdrängungsabsicht abzuleiten. Im Gegensatz zu den Dauertiefstpreisen der WESTbahn für alle Regelfahrkarten ist das Sparschiene-Angebot auch kontingentiert und unterliegt sehr restriktiven – weniger serviceorientierten und damit für die ÖBB kostengünstigeren – Bedingungen. Aber auch die WESTbahn bietet – zusätzlich zu den Regelpreisen, die durchschnittlich 50% unter denen der ÖBB liegen – besondere Angebote, wie z.B die „WESTspartage Winter“, wobei die Strecke Wien Westbahnhof-Salzburg für € 18,90 angeboten wird.
- Auf dem Prüfstand steht schließlich auch die sogenannte „Sparschiene“ der ÖBB. Grundsätzlich werden Sparschiene-Tickets für Bahnfahrten innerhalb Österreichs ab einer Entfernung von 150 km ab € 9,00 angeboten. Eine solche Fahrkarte kann frühestens 6 Monate und spätestens 3 Tage vor Fahrtantritt gebucht werden, vorausgesetzt das Kontingent wurde vorher nicht bereits ausgeschöpft. Der Umfang des Kontingents richtet sich nach dem prognostizierten Auslastungsgrad der Züge. Sparschiene-Tickets werden für verschiedene Strecken in Österreich angeboten, nicht nur für die Weststrecke Wien-Salzburg. Und sie werden auch grenzüberschreitend europaweit ab € 19,00 angeboten.
Die Bedingungen sind klar umrissen, der Markt, soweit es die EU-Vorschriften verlangen, ist für Wettbewerber zu den gesellschaftspolitisch gewünschten Bedingungen geöffnet. Im Sinne einer effizienten, allen zugänglichen Dienstleistung des Personennahverkehrs zu angemessenen Preisen erscheint sowohl die Einhaltung eines Taktsystems als auch eine gesetzliche Vorgabe zur Preistarifierung notwendig, angemessen und erforderlich, um das öffentliche Interesse an einem funktionierenden Personennahverkehr zu erfüllen. Die dafür geleistete staatliche Ausgleichszahlung ist als angemessenes Entgelt und nicht als Beihilfe zu qualifizieren. Die AK hat sich in diesem Sinne auch gegenüber der EU-Kommission als interessierte Dritte im laufenden Wettbewerbsverfahren geäußert.
Es ist zu hoffen, dass dieses österreichische System, das innerhalb der EU einzigartig ist und von der Bevölkerung in einem Ausmaß beansprucht wird, das seinesgleichen sucht, nicht der „hehren Wettbewerbslehre“ geopfert wird. Ansonsten könnte in Zukunft die Situation entstehen, dass die Strecke Wien-Salzburg von vielen Anbietern parallel bedient wird, während die PassagierInnen auf den Nahverkehrsstrecken mit dem Taxi fahren oder ihre Beförderung selbst organisieren müssen.