Das Feld der Gesundheits- und Krankenpflege wird noch immer als weibliche Berufsbranche gesehen und erfährt innerhalb der österreichischen Gesellschaft eine permanente Abwertung. Das spiegelt sich auch in der Ausgestaltung der „Pflegereform 2022“ wider. Eine Befragung von Mitarbeiter:innen der Gesundheits- und Krankenpflege zeigt, dass die Reform in Sachen Chancengleichheit, Respekt, Gesundheit und Vereinbarkeit deutlich an der Realität vorbeigeht.
Politisches Vorhaben und realer Bedarf
Die Covid-19-Pandemie hat neuen Schwung in die Debatte rund um die Arbeitsbedingungen im Berufsfeld der österreichischen Gesundheits- und Krankenpflege gebracht. Im Zuge des Reformpaketes der „Pflegereform 2022“ spricht die österreichische Bundesregierung aus ÖVP und Grünen vom „größten Pflegepaket seit Jahrzehnten“ und von einer „maßgeblichen Verbesserung der Situation der Pflegekräfte auf allen Ebenen“. Von den Beschäftigten innerhalb der Gesundheits- und Krankenpflege ist die Bewertung von deutlich pessimistischerer Tonart. Um politische Handlungsstrategien einer nachhaltigen Pflegereform zu erarbeiten, bedarf es einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Personen, die von der Reform direkt betroffen sind. In diesem Fall wurde ein qualitativ-interpretativer Forschungszugang gewählt: Dabei wurden vier leitfadengestützte Interviews mit diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger:innen geführt und mittels Feinstrukturanalyse sowie der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet.
Damit ist zum einen eine Auswertung kurzer Interviewpassagen möglich, die darauf abzielt, die Mikrostrukturen der Textelemente zu identifizieren. Ziel ist es, latente Sinnstrukturen der Befragten offenzulegen und gleichzeitig voreilige Schlussfolgerungen zu verhindern. Zum anderen dient die qualitative Inhaltsanalyse der induktiven Kategorienbildung, sodass wesentliche Themen aus dem Material extrahiert werden können.
Die angestrebten Maßnahmen der „Pflegereform 2022“ bewerten alle Befragten als nicht ausreichend oder nachhaltig. Zeitgleich lässt sich bei den Gesundheits- und Krankenpfleger:innen eine tiefsitzende Resignation identifizieren. Sie wurden in den Hochphasen der Pandemie ungewollt zu Held:innen stilisiert, die von Balkonen aus beklatscht wurden, und im selben Atemzug mit geringfügigen Einmalzahlungen abgespeist. Strukturelle Verbesserungen waren kaum zu erwarten. Aus Sicht der Beschäftigten fehlt neben dem politischen Willen auch eine langfristige Strategie, dem Pflegenotstand auf Augenhöhe zu begegnen. Ad-hoc-Strategien führen eher dazu, dass die Befragten in ein Stadium der Resignation verfallen und sämtliche Erwartungen und Hoffnungen an die Politik verlieren. Zwei der Befragten geben an, dass sie in naher Zukunft aus dem Berufsfeld der Krankenpflege ausscheiden werden und die Pflegereform für sie keine Zukunftsperspektive für einen Verbleib in dieser Branche darstellt.
Arbeitszeitverkürzung als dringendes Anliegen
Die Gespräche mit den diplomierten Krankenpfleger:innen zeigen geschlossen den dringenden Wunsch nach einer generellen Arbeitszeitverkürzung. Im bislang vorgestellten Reformpaket wird dieses Anliegen nicht adressiert. Das aktuelle Stundenausmaß einer Vollzeitstelle von 39 Stunden pro Woche ist für alle Befragten mit den vorherrschenden Arbeitsbedingungen absolut nicht vereinbar. Hinzu kommt, dass sich alle Befragten immer häufiger in einer 60-Stunden-Woche wiederfinden, da Krankenstände und Personalmangel kompensiert werden müssen. „[…] in Wahrheit oder in der Realität sind es ja gar nicht 40 Stunden, sondern wir sind ja eher bei 60 Stunden, also ich würde sagen, es ist oft so, dass man da sagen muss, okay, ähm du musst irgendwann mal früher gehen oder später kommen, weil es sich sonst mit den Stunden nicht ausgeht.“
Pause? Theoretisch eine gute Idee
Diese Umstände werden von einer strukturellen Entgrenzung der Pausenzeiten flankiert. Nicht nur, dass eine 30-minütige Mittagspause bei 12-Stunden-Schichten als deutlich zu gering empfunden wird, so kann diese oftmals von den diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger:innen nicht wahrgenommen werden. Zum einen sind teils die infrastrukturellen Möglichkeiten einer Kantine bzw. eines abgeschotteten Pausenraumes nicht gegeben. Zum anderen können die Pfleger:innen aufgrund des eng bemessenen Personalschlüssels nicht freigespielt werden. Ihre Pause können sie maximal in Etappen absolvieren. „Ich kann für mich sagen, dass ich einfach, wenn Dienste stressig waren, spät zum Essen gekommen bin – oder auch nicht, mit 10 Unterbrechungen, weil wir keinen Raum haben, wo wir uns zurückziehen können. Das heißt, die unbezahlte Pause können wir in Wahrheit gar nicht konsumieren. Weil es niemanden interessiert, weil man nicht freigespielt wird, weil man die Station nicht verlassen kann.“
Verpflichtende betriebliche Gesundheitsförderung
Die teils überlangen Arbeitszeiten und die vorherrschenden Arbeitsbedingungen führen zudem zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Krankenpfleger:innen. Das Krankenhaus als Ort der Gesundheitsförderung wird plötzlich als ein gesundheitsbeeinträchtigender Ort wahrgenommen. „Es ist nicht unüblich, dass ich nicht einmal meine Blase entleert habe im Dienst oder vielleicht dann in der Garderobe, wenn ich runtergehe. Und das kann ja eigentlich nicht gesund sein.“ Das Thema Gesundheitsschutz sollte nicht auf dem Rücken der Mitarbeiter:innen abgeladen werden. Unternehmen sollten zur Bereitstellung eines bestimmten zeitlichen Kontingents für Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung während der Arbeitszeit gesetzlich verpflichtet werden.
Immer noch: Abwertung klassischer Frauenberufe
Über die Gespräche hinweg verdeutlicht sich, dass in weiten Teilen der Gesellschaft die Krankenpflege noch nicht als professionalisierte Tätigkeit wahrgenommen wird. Sie wird ähnlich wie andere Formen der Care-Arbeit automatisiert mit dem weiblichen Geschlecht in Verbindung gebracht. „[…] und das ist geschichtlich natürlich ganz klar entstanden, man hat immer diese ganze Care-Arbeit auf die Frauen ein bisschen abgewälzt [lacht] … und man sieht das ja nicht als Arbeit, wenn man sich um Menschen kümmert. Das macht man doch, weil Frauen sind selbstlos und die sind süß und dadurch, dass die süß sind, machen die das auch gerne. Das ist nichts, was man richtig entlohnen muss, das wird nicht so als Arbeit gesehen. Und das haben wir einfach noch immer in diesem Beruf drinnen und das wird auch leider, glaub ich, noch eine ganze Zeit dauern, bis wir das wegkriegen.“ Gleichzeitig werden männliche Kollegen in der Pflege von den Patient:innen meist irrtümlich für Ärzte gehalten, oder aber deren Kompetenzen als Pfleger höher bewertet. Die weiblichen diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger:innen versetzt das in die Situation, weitestgehend auf Anerkennung verzichten zu müssen und trotzdem den Männern (selbst in der eigenen Branche) als nicht ebenbürtig zu gelten.
Fehlanzeige Vereinbarkeit
Die geplante Pflegereform macht deutlich, dass die herrschende Politik keine nachhaltigen Maßnahmen setzt, um frauendominierte Branchen aufzuwerten und deren gesellschaftlichen Wert anzuerkennen. Der Frauenanteil in der Gesundheits- und Krankenpflege liegt immer noch bei ca. 82 Prozent. Gleichzeitig bleibt das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie unangetastet. Die Pflegereform wird in keinerlei Verbindung mit dem Ausbau von staatlichen Kinderbetreuungsstätten gebracht bzw. die zugehörige Infrastruktur ausgebaut. Ein Ausbau würde auch eine zusätzliche Option für Teilzeitkräfte darstellen, deren Stundenausmaß wieder zu erhöhen. Derzeit ist die Kombination von häuslicher Sorgearbeit und Lohnarbeit, deren zeitliche Ausgestaltung sich teils diametral entgegenstehen, nur schwer möglich. Unter diesen Voraussetzungen bleiben frauendominierte Branchen den männlichen Branchen hierarchisch unterlegen, werden abgewertet, und speziell für die Krankenpflege wird die Chance für einen zukunftsfähigen und nachhaltigen Pflegeberuf verpasst.
Dieser Blogbeitrag ist das Ergebnis einer studentischen Forschungsarbeit an der Universität Wien, die im Mai 2023 abgeschlossen wurde.