Der rasante Wandel der Arbeitswelt birgt Risiken, aber auch Chancen für Arbeitnehmer:innen. Um letztere zu nutzen, muss die Beteiligung der Beschäftigten auf allen Ebenen gestärkt werden. Auf Ersuchen der spanischen EU-Ratspräsidentschaft hat sich kürzlich der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) mit der Stellungnahme „Demokratie am Arbeitsplatz“ zur Zukunft der Mitbestimmung in der EU positioniert. Ein starkes Plädoyer zur Weiterentwicklung der Rechte von Arbeitnehmer:innen.
Demokratiepolitik im permanenten Krisenmodus
In Europa sind transformative Herausforderungen zum Dauerzustand geworden. Viele sind verunsichert und machen sich Sorgen um ihren Arbeitsplatz und Perspektiven für künftige Generationen. Sie erwarten von der Politik auf nationaler wie auf EU- und globaler Ebene das Ringen um Antworten und Maßnahmen, um heutige Krisen zu bewältigen.
Das gelingt bei weitem nicht derart, dass dies für soziale und wirtschaftliche Prosperität und Zustimmung zu demokratischen Aushandlungsprozessen sorgt. Diese Gemengelage birgt enorme Sprengkraft für Demokratien in sich. Politische Entwicklungen in immer mehr EU-Ländern mit wachsendem Rechtspopulismus stehen Pate: Nationalistischer Chauvinismus wird politisch zunehmend salonfähig und landet vermehrt in höchsten Regierungsämtern.
Vor diesem Hintergrund hat die EU-Kommission einen Aktionsplan lanciert mit Rechtsvorschlägen zur Sicherung demokratischer Standards am Kontinent (von der Sicherung freier Wahlen und der Medienfreiheit über die Korruptionsbekämpfung bis hin zur Rechtsstaatlichkeitsprüfung bei EU-Förderungen).
Auf EU-Ebene bleibt viel zu tun
Leider klammert das vorgelegte EU-Demokratiepaket wesentliche Lebensbereiche aus, so auch die Arbeitswelt. Das muss umso mehr überraschen, als Erfahrungen deutlich zeigen, dass die Widerstandsfähigkeit liberaler Demokratien mit starken Arbeitnehmer:innenrechten deutlich höher ist.
- Wo Beschäftigte Beteiligungsrechte leben und nicht bloß Objekte von Strategien zur Krisenlösung sind, verfügen sie über soziale Haltepunkte, die größere Sicherheit im Wandel garantieren.
- So sind Beschäftigte in Unternehmen mit starken Mitbestimmungsrechten und erlebter Demokratie am Arbeitsplatz bei politischen Wahlen auch deutlich weniger affin für rechtsnationale, demokratie- und europafeindliche Parteien.
Der Mix von Sozialpartnerschaft, hoher Tarif- bzw. Kollektivvertragsbindung und verbriefter Mitbestimmungsrechte trägt somit wesentlich zu einer widerstandsfähigen Demokratie bei.
Die Schlussfolgerung kann auch auf EU-Ebene nur lauten, nach fast 20 Jahren Stillstand, gerade in Umbruchzeiten wieder Bewegung in die Weiterentwicklung demokratischer Partizipation in den Unternehmen zu bringen.
Demokratie braucht auch ein Mehr an betrieblicher Mitbestimmung
Gut, dass in dieser Intention die spanische EU-Ratspräsidentschaft den EWSA (drittelparitätisch besetzt mit Arbeitgeber:innen-, Arbeitnehmer:innen- und sonstigen repräsentativen Interessenorganisationen) kürzlich mit einer Sondierung zum Thema Demokratie am Arbeitsplatz beauftragt hat. Sie ließ dabei untersuchen, was die Beteiligung der Beschäftigten in den Unternehmen zu einem gerechten sozio-ökologischen Wandel beitragen kann und welchen Bedarf es beim Ausbau des bestehenden EU-Rechtsrahmens gibt.
Der EWSA hat die Stellungnahme dazu (Berichterstatter: Reiner Hoffmann) kürzlich mit großer Mehrheit verabschiedet.
- Nachhaltige Unternehmensführung setzt demnach bewährte Praktiken und robuste rechtliche Strukturen zur Beteiligung der Arbeitnehmer:innen voraus.
- Mehr Demokratie in der Welt der Arbeit muss dabei auch als Leitprinzip für das EU-Wirtschafts- und Gesellschaftsrecht gelten – ein bisheriges Defizit.
Damit wurde auch das Europäische Parlament flankiert, das ebenfalls vehement für ein Mehr an Demokratie in der EU eintritt. Die EU-Abgeordneten haben dabei die Sozialpartner und die EU-Kommission aufgefordert, die Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer:innen zu befördern. In einem ersten wichtigen Schritt soll eine gründliche Revision der bestehenden EU-Richtlinie zu Europäischen Betriebsräten erfolgen.
EWSA fordert: Weiterentwicklung bestehender EU-Standards
Der EWSA hat mehrfach aufgezeigt, dass der aktuelle EU-Rechtsbestand zur Mitbestimmung lückenlos in nationales Recht umgesetzt und auch verbessert werden muss. Das unterstützen auch die Gewerkschaften Europas.
Nur so kann die Beteiligung der Arbeitnehmer:innen und ihrer Vertretungen in Unternehmen das volle Potenzial entfalten. In diesem Sinn hat der EWSA auch gefordert,
- dass der EU-Rechtsrahmen nationale Mitwirkungsrechte absichern muss;
- dass dabei sicherzustellen ist, dass EU-Gesellschaftsrecht nicht zur Umgehung der Mitbestimmung in den Mitgliedstaaten (‚Flucht aus der Unternehmensmitbestimmung‘) führt und
- dass ein harmonisierter EU-Rahmen für die obligatorische Mitbestimmung von Arbeitnehmer:innen in Leitungsorganen im EU-Wirtschaftsrecht zu schaffen ist.
EWSA fordert: Rechte Europäischer Betriebsräte stärken
Europäische Betriebsräte (EBR) leisten seit langem einen positiven Beitrag zu wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Unternehmenszielen. Ihre Mitwirkungsrechte sind substanziell auszubauen durch
- Bereitstellung von Ressourcen v.a. bei grenzübergreifenden Umstrukturierungen;
- Verstärkung von Durchsetzungsrechten und erleichterten Zugang zur Justiz;
- Präzisierung von Definitionen zur Verhinderung von Umgehungen;
- wirksame Sanktionen bei Unternehmen, die gegen rechtliche Bestimmungen verstoßen.
In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA den Initiativbericht des EU-Parlaments zur Überarbeitung der EBR-Richtlinie und fordert die Kommission auf, zeitnah entsprechende rechtliche Maßnahmen zu ergreifen.
EWSA fordert: Mitbestimmung auch in der Plattformwirtschaft
Demokratie am Arbeitsplatz wird durch technologische Innovationen, so auch neue Geschäftsmodelle in der Plattformwirtschaft herausgefordert. Häufig ist prekäre Beschäftigung Merkmal der Veränderungen.
- Ein Zugang zu kollektiver Interessenvertretung besteht meist nicht. Deshalb ist der aktuelle EU-Richtlinienentwurf zur Plattformarbeit positiv zu sehen.
- Arbeitgeber müssten darauf verpflichtet werden, Plattformarbeiter:innen als Beschäftigte rechtlich zu erfassen und damit Scheinselbständigkeit einzudämmen.
- Beschäftigte könnten so leichter arbeitsrechtlichen Schutz sowie wirksame Vertretungsrechte beanspruchen.
EWSA fordert: Mitbestimmung beim KI-Einsatz sicherstellen
Auch der fortschreitende Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) fordert demokratische Standards in der Arbeitswelt enorm heraus. Big Data und algorithmisches Datenmanagement haben große Auswirkungen auf Arbeitsorganisation, Arbeitsbedingungen sowie Datensicherheit und Datenschutz.
- Damit Beschäftigte Vorteile aus neuen Technologien ziehen können, muss die Mitbestimmung der Beschäftigten bei Überwachung, Rückverfolgung und Kontrolle eingesetzter Algorithmen gewährleistet sein.
- Die Sozialpartner sind daher auch auf betrieblicher Ebene in alle Phasen der Einführung und Nutzung von KI einzubeziehen.
- Mitbestimmungs- und damit verbundene Datenschutzrechte betrieblicher Vertretungen dürfen nicht unterlaufen werden. Vielmehr sind deren Vertretungs- und Verhandlungsmacht zu gewährleisten und zu stärken.
EWSA fordert: Workers´ Voice entlang der Lieferkette von Unternehmen
Gute Arbeit weltweit zu schaffen, muss anerkanntes Ziel von Unternehmensführungen sein. Die Einhaltung von Arbeits- und Menschenrechten sowie ökologischer Ziele entlang der Lieferkette sind wichtige Elemente nachhaltiger Unternehmensführung.
- Arbeitgeber:innen müssen nachweisen, dass sie die Sorgfaltspflicht als obligatorischen Bestandteil des Risikomanagements auf Vorstandsebene sehen.
- Die effektive Arbeitnehmer:innenbeteiligung muss entlang der gesamten Lieferkette fixer Bestandteil bei der unternehmerischen Sorgfaltspflicht werden.
Fazit
Wer demokratische Gesellschaften resilienter gegenüber illiberalen und autoritären Tendenzen machen will, ist gut beraten, auf demokratische Beteiligung zu setzen. Das darf vor Betriebstoren und Konzernen nicht halt machen. Der EWSA hat konkrete Vorschläge vorgelegt, den EU-Rechtsbestand zur Beteiligung von Arbeitnehmer:innen auszubauen.
Mehr Dynamik in der europäischen Debatte würde ein Europa der Arbeitnehmer:innen voranbringen. Mit einer aktiven EU-Kommission könnte die Blockadehaltung der Arbeitgeber:innen beim Thema Demokratie am Arbeitsplatz endlich durchbrochen werden, in einem ersten Schritt in den anstehenden Sozialdialogverhandlungen zur EBR-Revision.