Nach mehr als zwei Jahren konnten die Verhandlungen über einen EU-Rechtsrahmen zu den Arbeitsbedingungen von Online-Plattformarbeiter:innen am 24. April 2024 endlich abgeschlossen werden. Die neue EU-Richtlinie ist ein erster Schritt in Richtung mehr Rechtssicherheit für Beschäftigte, die über Online-Plattformen berufstätig sind. Allein in Österreich arbeiten rund 360.000 Personen über Plattformen, EU-weit sind es 43 Millionen Personen. Trotz der Einigung bleibt jedoch noch viel zu tun.
Konträre Positionen von Rat und Europäischem Parlament
Im Zentrum des Rechtsvorschlags der Europäischen Kommission stand die gesetzliche Vermutung eines Arbeitsverhältnisses. Ein derartiges Arbeitsverhältnis liegt dann vor, wenn bestimmte Kriterien, wie die Aufforderung bestimmte Regeln in Bezug auf das äußere Erscheinungsbild einzuhalten (beispielsweise Kleidung, Taschen, Fortbewegungsmittel mit Logo der Plattform), Einschränkung der Freiheit, die Arbeit selbst zu organisieren (z. B. durch vorgegebene Arbeitszeiten), oder wenn die Höhe der Vergütung bzw. eine Obergrenze für die Bezahlung festgelegt ist. In Summe hat die Kommission fünf Kriterien vorgeschlagen. Ergänzt wurde der Vorschlag durch den wichtigen Aspekt des sogenannten algorithmischen Managements. Mit dieser Regelung ist es unter anderem möglich, Einsicht über die Bewertungen hinsichtlich der eigenen Arbeitsleistungen zu erhalten. Für die Betroffenen und ihre Vertreter:innen ist es dadurch möglich, die Korrektur von Fehlern oder falschen Bewertungen einzufordern. Das Besondere bei den Regeln zum algorithmischen Management ist, dass sie auch für Selbstständige zur Anwendung kommen.
Das Europäische Parlament hat in seinen Beratungen zum Richtlinienvorschlag unter anderem beschlossen, dass die Vermutung eines Arbeitsverhältnisses nicht von bestimmten Kriterien abhängig sein sollte. Zudem hoben die EU-Abgeordneten die Einbindung von Arbeitnehmer:innenvertretungen und Sozialpartnern wie beispielsweise beim algorithmischen Management eigens hervor. Kündigungen nur aufgrund elektronischer Ergebnisse sollen demnach nicht möglich sein. Für diese Entscheidung spielt der menschliche Faktor nach wie vor die bestimmende Rolle. Mit ihrer Position erfüllten die Vertreter:innen des Europäischen Parlaments den allergrößten Teil der Forderungen der Gewerkschaftsseite.
In eine ganz andere Richtung ging der Fachministerrat, vertreten durch die Arbeitsminister aus den einzelnen EU-Mitgliedsländern. Die von der Kommission definierten Kriterien wurden von den Minister:innen sogar noch ausgebaut, die Anwendung von sozial- und steuerrechtlichen Angelegenheiten ausgeschlossen.
Beinahe scheiterte eine Einigung über die Richtlinie im Rat noch an den beiden größten EU-Ländern Frankreich (dagegen) und Deutschland (Enthaltung), alle anderen EU-Länder stimmten jedoch dafür. Obwohl der Text von den Arbeitsminister:innen im Rat deutlich verwässert wurde, stimmte das Europäische Parlament dem Kompromiss zu. Das Europäische Parlament konnte sich mit der Forderung durchsetzen, dass es den Plattformen obliegt zu beweisen, dass es sich bei den konkreten Arbeitsverhältnissen um keine unselbstständige Beschäftigung handelt, denn ansonsten ist die Arbeitskraft als unselbstständig Beschäftigter zu behandeln.
Der Ball liegt nun bei den EU-Mitgliedstaaten. Sie müssen binnen zwei Jahren die EU-Richtlinie in nationales Recht umsetzen.
Was bedeutet Plattformarbeit in der Praxis?
Grundsätzlich kann Plattformarbeit in ortsungebundene und ortsgebundene Arbeit unterschieden werden. Beispiele für ortsungebundene Tätigkeiten sind die Erstellung von Grafiken, Nachhilfeunterricht oder das Verfassen von Texten, also Arbeiten, die von überall auf der Welt erledigt werden können. Die einzige Voraussetzung dafür ist ein Laptop und Internetzugang. Bei der ortsgebundenen Plattformarbeit ist die Tätigkeit vor Ort nötig, wie bei Hausbetreuung, Taxidiensten oder als sehr sichtbarem, den meisten Menschen bekanntem Beispiel: der Essenszustellung. Alles, was in diesem Fall benötigt wird, ist ein Handy mit Internetzugang und eine entsprechende App. Plattformunternehmen versprechen ihren Arbeitskräften unkomplizierten Zugang zu Aufträgen, flexible Arbeitszeiten und scheinbar leicht verdientes Geld. Was so verlockend, flexibel und unkompliziert klingt, ist es in der Realität nicht.
Am Beispiel der Essenszustellung lässt sich die gängige Praxis vieler Plattformunternehmen darstellen, sich selbst nur als Vermittler, Technologieunternehmen, Start-up oder Dienstleister zu sehen. Verantwortung als Arbeitgeber wollen sie jedoch häufig nicht übernehmen. So wird der überwiegende Teil der Beschäftigten bei den verschiedenen Plattformen europaweit als selbstständige Einzelunternehmer:innen geführt. Nach Dutzenden Gerichtsverfahren hat sich dies nun als gezielter Trugschluss erwiesen und indirekt zur oben erwähnten Rechtsinitiative geführt.
Plattformarbeit in Österreich
In Österreich geht der größte Anbieter in der Essenszustellung denselben Weg, allerdings über freie Dienstverhältnisse – ein österreichisches Unikum. Das hat weitreichende Auswirkungen auf mehreren Ebenen. So ist eine betriebliche Vertretung der Beschäftigten über einen Betriebsrat entweder gar nicht möglich, da diese nicht berechtigt sind, einen Betriebsrat zu gründen, und falls es wie in unserem Beispiel zwar einen gibt (ein verschwindend kleiner Teil der Beschäftigten ist angestellt), ist dieser rechtlich nicht für die freien Dienstnehmer:innen zuständig. Auch die Größe der Körperschaft wird nicht entsprechend der Anzahl der Arbeitnehmer:innen dargestellt, da freie Dienstnehmer:innen nicht mit einbezogen werden. In Zahlen bedeutet das, dass 95 Prozent der Belegschaft keinerlei Vertretung für ihre Anliegen finden.
Durch diese Risikoauslagerung auf die Einzelperson (Bezahlung per Bestellung, keine Mindestlöhne, keine bezahlten Urlaube oder Krankenstände) kann das Unternehmen seine Dienstleistung weitaus günstiger anbieten als die Konkurrenz, die sich um sichere Arbeitsplätze mit Anstellungsverhältnissen bemüht. Das hat wiederum massive Auswirkungen auf Kollektivverträge und gesetzliche Regelungen bezüglich Zuschlägen, Arbeitszeiten, Ruhezeiten etc. – da diese einfach umgangen werden. Wo Zuschläge anfallen, wie beispielsweise sonntags oder an Feiertagen, werden freie Dienstnehmer:innen eingesetzt und den Angestellten wird untersagt, zu diesen Zeiten zu arbeiten. Werden Erhöhungen oder jegliche weitere Verbesserung im Kollektivvertrag festgeschrieben, kommen diese einer sehr großen Gruppe von Arbeitnehmer:innen nicht zugute.
Freiheiten, die keine sind
Für den bzw. die einzelne:n Arbeitnehmer:in kann diese „Freiheit“ mitunter zu dramatischen finanziellen Einbußen führen. So wie es beispielsweise keine Beschränkung hinsichtlich der maximalen Arbeitszeit gibt, gibt es umgekehrt keine Garantie, für die eingesetzte Arbeitszeit auch entsprechend entlohnt zu werden (falls es keine Aufträge gibt). Viele Menschen geraten in eine finanzielle Notlage, da sie die ersten ein bis zwei Monate zwar uneingeschränkt zu Schichten und somit zu Aufträgen kommen, danach aber interne Bewertungssysteme den Zugang massiv einschränken können. Es ist dann auch nicht möglich, auf staatliche Unterstützung zurückzugreifen, wenn die bzw. der Plattformarbeiter:in unter die Geringfügigkeitsgrenze fällt. Der Bezug von Arbeitslosengeld ist in diesen Fällen ebenfalls nicht möglich. Wenn man dann kündigt, da sich die Realität doch nicht so darstellt, wie nach außen propagiert wird, fällt man um einen weiteren Monat Unterstützung um, wenn es der bzw. die Arbeitnehmer:in nicht schafft, nahtlos in ein neues Dienstverhältnis umzusteigen. Auch Faktoren wie Wetterprognosen oder die Anzahl an neuen Beschäftigten beeinflussen die Anzahl der verfügbaren Schichten. Das heißt, es ist durchaus möglich, dass Arbeitskräfte zwar grundsätzlich eine Beschäftigung haben, aber dann aufgrund des Wetters oder der großen Anzahl von Mit-Kolleg:innen doch keine Arbeit und kein Einkommen.
Somit ist es mit der versprochenen Flexibilität nicht weit her, da diese tatsächlich nur für den Arbeitgeber bzw. die Arbeitgeberin gegeben ist. Es ist in diesem Fall schlichtweg egal, ob es überhaupt Aufträge gibt, Personen krank werden oder sich in der Ausübung ihrer Tätigkeit verletzen. Das finanzielle Risiko tragen die Arbeitnehmer:innen, die gesundheitlichen Risiken die Allgemeinheit, da auch keine Krankenstände etc. abgegolten werden, genauso wie jegliche gesetzliche Regelung für den Arbeitnehmer:innenschutz.
Österreichischer Arbeitsminister nun beim Kampf gegen Scheinselbstständigkeit gefordert
Die Plattformarbeits-Richtlinie hat es sich zum Ziel gesetzt, Scheinselbstständigkeit in der Plattformarbeit zu bekämpfen. Die zentrale Bestimmung, Artikel 5, sieht die gesetzliche Vermutung vor, dass in jedem Vertragsverhältnis zwischen Plattform und Beschäftigtem ein Arbeitsverhältnis vorliegt. Will die Plattform die gesetzliche Vermutung widerlegen, muss sie beweisen, dass kein Arbeitsverhältnis vorliegt. Damit hat die EU eine Beweislastumkehr zugunsten der Beschäftigten in der Plattformarbeit geschaffen.
Eine der wesentlichen Aufgaben bei der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht ist es nun, die Kriterien festzulegen, in welchen Fällen die Vermutung erfüllt ist, dass es sich um ein unselbstständiges Beschäftigungsverhältnis handelt. Hier wird insbesondere das österreichische Arbeitsministerium gefordert sein.
Das österreichische Spezifikum des „freien Dienstnehmers“ stellt eine besondere Herausforderung dar: Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen, in welchem Arbeitsverhältnis Plattformarbeit in Österreich geleistet wird. Aus verschiedenen Berichten von Betroffenen wissen die Arbeitnehmer:innenvertretungen allerdings, dass die wenigsten in einem (echten) Dienstverhältnis arbeiten. Einige Plattformen bieten inzwischen freie Dienstverhältnisse an, andere nur Werkverträge. Es ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Beschäftigten als Scheinselbstständige ausgebeutet werden. Das heißt: Obwohl Dienstverhältnisse vorliegen, müssen sie ohne arbeits- und sozialrechtliche Absicherung als Selbstständige arbeiten. Bei den Beschäftigten handelt es sich sehr häufig um migrantische Arbeitskräfte. Aufgrund ihrer unsicheren aufenthaltsrechtlichen Situation sind sie eher bereit, prekäre Arbeitsbedingungen in Kauf zu nehmen. Diese Situation nutzen Plattformbetreiber:innen nur allzu gern aus.
Es obliegt nun dem österreichischen Arbeitsminister, dieser Praxis einen Riegel vorzuschieben. Um Scheinselbstständigkeit wirksam bekämpfen zu können, braucht es aber echte Dienstverhältnisse! Eine sehr zweideutige Anmerkung gab Arbeitsminister Kocher dazu erst im März: Er setzt auf die Form des freien Dienstnehmers und möchte andererseits die Scheinselbstständigkeit verhindern. Aus Arbeitnehmer:innensicht ein Widerspruch in sich selbst. Es ist zu hoffen, dass die österreichischen Sozialpartner bei der Umsetzung der Richtlinie stark einbezogen werden, um auch rechtlich eine handfeste Grundlage dafür zu haben, gegen Scheinselbstständigkeit vorgehen zu können.
Gute Arbeit des Europäischen Parlaments, jedoch gebremst von den Arbeitsminister:innen im Rat
Die lang erwartete Richtlinie wird zweifelsfrei zu (rechtlichen) Verbesserungen für die Beschäftigten in der Plattformarbeit führen. Eine positive Rolle spielte das Europäische Parlament mit progressiven Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Plattformbeschäftigten. Die Kompromisse, die letztlich aber notwendig waren, um auch eine Zustimmung im Rat zu erhalten, haben den Rechtstext jedoch erheblich verwässert und die wichtige Entscheidung über die Art des Dienstverhältnisses auf die nationale Ebene verlagert. Nun kommt es ganz auf den österreichischen Arbeitsminister an, die prekären Arbeitsverhältnisse und die herrschende Scheinselbstständigkeit von vielen Plattformarbeiter:innen mit zielgerichteten österreichischen Gesetzen zu beenden.