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Ein „Gewinn“ für die migrierenden Pflegekräfte?
Unsere Interviews haben gezeigt, dass die Programmteilnehmer:innen grundsätzlich zufrieden mit ihrer Teilnahme am Triple-Win-Programm sind, insbesondere im Vergleich mit der Alternative der Migration über die viel unsichereren privaten Anwerbungsprogramme. Die ursprüngliche Entscheidung für die Migration hatte vielfältige Gründe – die Teilnehmer:innen wünschten sich aber allem voran finanzielle Stabilität sowie ein Leben in größerer Sicherheit. Die Wahl auf das Triple-Win-Programm fiel dann unter anderem aufgrund des unkomplizierten bürokratischen Vorgehens sowie der weitgehenden Kostenübernahme (z. B. von den sprachlichen Vorbereitungskursen und der Anreise). Darüber hinaus erzählten die Teilnehmer:innen von guten Erfahrungen mit ihren deutschen Arbeitgebern, die auf ihre Ankunft vorbereitet waren und sie im Ankunfts- und Einarbeitungsprozess meist gut unterstützten. Auch die langfristige Bleibeperspektive durch die Möglichkeit, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, ist positiv hervorzuheben.
Die Erfahrungen sind aber nicht durchwegs so positiv, wie sie durch das „Triple-Win“-Narrativ dargestellt werden. Ein Problem sind Unterschiede in der Gesundheits- und Krankenpflege zwischen Deutschland und vielen Herkunftsländern. Während Pflege in den meisten Herkunftsländern akademisiert und medizinisch-technisch orientiert ist, ist der Fokus der Pflege in Deutschland (und auch in Österreich) weniger auf medizinischen Interventionen, sondern mehr auf der Unterstützung von Menschen mit Pflegebedürftigkeit bei deren selbstbestimmter Selbstpflege. Darunter fällt zum Beispiel die Unterstützung bei der Körperpflege, die in den Herkunftsländern im Normalfall durch Angehörige übernommen wird. Die Pflegekräfte sind über diese Unterschiede im Vorfeld ihrer Migration oft nicht aufgeklärt. Im deutschen Pflegesystem angekommen fühlen sie sich dann überqualifiziert und erleben „Deskilling“, weil viele der in den Herkunftsländern erlernten Fähigkeiten in Deutschland als Pflegekraft gar nicht angewandt werden dürfen. Gleichzeitig empfinden manche das in Deutschland notwendige Anerkennungsverfahren als eine mangelnde Wertschätzung ihrer mitgebrachten fachlichen Kompetenz.
„Es ist ziemlich traurig für uns Pflegekräfte, die ohnehin sogar überqualifiziert sind, wir haben vier Jahre lang Pflegewissenschaften studiert. Und dann kommen wir nach Europa und es wird nicht wirklich anerkannt. [...] Wir finden es wirklich unfair, dass wir das [Anerkennungsverfahren] machen müssen, nur weil wir aus einem Dritte-Welt-Land kommen.“ (Teilnehmer:in des Triple-Win-Programms)
Um Ernüchterung vorzubeugen, ist es daher essenziell, im Vorhinein gut über die Unterschiede in der Gesundheits- und Krankenpflege zwischen den Ländern aufzuklären. Gleichzeitig muss auch die Wertschätzung der mitgebrachten Fähigkeiten im Zentrum stehen und gegenseitiges Voneinander-Lernen gefördert werden.
Eine weitere riesige Herausforderung stellt das Erlernen der deutschen Sprache dar. Trotz der sprachlichen Vorbereitungskurse tun sich die Programmteilnehmer:innen mit der Arbeit auf Deutsch sehr schwer und erleben insbesondere aufgrund dieser Sprachschwierigkeiten auch Diskriminierung und Geringschätzung ihrer fachlichen Fähigkeiten durch Patient:innen und Kolleg:innen. Unsere Interviewpartner:innen erzählten uns von anderen Programmteilnehmer:innen, die Deutschland aufgrund von Sprachschwierigkeiten und Rassismuserfahrungen bereits wieder verlassen haben. Die migrationsfeindliche Stimmung ist für manche Interessierte außerdem ein Grund, sich bereits im Vorhinein gegen eine Migration nach Deutschland zu entscheiden. Eine verstärkte Unterstützung im Bereich der Sprache sowie die Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung (nicht nur) am Arbeitsplatz sind daher im Kontext von internationalen Rekrutierungsbemühungen unabdingbar.
Zudem bewahrheitet sich auch der Anspruch des Triple-Win-Programms nach Transparenz, Professionalität und kostenfreier Teilnahme oft nicht. Bereits in den wenigen Interviews zeigte sich, dass es öfters zu einseitigen kurzfristigen Änderungen des Migrationsprozesses kommt (z. B. Verschiebung des Migrationsdatums bzw. Änderung des Arbeitsorts), was für die Teilnehmer:innen finanzielle Schwierigkeiten sowie mental herausfordernde Situationen bedeutet. Außerdem müssen sich die Teilnehmer:innen in der Vorbereitungsphase oft verschulden, weil zwar der Sprachkurs selbst kostenfrei ist, aber die Lebenserhaltungskosten in dieser Zeit nicht übernommen werden. Bei einer „fairen“ und „ethischen“ Rekrutierung sollte das nicht vorkommen.
The bigger picture – Pflegemigration als Lösung für den Pflegenotstand?
Pflegeabkommen fair und ethisch zu gestalten ist wichtig. Ein Blick auf das deutsche Triple-Win-Programm zeigt jedoch auch, dass ihrem Beitrag zur Lösung der Pflegekrise Grenzen gesetzt sind. Zudem besteht das Risiko, das Problem nur zu verlagern, weil sowohl auf professioneller als auch auf privater Ebene Pflegelücken in den Herkunftsländern entstehen können. Obwohl das Triple-Win-Programm angibt, ausschließlich aus Ländern mit einem Überangebot an Pflegekräften zu rekrutieren, erzählten uns Interviewpartner:innen, vor der Teilnahme in einem festen Arbeitsverhältnis gewesen zu sein sowie ehemalige Arbeitskolleg:innen für das Programm angeworben zu haben. Außerdem mussten Teilnehmer:innen Kinder bzw. pflegebedürftige Verwandte im Heimatland zurücklassen, was deren Familien vor Herausforderungen stellt, da das Pflegeregime in den Herkunftsländern auf familiärer Pflege basiert.
Weitergehend bleibt unklar, wie langfristig Teilnehmer:innen der Programme in den jeweiligen Ländern bleiben bzw. dort im Pflegesektor arbeiten möchten. Somit stellt sich die Frage, wie dauerhaft Pflegelücken durch sie gefüllt werden können. Hier zeigt sich, dass Pflegemigrationsprogramme die strukturellen Probleme im Pflegesektor nicht auflösen können – einer unserer Interviewpartner bezeichnet die Rekrutierung ausländischer Fachkräfte in diesem Kontext als „band-aid solution“ (= „Pflasterlösung“). Die wichtigste Maßnahme bleibt weiterhin, den Pflegeberuf attraktiver zu machen: Dafür braucht es eine höhere Wertschätzung der Arbeit von Pflegenden, die sich auch in besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen niederschlagen muss. Das motiviert zum einen Menschen vor Ort, hier in den Pflegeberuf einzutreten bzw. darin zu verbleiben, und erhöht zusätzlich die Chance, über Rekrutierungsbemühungen nach Österreich kommende Menschen langfristig zu halten.
Politiker:innen und Sozialpartner sind gefordert, sich für nachhaltige Lösungen einzusetzen
In Österreich, wo die Rekrutierung ausländischer Pflegekräfte aktuell noch in den Kinderschuhen steckt, gilt es, aus den Erfahrungen und Fehlern unseres Nachbarlandes zu lernen. Vom Triple-Win-Programm können dabei viele positive Impulse mitgenommen werden. Trotzdem zeigen die blinden Flecken des Programms auch, wie wichtig es ist, die Erfahrungen der migrierenden Personen in den Prozess einfließen zu lassen. Nur so kann ein Pflegemigrationsprogramm einen Beitrag zur Lösung der Pflegekrise in Österreich leisten, ohne weitere Ausbeutungsstrukturen zu kreieren. Dabei sollte auch das Ziel besserer Bedingungen im Pflegesektor nicht aus den Augen verloren werden. Denn Migration allein kann die Pflegekrise nicht lösen und bleibt ein kleines Pflaster auf einer großen Wunde. Aber wenn schon ein Pflaster, dann zumindest eines, das unter ethischen Bedingungen hergestellt wurde!
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