Berufswanderkarten: Leit­systeme für die Arbeits­welt von morgen

09. Dezember 2024

Berufliche Veränderung hat viele Gründe: Körperliche und psychische Belastungen oder auch ein Strukturwandel mit verändertem Bedarf an Kompetenzen. Berufswanderkarten zeigen Wege auf, wohin die Reise gehen kann und welche Qualifikationen und Fachkräfte es braucht.

Der Wunsch nach Veränderung hat viele Gründe

Welche Motive und welcher Druck stecken hinter dem Wunsch nach beruflicher Veränderung? Oft sind es gesundheitliche Gründe, wie etwa die Knie von Installateur:innen, die nicht mehr mitmachen. Oder die Lendenwirbel des Pflegepersonals, mitgenommen durch das Stützen, Tragen, Fortbewegen von immobilen Patient:innen. Die körperlichen Grenzen sind durch jahrelange Schwerarbeit überschritten.

Ebenso gibt es Entwicklungen, wodurch bestimmte Kompetenzen und Qualifikationen schlicht nicht mehr oder weniger nachgefragt werden. Beispiele dafür reichen von Schweißer:innen oder Grafiker:innen, die durch Maschinen oder Künstliche Intelligenz (KI) ersetzt werden, bis zu journalistischen Tätigkeiten, die zum Teil durch KI obsolet werden. In vielen Fällen fehlt eine positive Perspektive für die unmittelbar betroffenen Arbeitnehmer:innen.

Berufs-Routenplaner: setzt auf bereits Erlerntes, zeigt neue Wege

Für Arbeitnehmer:innen und Arbeitssuchende ist es oft schwierig, einen Überblick über Veränderungen am Arbeitsmarkt oder in ganzen Wertschöpfungsketten zu behalten. Etwa durch Veränderungen in der internationalen Arbeitsteilung, durch die Herausforderungen der Klimakrise, durch fortschreitende Digitalisierung vieler Tätigkeiten oder auch grundlegende Veränderungen ganzer Branchen wie der Automobilindustrie.

Genau diese Veränderungen in der Arbeitswelt stecken aber auch voller Potenziale. Dafür braucht es in der Arbeitswelt verlässliche „Routenplaner“, die aufzeigen, welche Perspektiven es gibt.

Prototypen in Form von sogenannten „Berufswanderkarten“ zeigen, wie Veränderungswillige von A nach B kommen können. Ausbildungszeiten und Gemeinsamkeiten mit bisherigen Erfahrungen im Beruf werden hier anschaulich illustriert. Im Unterschied zur Berufs- und Bildungswegorientierung geht es bei den Berufswanderkarten vor allem auch darum, auf das bereits Erlernte aufzubauen.

Prototyp aus 2012: Pflege und Gastronomie

Hausgemacht, nämlich durch überfordernde Arbeitsbedingungen, kommen im Bereich der Pflege sehr viele Beschäftigte so stark unter Druck, dass sie den Arbeitsplatz verlassen müssen. Gerade im Hinblick auf eine alternde Gesellschaft ist dieser Umstand besorgniserregend und erfordert gezielte Gegenmaßnahmen – von einer personellen Aufstockung, alternsgerechten Arbeitsbedingungen bis zu innovativen Arbeitszeitmodellen. Für viele Beschäftigte kommen heute – wie damals 2012 – bessere Arbeitsbedingungen wohl zu spät und sie müssen bzw. wollen sich beruflich neu orientieren.

So hatte der Prototyp (FORBA/Prospect, 2012) für Pflegehelfer:innen (seit 2016 neue Berufsbezeichnung Pflegeassistent:innen) zum Ziel, „gesunde“ Berufswege für die Betroffenen aufzuzeigen. Also einen Anhaltspunkt zu geben, welche Schritte auf Basis der bestehenden Kompetenzen möglich und sinnvoll erscheinen. Das Instrument der Berufswanderkarte wurde damit zu einem beeindruckenden Leitsystem. Der zweite Prototyp behandelte die möglichen Schritte und Pfade für Kellner:innen.

Das Konzept der Berufswanderkarte, das Dauer und Bedarf einer Aus- oder Weiterbildung in Form von Distanz und Steigung visualisiert, war und ist keineswegs trivial. Im Gegenteil: Es setzt bereits eine Vielzahl von sinnvollen Überlegungen und konkreten Angeboten voraus.


© A&W Blog


Breit gedacht: Um den pensionsbedingten Ersatzbedarf in vielen Bereichen und den zusätzlichen Bedarf zu decken, ist eine sektorübergreifende (oder zumindest eine ministerienübergreifende) Steuerung unerlässlich. Insgesamt fehlt für Österreich – aber auch auf europäischer Ebene – eine kohärente Gesamtstrategie für eine bedarfsgerechte Fachkräftesicherung und -entwicklung. Die fehlende Strategie für Österreich zeigt z. B. ein aktueller Rechnungshofbericht schonungslos auf.

Diffuse Fachkräftedebatte – kritische Infrastruktur in Gefahr

Derzeit sehen wir steigende Personalbedarfe in unterschiedlichen Bereichen: von Techniker:innen für den Ausbau erneuerbarer Energieträger, IT-Kräften bis hin zu Pflegekräften und Gesundheitspersonal. So werden exemplarisch in den nächsten fünf bis zehn Jahren allein im Gesundheitsbereich rund 40.000 (!) neue Beschäftigte benötigt, nur um den wenig zufriedenstellenden Status quo zu konservieren.

Arbeitgeber:innen monieren in der Regel, „händeringend nach Fachkräften zu suchen“ und ihre offenen Stellen nicht besetzen zu können. Die Beschäftigten hingegen sehen sich vermehrt mit schlechten Arbeitsbedingungen, steigendem Arbeitsdruck, schlechten Weiterbildungsmöglichkeiten und fehlender Anerkennung konfrontiert. Gerade im Hinblick auf alternsgerechte Entwicklungsperspektiven sind alternative Berufe oft attraktiver.

Insgesamt stellt die Aufrechterhaltung der Beschäftigung in der kritischen Infrastruktur und in systemrelevanten Berufen eine besondere Herausforderung dar, da die Belegschaften einen hohen Anteil von unselbstständig Erwerbstätigen im Alter von 55 Jahren und älter aufweisen und eine Pensionierungswelle in den nächsten zehn Jahren anstehen wird. Das WIFO hilft uns in einer aktuellen Studie dabei, die Altersprofile der Beschäftigten in systemrelevanten Bereichen zu kennen und die künftigen Kompetenzprofile besser als bisher zu identifizieren. Gerade vor dem Hintergrund, dass der Anteil an Arbeitskräften, die älter sind, in der kritischen Infrastruktur höher ist, ist der Handlungsdruck für die Sicherung allein dieses Ersatzbedarfs enorm.

Pensionierungen sind allerdings nur ein Faktor. Bei den Arbeitsbedingungen sticht eine Zahl besonders heraus: 1,4 Mio. Arbeitnehmer:innen (Sonderauswertung aus dem Arbeitsklima Index der AK OÖ, 2023) geben an, dass es für sie nicht vorstellbar ist, in ihrem aktuellen Beruf überhaupt gesund bis zur Pension durchzuhalten. Ohne funktionierende kritische Infrastruktur kommt überall „Sand ins Getriebe“ und über kurz oder lang wird es als Land und Volkswirtschaft nicht gelingen, die gewünschte Wertschöpfung und Lebensqualität zu realisieren. Eine logische Ableitung ist die Arbeitsplatzattraktivität in diesen Branchen signifikant zu erhöhen. Nur wenn Beschäftigungssegmente ein „Beschäftigungsmagnet“ werden, ist das Fundament für einen breiten sozial-ökologischen Umbau in Wirtschaft und Gesellschaft gegeben.

Visionen und Optimismus gefragt

Die Berufswanderkarten können dazu beitragen, die Beschäftigten bei der Umorientierung zu unterstützen, da es sich oft als schwierig gestaltet, einen ausreichenden Überblick über die zersplitterte Ausbildungslandschaft zu haben. Eine Grundsatzfrage, die sich stellt, ist, ob diese Karten die multiplen Faktoren ausreichend abbilden. Dabei ist zu beachten, dass es gilt, die richtigen Routen für einzelne Arbeitnehmer:innen zu finden und gleichzeitig die bestehenden Strukturen und Wirtschaftsweisen nachhaltig auszurichten. Es geht also um individuelle Erwerbsbiografien, den Wirtschaftsstandort, die soziale Frage und um elementare Bedarfe einer modernen Gesellschaft.

Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage können nur dann wieder zueinanderfinden, wenn Arbeitsbedingungen, Bezahlung und bereitstehende Ressourcen verbessert werden. Das kommt nicht nur dem Personal zugute, sondern trägt auch dazu bei, dass den steigenden (Produktivitäts-)Anforderungen nachgekommen werden kann (vgl. Effort-Reward-Imbalance-Modell/ERI-Modell nach Siegrist [1996]). Gemeinsam mit erprobten Initiativen wie dem „Du kannst was“-Kompetenzanerkennungsprojekt der AK Oberösterreich, dem Fachkräftestipendium oder dem Waff-Projekt „Jobs+Ausbildung“ können branchenübergreifende Berufswanderkarten ein hilfreiches Tool in diesem Prozess sein.

Konzeption neu: Zukunftsbranchen und gesellschaftliche Bedarfe als Beschäftigungsmagnet

Die herkömmlichen Berufswanderkarten dienen als guter Ausgangspunkt, sind aber oft durch bestehende Konzepte in ihrer Zukunftssicht eingeschränkt. Um Branchen, die vom allgemeinen Strukturwandel und Dekarbonisierung besonders betroffen sind, nachhaltige Visionen und Zukunftsaussichten bieten zu können, sind neue, ambitionierte Berufswanderkarten notwendig. Die vorläufigen Zwischenberichte wirken vielversprechend!

Es bedarf abseits der Forschung unmittelbarer Initiativen in vielen Bereichen, damit sich auch das Konzept der „Berufswanderkarten“ zu verlässlichen Leitsystemen und realen Visionen für die Zukunft der Arbeitswelt weiterentwickeln lässt. Dafür braucht es planerische und umsetzungsorientierte Talente sowie einen guten und sozialen Blick auf die gesellschaftlichen Bedarfe der Zukunft – von der IT-Branche bis zur Pflege.

Klar ist: Je konkreter die Veränderungsnotwendigkeiten und -perspektiven aufgezeigt werden und je besser die Menschen bei diesen Anpassungsschritten und Übergängen finanziell abgesichert sind, umso eher wird die Transformation insgesamt gelingen.

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