Wirtschaftspolitik in der Kreisky-Ära: erfolgreiche keynesianische Globalsteuerung

23. Juli 2018

Jede Generation schreibt die Geschichte neu, heißt es. Das gilt wohl auch für die Wirtschaftsgeschichte, ist doch die Bewertung von bestimmten historischen Phasen wirtschaftlicher Entwicklung stark abhängig von den jeweils aktuellen Tendenzen und Problemlagen sowie den dominanten wirtschaftstheoretischen Ansätzen und wirtschaftspolitischen Ideologien. Eine für Österreich besonders prägende Phase war zweifellos die Kreisky-Ära (1970–1983). Die österreichische Gesellschaft verordnete sich damals einen kräftigen Modernisierungsschub, der es auch der heimischen Volkswirtschaft ermöglichte, von einer unterdurchschnittlichen Position in die EU-Spitzengruppe vorzustoßen.

Sie war insofern stark prägend für die weitere wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Zweiten Republik, als die wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen dieser Zeit weit über sie hinauswirkten und in vielerlei Hinsicht nach wie vor wirksam sind. Wichtige infrastrukturelle und institutionelle Grundlagen für die weitere Modernisierung Österreichs wurden in jenen eineinhalb Jahrzehnten gelegt. Der Sozialstaat wurde zum Nutzen der gesamten Bevölkerung entscheidend erweitert und vertieft.

Stakkato der Schocks

In wirtschaftlicher Hinsicht waren die Jahre 1970 bis 1983 äußerst turbulent, geprägt zunächst von der längsten und auftriebsstärksten Hochkonjunktur der österreichischen Wirtschaftsgeschichte und dann von einem wahren Stakkato an realen, monetären, institutionellen oder wirtschaftspolitischen Schocks.

In den sieben Jahren von 1968 bis 1974 lag die jährliche reale BIP-Wachstumsrate zwischen heute kaum mehr vorstellbaren 4 und 6,5 Prozent. Die Serie der Schocks begann mit der Dollar-Abwertung im August 1971 („Nixon-Schock“), gefolgt vom Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems fester Wechselkurse im März 1973, dem ersten Ölpreisschock ab Oktober 1973 (Jom-Kippur-Krieg), der ersten schweren Nachkriegsrezession der Weltwirtschaft 1974/75, dem Übergang zu einer restriktiven Geldpolitik ab 1979, eingeleitet durch die US-amerikanische Notenbank („Volcker-Schock“), dem zweiten Ölpreisschock 1979–81, der weltweiten Rezession 1981/82 und mehreren Wechselkursschocks, v. a. durch Abwertungen der italienischen Lira. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch der Paradigmenwechsel in der Wirtschaftstheorie (von Keynes zur Neoklassik) und Wirtschaftspolitik (von keynesianischer Makropolitik zu Monetarismus, Angebotsökonomie und Neoliberalismus).

Die äußeren Umstände, mit denen sich die österreichische Wirtschaftspolitik auseinanderzusetzen hatte, waren also nicht gerade einfache. Der policy-mix, für den sich Ende der 1970er-Jahre die Bezeichnung „Austro-Keynesianismus“ durchsetzte, war eine pragmatische, originäre, unkonventionelle, aber konsistente wirtschaftspolitische Strategie, mit einer eindeutigen Priorität für Vollbeschäftigung, die grundlegend auf dem keynesianischen Konzept makroökonomischer Globalsteuerung beruhte und flexibel auf die vielfältigen ökonomischen und politischen Herausforderungen der 1970er- und frühen 1980er-Jahre reagierte.

Elemente der Makro-Steuerung

Die wichtigsten Elemente der makroökonomischen Steuerung im Austro-Keynesianismus waren:

  • antizyklische Budgetpolitik,
  • (Voll-)Beschäftigungspolitik,
  • mittelfristig produktivitätsorientierte Lohnpolitik,
  • Hartwährungspolitik,
  • Sicherung einer hohen Investitionsneigung im öffentlichen und im privatwirtschaftlichen Sektor,
  • Ausbau des Systems sozialer Sicherung und
  • Konzertierung der Wirtschaftspolitik zwischen Regierung, Sozialpartnern und Notenbank (OeNB).

Ganz im Sinne von Keynes und des Postkeynesianismus zielte seine Wirtschafts- und Sozialpolitik auf vielfältige Weise darauf ab, die Erwartungen nicht nur der InvestorInnen, sondern auch jene der privaten Haushalte zu stabilisieren. Der Austro-Keynesianismus war Wirtschaftspolitik im Bewusstsein der Gefahren von Investitionsschwäche, Unterbeschäftigungsgleichgewicht, Verteilungskämpfen, Kosteninflation und Finanzkrisen.

Unkonventionell war im Austro-Keynesianismus u. a. die Zuordnung von Instrumenten zu Zielen des „magischen Vielecks“. Im Rahmen von konventioneller keynesianischer Makropolitik sollte das Beschäftigungsziel durch Nachfragesicherung mittels Fiskalpolitik erreicht werden, Preisstabilität durch geldpolitische Maßnahmen der Zentralbank und das Zahlungsbilanzgleichgewicht durch Wechselkurspolitik.

In Österreich entwickelte sich ein anderes Muster der Zuordnung:

  • Auch im Austro-Keynesianismus hatte die Budgetpolitik die Nachfrage zu stabilisieren und auf diese Weise einen hohen Beschäftigungsstand zu sichern. Österreich beteiligte sich eben nicht an der konservativen Wende zu Monetarismus und Angebotsökonomie, die in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre einsetzte und die Hinnahme steigender Arbeitslosigkeit zugunsten strikt definierter Preisstabilität implizierte. In vielen Bereichen der österreichischen Wirtschaftspolitik wurden Beschäftigungsaspekte mitberücksichtigt.
  • Üblicherweise wird keynesianische Vollbeschäftigungspolitik mit größerer Bereitschaft zur Hinnahme von Inflation und mit dem Einsatz des Instruments der Währungsabwertung zur Nachfragesicherung in Zusammenhang gebracht. Die österreichischen Entscheidungsträger hingegen wählten Anfang der 1970er-Jahre die Hartwährungspolitik als Antiinflationsinstrument. Die Fixierung des Wechselkurses gegenüber den preisstabilen Handelspartnerländern (BRD, CH, Benelux) sollte die importierte Kosteninflation dämpfen und die Anreize für die Sozialpartner zu einer mittelfristig produktivitätsorientierten Lohnpolitik verstärken.
  • Der Lohnpolitik der Sozialpartner und dem informellen System von Preiskontrollen fiel somit die Aufgabe zu, die Binnenteuerung zu kontrollieren und solcherart die preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu wahren und damit das außenwirtschaftliche Gleichgewicht abzustützen.

Hartwährungspolitik und Lohnpolitik standen also in einem engen wechselseitigen Zusammenhang. Die Hartwährungspolitik unterstützte die Sozialpartner bei dem schwierigen Versuch, unter den Bedingungen von Vollbeschäftigung produktivitätsorientierte Lohnabschlüsse durchzusetzen.

Die Sozialpartnerschaft („Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen“, vierteljährliche „Wirtschaftspolitische Aussprache“) bildete ein wesentliches Forum für Informations- und Meinungsaustausch, für Verhandlungen, Kompromisssuche und Koordination. Infolge der Ex-ante-Koordination und Akzeptanz wichtiger wirtschaftspolitischer Entscheidungen durch alle maßgeblichen Akteure ermöglichte die Sozialpartnerschaft eine maximale Wirkung der betreffenden Maßnahmen unter Vermeidung konfliktbedingter Reibungsverluste.

Die informelle Politikabstimmung zwischen Regierung, Sozialpartnern und OeNB im Rahmen der Sozialpartnerschaft bildete die Voraussetzung für die Strategiefähigkeit der österreichischen Wirtschaftspolitik, die international konstatiert wurde. Diese Strategiefähigkeit wiederum ermöglichte eine „Wirtschaftspolitik aus einem Guss“ – ein seltenes Ereignis in pluralistischen Gesellschaften, selbst unter den Bedingungen einer längeren Einparteienregierung.

Die Gewährleistung verlässlicher Bedingungen für Investitionsentscheidungen und Nachfrage der privaten Haushalte bildete eine vorrangige Motivation für das spezifische Politikbündel des Austro-Keynesianismus. Die unsicherheitsmindernden Wirkungen der verschiedenen Politiken ergänzten und verstärkten einander.

Resümee der Kreisky-Ära

Welches Resümee lässt sich aus der Wirtschaftspolitik der Kreisky-Ära ziehen? Gemessen an Wirtschaftswachstum, Beschäftigungsgrad und Preisstabilität war sie sehr erfolgreich. Der Aufhol- und Modernisierungsprozess der österreichischen Volkswirtschaft lässt sich daran erkennen, dass 1969 das reale Pro-Kopf-Einkommen (zu Kaufkraftparitäten) hierzulande noch um vier Prozent unter dem Schnitt der EU-15-Länder lag, 1983 aber bereits um zehn Prozent darüber. Die Vollbeschäftigung, das Hauptziel der Wirtschaftspolitik, vermochte bis 1982 gehalten zu werden. Die Inflationsrate erhöhte sich zwar als Folge des ersten Ölpreisschocks stark (auf 9,5 % 1974), konnte aber durch den policy-mix aus Hartwährungspolitik und moderater Lohnpolitik in den Folgejahren wieder rasch gesenkt werden und blieb im Durchschnitt weit unter dem Mittelwert der westlichen Industriestaaten.

Die Fiskalpolitik war in der Kreisky-Ära – mit Ausnahme des Rezessionsjahres 1981, als sie leicht prozyklisch ausgerichtet war – weitgehend konjunkturgerecht. Die in Österreich in den Rezessionen ausgeprägt antizyklisch gestaltete Budgetpolitik äußerte sich darin, dass sich der Finanzierungssaldo des Staates – ausgehend von einem positiveren Durchschnittswert von 1,6 % 1970–73 – etwas stärker verschlechterte als im Schnitt der EU-15 (um 4,7 Prozentpunkte (PP) auf -3,1 % 1980–83 gegenüber 3,9 PP von -0,6 % auf -4,5 %). Auch in der Entwicklung der Staatsschulden schlug sich die Priorisierung der Verteidigung der Vollbeschäftigung nieder: Die Staatsschuldenquote erhöhte sich in Österreich von 18,5 % des BIP 1970 um 25 PP auf 43,5 % 1983 und in den EU-15-Ländern von 28,7 % um „nur“ 19,3 PP auf 48,0 %.

Wichtige Schwächen der Wirtschaftspolitik der Kreisky-Ära betrafen die Struktur- und Innovationspolitik sowie in gewissem Maße auch die Verteilungspolitik. Während Hartwährungspolitik und produktivitätsorientierte Lohnpolitik den Strukturwandel im privatwirtschaftlich exponierten Sektor forcierten, wurde die Anpassung der überdimensionierten und stark subventionierten Grundstoffindustrien (Stahl, Magnesit usw.) im verstaatlichten Sektor nach dem erfolgreichen Aufholprozess der „goldenen Ära“ (1955–1974) an die neue Konkurrenzsituation verschleppt. Viele KritikerInnen stimmen darin überein, dass die F&E-Politik in der Investitionsförderung zu kurz kam.

Im Bereich der Verteilungspolitik standen wichtigen und hochwirksamen Maßnahmen und Impulsen – wie bspw. durch die Vollbeschäftigungspolitik, die Lohnpolitik und insbesondere die Gleichstellungspolitik und die Bildungspolitik (welche eine erhöhte intergenerationelle Bildungsmobilität zur Folge hatte) – die Vernachlässigung der überproportionalen Zunahme der Besitzeinkommen – v. a. aufgrund der internationalen Hochzinspolitik – gegenüber: Der Anteil der Besitzeinkommen am Volkseinkommen verdreifachte sich von 1970 bis 1984, nämlich von 2,8 % auf 8 %. Ansatzweise reagiert wurde erst 1984 mit der Einführung einer Zinsertragssteuer (mit einem Satz von 7,5 %) im Rahmen des Mallorca-Pakets.