Der nationale Egoismus im Umgang mit der COVID-19-Pandemie widerspricht nicht nur dem Gebot der globalen Solidarität, sondern ist politisch kurzsichtig und ökonomisch fahrlässig. Dringend nötig sind internationale Kooperation und der rasche Ausbau der Impfstoffproduktion im globalen Süden.
Dynamik der Pandemie verschärft sich im globalen Süden
Die COVID-19-Pandemie hat bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten einmal mehr deutlich hervortreten lassen – zum einen innerhalb nationaler Grenzen, besonders drastisch aber auch im globalen Vergleich. Eine Oxfam-Studie aus dem Dezember zeigt, dass etwa 2,7 Milliarden Menschen, also mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung, bislang keine öffentlichen Gelder zur Bewältigung der Auswirkungen der Pandemie erhalten haben. Konkret entfielen von den im vergangenen Jahr infolge von COVID-19 weltweit zusätzlich ausgegebenen 11,7 Billionen US-Dollar 83 Prozent auf 36 reiche Länder und nur 0,4 Prozent auf 59 einkommensschwache Länder.
Während mittlerweile im globalen Norden vielerorts bereits die ersten erfolgreich beschafften Impfdosen verimpft werden, blicken die Menschen in weiten Teilen des globalen Südens dem kommenden Verlauf der Pandemie mit großer Ungewissheit entgegen. Denn die aktuelle Dynamik der Pandemie ist besonders in Regionen mit mittlerem und niedrigem Einkommen besorgniserregend.
Der afrikanische Kontinent etwa war von der Pandemie das vergangene Jahr über vergleichsweise weniger stark betroffen. Doch seit Dezember steigen die Infektionszahlen durchschnittlich um 18 Prozent und in verschiedenen Teilen des Kontinents um mehr als 25 Prozent an. Die gesamtafrikanische COVID-19-Todesrate liegt mittlerweile erstmals über dem globalen Durchschnitt, sodass die vergleichsweise geringen Versorgungs- und Beatmungskapazitäten am Limit sind und viele Menschen nicht mehr behandelt werden können. Damit ist die Situation in weiten Teilen des Kontinents bereits jetzt wesentlich dramatischer als auf dem Höhepunkt der ersten Welle. Die WHO schätzt, dass die Zahlen weiter steigen könnten, da sich die Situation zusätzlich durch die neue Virus-Variante aus Südafrika verschärft.
Extrem ungleicher Zugang zu Impfstoffen zwischen Nord und Süd
Der aktuelle Ausblick auf die globale Verteilung von Impfstoffen zeigt ein düsteres Bild und unterstreicht einmal mehr globale Schieflagen: Gesunde jüngere Menschen im globalen Norden werden vermutlich vor Risikogruppen im globalen Süden geimpft. Während 49 einkommensstarke Länder bis Mitte Jänner circa 39 Millionen Impfdosen erhalten haben, gingen Länder mit niedrigem Einkommen leer aus: Sie erhielten laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bis Mitte Jänner zusammen insgesamt 25 Impfdosen.
Die Afrikanische Union warnt daher, dass in Afrika bis Juni 2021 vermutlich nur das direkt betroffene medizinische Personal geimpft werden kann. Der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, spricht in diesem Zusammenhang von einem „katastrophalen moralischen Versagen“, dessen Preis vor allem im globalen Süden gezahlt werden wird. Denn die globale Durchimpfung wird vermutlich nicht vor 2022/23 oder möglicherweise noch später erfolgen.
Eine aktuelle Studie schätzt, dass eine gerechtere globale Verteilung der Impfstoffe die globalen Todeszahlen halbieren könnte. Dabei ist die Forderung nach einer gerechten Verteilung von Impfdosen, die Aufhebung des Patentschutzes mittels adäquater Entschädigungen und eine rasche Ausweitung der Produktionskapazitäten nicht nur eine Frage der globalen Solidarität. So erhöht das Hinauszögern der Pandemie im globalen Süden die Wahrscheinlichkeit von Mutationen, vor denen möglicherweise auch Impfungen keinen Schutz bieten, aber auch der „Import“ von mit SARS-CoV-2 Infizierten bleibt so wahrscheinlicher. Zudem wird erwartet, dass eine ungleiche Verteilung der Impfstoffe auch das globale Bruttoinlandsprodukt deutlich mehr belastet.
Vielschichtige Gründe für globale Schieflage
Die Gründe für diese gewaltige Schieflage sind vielschichtig und liegen zuallererst in den ökonomischen Ungleichgewichten, wobei insbesondere Länder mit bestehenden Produktionskapazitäten für Impfstoffe bessergestellt sind (z. B. die EU, aber auch Russland, China und Indien). Dazu behindert der von vielen finanzkräftigeren Regierungen eingeschlagene Weg des Impfnationalismus den Zugang zu Impfstoffen im globalen Süden, denn sie umgehen die COVAX-Organisation (COVID-19 Vaccines Global Access) der WHO, welche auf einen gerechten und von der Kaufkraft unabhängigen Zugang zu Impfungen abzielt. Zwar sind ca. 190 Länder, darunter auch eine Vielzahl an einkommensstärkeren Ländern (inkl. EU und China, nicht aber Russland und die USA), COVAX beigetreten. Allerdings schließen viele finanzkräftigere Regierungen gleichzeitig bilaterale Verträge mit den Pharmaunternehmen, um ihre Wartezeit zu verkürzen („first come, first serve“), und verzögern so den Zugang von COVAX und erhöhen die Preise. Aufgrund der hohen Kosten für verschiedene Impfstoffe sind bilaterale Verträge z. B. mit Pfizer/BioNTech oder Moderna für viele Länder des Südens nicht möglich, wenngleich sich die Afrikanische Union vor Kurzem ebenfalls zusätzliche – aber im Vergleich zur Bevölkerung sehr kleine – Kontingente gesichert hat. Dass manche Pharmaunternehmen die Zulassung in einkommensschwächeren Ländern bewusst verzögern, um so einen Grund für das Beliefern von reicheren Ländern zu haben, ist ebenfalls ein Kritikpunkt.