Was schulische Chancengerechtigkeit in der Migrationsgesellschaft bedeutet: Mehrsprachigkeit fördern, Segregation und Separation entgegenwirken

18. Januar 2018

Mehrsprachigkeit vermag sowohl Katalysator für die schulische Entwicklung von Kindern zu sein als auch Hindernis dafür. Dies hängt stark davon ab, ob schulorganisatorische bzw. didaktische Rahmenbedingungen andere Erstsprachen als Deutsch als Defizit behandeln oder sie in Kombination mit der Unterrichtssprache fördern.

Die Vielfalt der Herkünfte und Umgangssprachen

Seit Langem wird ein sorgloser Umgang mit der Globalkategorie “Migrationshintergrund” (d.h. je nach Definition ein oder beide Elternteile bzw. selbst im Ausland geboren) als problematisch betrachtet. Denn hinter diesem breiten Label verbergen sich nicht nur unterschiedlichste Herkunftsländer. Auch die Zuwanderungsgeschichte und der soziale Hintergrund variieren teils eklatant. In schulpolitischen Statistiken wird daher vor allem mit der Kategorie der Erst- bzw. Umgangssprache gearbeitet, um Kinder mit Deutsch als Erstsprache von jenen mit anderen Erstsprachen zu unterscheiden. Damit wird stärker auf ihr Verhältnis zur dominanten Unterrichtssprache Deutsch fokussiert, wenngleich eine andere Erstsprache keineswegs – wie oftmals impliziert – automatisch mit niedrigen Zweitsprachkompetenzen in Deutsch einhergehen muss. 

Insgesamt sind Österreichs Schulen in stetig steigendem Maße von Mehrsprachigkeit geprägt: Sprachen laut Schulstatistik im Schuljahr 2005/2006 noch knapp 16% unter den SchülerInnen der 8. Schulstufe eine andere Umgangssprache als Deutsch, so betrug ihr Anteil im Schuljahr 2011/12 bereits 21%, 2015/16 war diese Zahl bereits auf 27% angestiegen. Unter diesen mehrsprachigen SchülerInnen kamen 2011 die meisten Mütter aus der Türkei sowie Bosnien/Herzegowina und Serbien, mit einigem Abstand dann aus Rumänien, Kosovo, Kroatien, Polen, Ungarn, Ägypten, Mazedonien, Russland, Philippinen, Slowakei, Tschechien, Albanien und Slowenien. Inzwischen ist infolge der Fluchtbewegungen seit 2015 auch der Anteil syrischer, irakischer und afghanischer Kinder angewachsen (vgl. Schulstatistik 2015/16).

Mehrsprachigkeit: Zwischen Katalysator und Hindernis für Schulerfolg

Die Bedeutung einer anderen Umgangssprache für die schulische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen kann sehr unterschiedlich ausfallen. Während die mehrsprachige Entwicklung bei einigen ein Katalysator für schulischen Erfolg sein kann, stellt sie sich bei anderen als Hindernis dar, das sich im späteren Schulleben in schlechteren Schulleistungen niederschlägt. Dieses Fazit lässt sich aus der aktuellen Studie “Migration und Mehrsprachigkeit (MiMe)” von Barbara Herzog-Punzenberger (Johannes-Kepler Universität Linz) ziehen. Darin analysiert sie Ergebnisse der Bildungsstandards-Testungen (BIST) der 8. Schulstufe (2011/12) und widerlegt nicht nur hartnäckige Stereotype über Zuwanderungsgruppen, sondern verdeutlicht auch die Komplexität des Zusammenhangs von Migrationshintergrund und schulischer Leistung.

Denn der Blick auf schulische Leistungen zeigt: Unter Kindern mit einer anderen Erstsprache als Deutsch schneiden z.B. in Mathematik, einige Sprachgruppen zumindest ähnlich wie SchülerInnen mit deutscher Erstsprache ab (z.B. polnisch, slowakisch oder ungarischsprachige SchülerInnen) während andere teilweise deutlich – bis zu zwei Lernjahre – darunterliegen. In Englisch liegen einige Sprachgruppen hingegen sogar über den Ergebnissen ihrer MitschülerInnen mit deutscher Erstsprache (z.B. polnisch, tschechisch, slowakisch, ungarischsprachige SchülerInnen) – hier werden die ungleichen Ausgangssituationen für verschiedene Herkunftsgruppen also noch deutlicher sichtbar.

Hinsichtlich der Ursachen für die teils gegensätzlichen Ergebnisse der unterschiedlichen Sprachgruppen weist die Studie auf ein Bündel an Faktoren hin.

Schulische Selektionsmechanismen

Schulische Selektionsmechanismen spielen nach der MiMe-Studie eine besondere Rolle in der Konservierung dieser ungleichen Ausgangsbedingungen für Kinder. Schon an der ersten Nahtstelle zwischen Kindergarten und Volksschule zeigen dies die unterschiedlichen Rückstellungszahlen in die Vorschulstufe: Während unter SchülerInnen der 8. Schulstufe des Jahres 2011/12 nur 15% der Kinder mit österreichischen Eltern rückgestellt worden waren, traf dies für Kinder kosovarischer (29%), mazedonischer (33%), albanischer (33%) oder türkischer (33%) Eltern in doppelt so hohem Ausmaß zu.

Diese institutionelle Separation setzt sich auch am Übergang in die Sekundarstufe I fort, selbst wenn man nur die im Inland geborenen Kinder berücksichtigt (die also grundsätzlich alle dasselbe Bildungssystem durchlaufen haben): Während es Kinder österreichischer Eltern in der 8. Schulstufe des Schuljahres 2011/12 zu über einem Drittel an die AHS geschafft hatten, lag die AHS-Beteiligung bestimmter Herkunftsgruppen deutlich darunter (z.B. Türkei, Kosovo, Mazedonien), andere Gruppen hingegen waren sogar überdurchschnittlich stark an der AHS vertreten (z.B. Ägypten, Polen, Russland, Slowakei) (siehe Abbildung).

Dekoratives Bild © A&W Blog
AHS Teilnahmequoten 2012 nach Geburtsland der Mutter © A&W Blog

Elterliches Bildungsprofil und räumliche Segregation

Die Teilnahme an der akademisch ausgerichteten Schulform (AHS) ist stark vom Bildungsprofil der Eltern abhängig. Aus weiterführenden Analysen ist bekannt, dass am Ende der Volksschule die anschließende Übertrittsquote in die AHS unter Kindern von weniger gebildeten Eltern beinahe nur ein Drittel der Quote hochgebildeter Eltern beträgt – trotz gleicher Mathematikkompetenz (Bruneforth et al. 2016). Die in Österreich sehr früh vorgenommene Trennung in Schultypen benachteiligt daher gerade Kinder jener Eltern, die weder mit dem Lernstoff noch mit der Sprache oder dem Schulsystem vertraut sind. Wer aus bildungsfernen Familien kommt und darüber hinaus eine andere Erstsprache als Deutsch spricht, hat es im österreichischen Bildungssystem bedeutend schwerer, den Schulalltag erfolgreich zu meistern. Die kurze Volksschul-Zeit bis zur ersten Weichenstellung reicht für viele nicht aus, ihre schlechteren Startbedingungen zu überwinden und mit anderen SchülerInnen gleich zu ziehen.

Gerade bei bestimmten Herkunftsgruppen sind die Bildungsressourcen der Eltern allerdings unterdurchschnittlich verteilt. So zeigt die MiMe-Studie, dass unter SchülerInnen der 8. Schulstufe des Schuljahres 2011/12 die aus der Türkei, Bosnien, Kosovo oder Mazedonien stammenden Mütter einen deutlich niedrigeren Anteil an höheren Schulabschlüssen bzw. Hochschulabschlüssen und einen größeren Anteil an Personen mit maximal Pflichtschulabschluss aufwiesen als die in Österreich oder in anderen Herkunftsländern geborenen Mütter. Dieses Muster spiegelt sich auch in der Zahl der zu Hause vorhandenen Kinderbücher wieder, die als Ausdruck einer mehr oder weniger ausgeprägten sprachlichen Beschäftigung der Eltern mit ihren Kindern gewertet werden kann. Hier weisen albanisch, bosnisch, mazedonisch, romanes, serbisch oder türkischsprachige Kinder die geringsten Anteile an Kinderbüchern zu Hause auf. Andere Herkunftsgruppen lagen im Bildungsprofil der Mütter hingegen sogar über deutschsprachigen Kindern, etwa ägyptisch, philippinisch, polnisch, russisch oder slowakischsprachige Mütter, und in diesen Haushalten waren auch Kinderbücher in größerem Umfang vorhanden.

Die frühe Trennung verstärkt nicht zuletzt auch die schulische Segregation von Kindern mit anderer Erstsprache als Deutsch, die vor allem bei sozioökonomisch schwächer gestellten Sprachgruppen eng mit der Wohnraumsegregation zu tun hat. Während in AHS-Unterstufen 2011/12 nur 23% der SchülerInnen in Klassen saßen, in denen mehr als 1/4 der Kinder eine andere Erstsprache als Deutsch aufweist, galt dies in Hauptschulen für 43% der SchülerInnen und in den noch nicht selektierenden Volksschulen für 39% aller SchülerInnen.

Wie das Mehrsprachigkeitspotential heben?

Diesem Zusammenspiel benachteiligender Faktoren lässt sich mittelfristig nur mit Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen begegnen:

Dazu zählen allen voran der Mut zu neuen didaktischen Strategien, welche die Förderung von Erst- und Zweitsprachen in durchgängiger Form etablieren – d.h. zwischen Sprach- und Fachgegenständen einerseits und zwischen Erst- und Zweitsprachenunterricht andererseits. Aber auch mit einer besseren Gestaltung der Übergänge zwischen Bildungseinrichtungen, etwa durch ein kontinuierliches Portfolio-System: dieses gibt Kompetenzdiagnosen zwischen den PädagogInnen weitert und baut darauf zugeschnittene Förderpläne auf.

Damit einher geht aber auch die Einführung verpflichtender Aus- und Weiterbildung der PädagogInnen hinsichtlich früher sprachliche Förderung sowie sprach- und diversitätssensiblem Unterricht – denn Vielfalt an Österreichs Schulen ist eine Realität. Richtig gefördert stellt sie einen großen gesellschaftlichen Gewinn, darauf müssen Lehrkräfte jedoch professionell vorbereitet werden.

Daneben stehen jedoch auch Maßnahmen zur Anpassung der schulpolitischen Rahmenbedingungen für die Vielfalt an Sprachen und Herkünften zur Verfügung. Dazu zählt unter anderem die bessere Ausstattung der Schulen mit hohem Anteil an sozial benachteiligten Kindern mit zusätzliche Ressourcen auf Basis des AK Chancen-Index Modells, aber auch der Ausbau von Angeboten einer qualitativ hochwertigen und pädagogisch strukturierten Ganztagsbetreuung und von Ganztagsschulen.

Nicht zuletzt können auch Eltern sowie außerschulische Lernpartner als wesentliche Ressource agieren, um die pädagogischen Bemühungen auch außerhalb des Lebens- und Lernraums mitzutragen oder sogar fortzuführen. ExpertInnen für Interkulturelle Elternbegleitung, die Unterstützung von Lernbetreuungseinrichtungen sowie engere Kooperation mit Freizeitpädagogischen Angeboten wären nur drei konkrete Beispiele dafür.

Über all dem steht jedoch letztlich der grundsätzliche Wille, Mehrsprachigkeit als Potential und nicht als Defizit zu begreifen. Nur dann kann statt getrenntem Sprachenlernen im derzeit monolingual geprägten Schulsystem künftig Raum für gemeinsame Förderung von Erst- und Zweitsprachen entstehen – zum wechselseitigen Vorteil beider.