Mit den Worten „the dictator is coming“, gefolgt von einer Ohrfeige begrüßte der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker den ungarischen Premierminister Viktor Orbán bei einem Treffen der Staats- und Regierungschefs in Riga vor rund fünf Jahren. Bereits damals hatte die scherzhafte Begrüßung Orbáns aufgrund mehrerer schwerwiegender Verstöße gegen grundlegendes EU-Recht einen handfesten Hintergrund. Welche Vollmachten sich der ungarische Premierminister im Rahmen der COVID-19-Krise nun geben ließ, war damals jedoch noch nicht abzusehen …
Jahrelange Auseinandersetzung der EU mit Ungarn
Ob Mediengesetz, mit dem Orbán den staatlichen Einfluss auf die ungarischen Medien drastisch erhöhte, eine Justizreform, die so weit geht, dass die Europäische Richtervereinigung von einer Verfassungskrise spricht, oder ein Gesetz, das die Finanzierung von NGOs über GeldgeberInnen aus anderen Ländern maßgeblich erschwert: Gegen Ungarn laufen eine Reihe von Vertragsverletzungsverfahren, bei denen es um einen Verstoß gegen die EU-Grundwerte geht.
Immer wieder dienen die Gesetzesänderungen auch dazu, um Stimmung gegen die EU, bestimmte Organisationen oder Personen(gruppen) aufzubauen. Beispielsweise im Rahmen der Flüchtlingskrise: Hier gab es unter anderem ein Vertragsverletzungsverfahren wegen der unterlassenen Versorgung von abgelehnten AsylwerberInnen mit Nahrungsmitteln. Ebenso brisant ist die Änderung zum Hochschulgesetz, dessen Zweck es offenbar hauptsächlich war, die von George Soros gegründete Central European University aus Ungarn zu vertreiben. Dieses Gesetz wird derzeit vom Europäischen Gerichtshof behandelt. Geht es nach der EU-Generalanwältin, ist die Regelung zu den Hochschulen EU-rechtswidrig. Für den ungarischen Premier dürfte das keine Rolle mehr spielen, denn Soros hat seine Universität in der Zwischenzeit bereits nach Wien übersiedelt.
Provozieren mit Berechnung
Orbán und seine Fidesz-Partei fallen immer wieder durch Provokationen mit Kalkül auf: Bereits 2015 machte der ungarische Premier mit Überlegungen aufmerksam, die Todesstrafe in Ungarn wiedereinzuführen. Der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker reagierte prompt: Die Einführung der Todesstrafe wäre ein Scheidungsgrund und würde den EU-Verträgen klar widersprechen. Viktor Orbán reagierte lapidar: Es müsse doch erlaubt sein, darüber zu reden. Todesurteile wieder einzuführen sei nicht geplant.
Rund um den EU-Wahlkampf 2019 diskreditierte die ungarische Regierung wiederum Juncker und Soros auf Werbeplakaten. Die „Brüsseler Bürokraten“ wollen demnach die Einwanderung steigern, bis Europa nicht mehr den EuropäerInnen gehört. Nicht nur Juncker, sondern auch die Parteifreunde in der Europäischen Volkspartei, zu der die Fidesz gehört, reagierten darauf empört. Die Plakatkampagne und die Rechtsstaatsverstöße führten schließlich dazu, dass die Mitgliedschaft der Fidesz bei der EVP knapp vor den EU-Wahlen suspendiert wurde. Für Orbán war die Suspendierung höchst willkommen, weil er damit im EU-Wahlkampf auf niemanden Rücksicht nehmen musste. Nach den Wahlen setzte die Fidesz ihre Mitgliedschaft bei der EVP im Europäischen Parlament jedoch fort.
Ermächtigungsgesetz in der Corona-Krise
Mit dem Ausbrechen von COVID-19 setzte Orbán der Konfrontation mit der EU nun jedoch die Krone auf: Ein vom ungarischen Parlament verabschiedetes Notstandsgesetz ermächtigt Orbáns Regierung, allein, also ohne Mitwirkung des Parlaments, zu regieren. Auf dem Weg von Verordnungen kann sich der ungarische Premierminister nun auch über bestehende Gesetze hinwegsetzen, solange die Corona-Gefahrenlage anhält. Eine Befristung für diese Notstandsregelung fehlt. Wann die Gefahrenlage beendet ist, entscheidet Orbán selbst. Im Prinzip könnte das Parlament das Notstandsgesetz laut Herbert Küpper, Honorarprofessor an der ungarischen Andrassy Universität und Geschäftsführer des Instituts für Ostrecht München, mit einfacher Mehrheit wieder rückgängig machen. Das sei aber nicht zu erwarten, denn schließlich gehören rund zwei Drittel der Regierungspartei Fidesz an, und die Abgeordneten werden wohl kaum Orbán brüskieren.
Somit kann die ungarische Regierung die meisten Grundrechte einschränken (ausgenommen Todesstrafe, Folterverbot und Klonen). Amnesty International Ungarn warnt sogar davor, dass dies ein Blankoscheck für die Einschränkung von Menschenrechten sei. Mit dem Notstandsgesetz wurde gleichzeitig auch ein Gesetz erlassen, das Fehlinformationen zum Coronavirus mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft. ExpertInnen befürchten nun, dass dieses Gesetz dazu dient, JournalistInnen einzuschüchtern und damit kritische Berichte möglichst zu verhindern. Regierungsfreundliche KommentatorInnen fordern sogar, kritische BerichterstatterInnen zu verhaften.
Die wenigen unabhängigen Medien in Ungarn stehen auch mit einer weiteren neuen Regelung unter massivem Druck: Ein neues Dekret erlaubt die Kontrolle über Unternehmen aller Art. Davon betroffen sind unter anderem auch die Medienhäuser. Im Rahmen des Dekrets wurden bislang rund 140 Schlüsselunternehmen unter Militäraufsicht gestellt, darunter auch die staatliche Medienholding.
In Summe erließ Orbán im Rahmen seiner Sondervollmachten rund 100 Dekrete. Neben der Einschränkung von Presse- und Meinungsfreiheit wurden ArbeitnehmerInnenrechte und der Datenschutz sowie Informationspflichten der Behörden ausgehebelt. Kommunale Steuern (Kfz-Steuern, Parkgebühren) wurden umgeleitet bzw. gestrichen. Diese wichtigen Einnahmequellen fehlen den (oft oppositionellen) Städten nun.
Reaktionen: von scharf über verhalten bis nicht existent
Empört reagierte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn: Die EU dürfe sich nicht damit abfinden, dass es in der EU ein Land mit einer „diktatorischen Regierung“ gebe. Ungarn gehöre in eine strikte politische Quarantäne, so der Außenminister. Auch zahlreiche VertreterInnen des EU-Parlaments äußerten sich kritisch und sehen Ungarn als eines der gefährlichsten Beispiele für die Bedrohung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Während es vonseiten der Sozialdemokraten, Grünen, Linken und Liberalen Kritik hagelt, verhalten sich die VertreterInnen der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament auffallend still. Die Fidesz ist Mitglied bei der EVP, der Ausschluss aus der Fraktion wird nur von 13 der insgesamt 27 Mitgliedsparteien gefordert. Die ÖVP ist hier genauso wenig dabei wie die CDU/CSU.
Auffällig war die Reaktion der österreichischen Bundesregierung am Tag der Entscheidung über dieses Ermächtigungsgesetz: Während der grüne Vizekanzler Kogler ein Vorgehen der EU erwartete, meinte Bundeskanzler Kurz, er habe keine Zeit, sich mit Ungarn auseinanderzusetzen, und sei voll mit der Corona-Pandemie beschäftigt. Eine unfassbare Aussage, zumal es um ein Nachbarland geht, in dem soeben das Parlament ausgeschaltet wurde und de facto nur noch der Premierminister allein entscheidet.
Ist Ungarn nun als Diktatur zu bezeichnen?
Wäre Ungarn noch kein Mitglied der EU, hätte das Land wohl keine Chance auf eine EU-Mitgliedschaft. Ungarn verstößt immer wieder gegen Grundwerte der EU, sei es die Rechtsstaatlichkeit, die Medienfreiheit oder das Justizsystem.
Sobald ein Land Teil der EU ist, ändert dies aber alles: Eine Reform nach der anderen wird im vollen Bewusstsein verabschiedet, dass diese gegen EU-Recht verstoßen. Kommt es zu einer Verurteilung vor dem Europäischen Gerichtshof, wird gerade so viel geändert, wie nötig ist. Schritt für Schritt werden so die Grundprinzipien der EU immer weiter ausgehöhlt.
Das Europäische Parlament hat im September 2018 ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags initiiert, um gegen den Abbau des Rechtsstaats, Einschränkungen der Pressefreiheit und die Korruption vorzugehen. Für die Feststellung eines Verstoßes gegen die Grundwerte müssten vier Fünftel der EU-Mitgliedsländer stimmen, wobei fraglich ist, ob dieses Quorum erreicht werden kann. Für einen Stimmrechtsentzug wäre Einstimmigkeit notwendig. Es ist davon auszugehen, dass zumindest Polen, gegen das ebenfalls ein Artikel-7-Verfahren läuft, gegen einen entsprechenden Antrag stimmen würde.
Nachdem nichts zu befürchten ist, wenn an den Fundamenten der Europäischen Union gesägt wird, versuchen sich immer mehr Mitgliedsländer darin, auszutesten, wie weit sie gehen können, bis die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge schreit.
Im Fall des ungarischen Ermächtigungsgesetzes zeigte sich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu Beginn besorgt. Mitte April drohte sie mit einem Vertragsverletzungsverfahren. Ende April kam die Kommission dann aber letztlich zu dem Schluss, dass die ungarischen Notstandsgesetze derzeit keine konkreten Ansatzpunkte für die Verletzung demokratischer Grundrechte ergeben und daher keine Gegenmaßnahmen notwendig seien. Aus Sicht der Kommission ist damit Ungarn keine Diktatur.
Ein Alarmsignal für demokratische Systeme
Der ungarische Premierminister Viktor Orbán hat damit einmal mehr gezeigt, was in Bezug auf die Hüterin der Verträge, die Europäische Kommission, alles geht. Nicht nur in Europa, sondern weltweit erschüttern immer mehr populistische und rechtsextreme PolitikerInnen die Grundfesten der Demokratie. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung kam zu dem Ergebnis, dass die Gewaltenteilung im letzten Jahrzehnt in 60 Staaten ausgehöhlt worden ist. Von 137 untersuchten Staaten sind nur noch 74 als demokratisch zu beurteilen, jedoch 63 autokratisch. Besonders besorgniserregend ist demnach, dass Einschränkungen der Freiheitsrechte und der Rechtsstaatlichkeit auch in ehemals stabilen Demokratien vorangetrieben worden sind.
In der Zwischenzeit hat Viktor Orbán angekündigt, dass die Sonderbefugnisse aufgrund des Ermächtigungsgesetzes voraussichtlich im Juni wieder zu Ende gehen sollen. Sein Ziel hat er erneut erreicht und die Grenze des Erlaubten einmal mehr gedehnt.
Für EU-Institutionen, Organisationen, Parteien sowie Einzelpersonen, die sich demokratischen Grundwerten verpflichtet sehen, müssen diese Entwicklungen ein absolutes Alarmzeichen sein. Ein entschiedenes Auftreten gegen diese Entwicklungen ist nun sehr rasch nötig. Andernfalls ist ein System zu befürchten, in dem autoritäre Regime eine Mehrheit in der Europäischen Union stellen könnten.