Stille Reserve – ungenütztes Arbeitskräftepotenzial von bis zu 155.000 Personen

20. Oktober 2022

Arbeitslosigkeit wird in Österreich, aber auch international unterschätzt. Ein beachtlicher Teil an erwerbslosen Menschen, die arbeiten wollen, aber nicht auf der Suche sind, zählen zur sogenannten „Stillen Reserve“. Dieser Gruppe gehören in Österreich zwischen 100.000 und 155.000 Personen an. Würden sie in die Arbeitslosenquote miteingerechnet werden, stiege diese um bis zu 3,2 Prozentpunkte. Ein Verständnis der Struktur und der Eigenschaften der Stillen Reserve ist notwendig, um wirksame arbeitsmarktpolitische Maßnahmen setzen und ihr enormes Potenzial in Zeiten eines angeblichen „Fachkräftemangels“ nutzen zu können.

Größe und Relevanz der Stillen Reserve

Im Zeitraum von 2016 bis 2020 gehörten in Österreich zwischen 100.000 und 155.000 Personen der Stillen Reserve an. (siehe dazu „Die Stille Reserve in Österreich – ein ungenütztes Arbeitskräftepotenzial“). Dies entspricht durchschnittlich 2,1 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. Die Stille Reserve steht in einem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung und der Arbeitslosenquote: Sinkt das Wirtschaftswachstum, steigen sowohl die Arbeitslosigkeit wie auch die Stille Reserve. So sank die Stille Reserve 2018 und 2019 im wirtschaftlichen Aufschwung und stieg während der Corona-Pandemie stark an. Würde sie in die Arbeitslosenquote miteinfließen, läge diese je nach Konjunktur um ca. 2 bis 3,2 Prozentpunkte höher:

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Struktur der Stillen Reserve

Die Gruppe der Betroffenen ist sehr unterschiedlich. Folgende Cluster mit ähnlichen sozialstrukturellen Merkmalen können gebildet werden:

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Die Hälfte der Stillen Reserve ist weiblich, mehr als ein Drittel gehört der ersten Zuwanderungsgeneration an, und es besteht eine leichte Konzentration auf unter 30-Jährige. Hinsichtlich des Ausbildungsniveaus sind alle Bildungsabschlüsse vorhanden, wobei die größte Gruppe über maximal einen Pflichtschulabschluss verfügt. Dahinter kommen jene mit Lehre und Matura. Bei den zuletzt ausgeführten Berufen war der größte Teil mit knapp einem Viertel in Dienstleistungsberufen und im Verkauf tätig. Den zweitgrößten Teil mit ca. 16 Prozent stellen Hilfsarbeitskräfte dar. Dahinter folgen Handwerksberufe und technische Berufe. Auch hier variieren unterschiedliche Tätigkeiten sehr stark.

Die Stille Reserve als ungenütztes Arbeitskräftepotenzial

Die große Relevanz der Stillen Reserve wird spätestens klar, wenn der Frage nachgegangen wird, ob es aktuell passende offene Stellen für sie gäbe. Dazu wurde ein fiktives Matching zwischen offenen Stellen und Personen in der Stillen Reserve bzw. deren Eigenschaften durchgeführt. Passt eine offene Stelle mit den Eigenschaften von Personen in der Stillen Reserve überein, kommt es zu einem fiktiven Match. Demnach könnten je nach Jahr 65 bis 84 Prozent der offenen Stellen durch die Stille Reserve besetzt werden. Dieser hohe Anteil kann dadurch erklärt werden, dass viele offene Stellen Hilfstätigkeiten sind und viele Personen in der Stillen Reserve über eine geringe Qualifikation verfügen. Trotzdem finden nicht alle Personen der Stillen Reserve – auch nicht in wirtschaftlich guten Jahren – eine passende Stelle. Nur zwischen etwa einem Viertel bis zur Hälfte (26 bis 51 Prozent) der Personen aus der Stillen Reserve, kann durch das fiktive Matching eine offene Stelle zugeordnet werden. In wirtschaftlich guten Zeiten mit vielen offenen Stellen und weniger Personen in der Stillen Reserve ist dieser Prozentsatz höher.

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Fazit: Politik und AMS müssen Stille Reserve als Zielgruppe adressieren

Die Analyse zeigt insgesamt, dass die Stille Reserve eine noch weitgehend vernachlässigte, aber relevante arbeitsmarktpolitische Größe darstellt. Ohne ihre Betrachtung wird die Arbeitslosigkeit deutlich unterschätzt. Durch ihre Einbeziehung ergibt sich daher ein „realistischeres“ Bild von Arbeitslosigkeit und Erwerbstätigkeit. Zudem könnte durch die Stille Reserve angebotsseitig ein großer Teil der offenen Stellen besetzt werden. Dies ist besonders in Hinblick auf aktuelle Diskussionen zu einem angeblichen „Fachkräftemangel“ relevant. Anstatt noch mehr Druck auf bereits Arbeitssuchende auszuüben, müssen die enormen Potenziale der Stillen Reserve erkannt und genutzt werden. Dazu müssen Politik und das AMS die Stille Reserve als Zielgruppe adressieren und aktiv auf Betroffene zugehen. Insgesamt zeigt sich vor allem, dass das Arbeitskräftepotenzial auch bei einer scheinbar niedrigen Arbeitslosenquote nicht ausgeschöpft ist. Auch in wirtschaftlich guten Zeiten braucht es eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die nicht auf Druck und Sanktionen, sondern Ermutigung und Unterstützung setzt.

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