Krisenbildung: Ist unsere Arbeitsmarktpolitik zeitgemäß?

10. Juni 2021

Bilde dich weiter, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen! So lautet ein Slogan der herrschenden aktiven Arbeitsmarktpolitik. Zwingt uns die Corona-Krise, die Prioritäten im Kampf gegen Arbeitslosigkeit zu überdenken?

Die Corona-Krise hat einige Annahmen über die Entwicklung des Arbeitsmarktes infrage gestellt. Prägte die Sorge um eine Verdrängung menschlicher Arbeit durch Roboter, Computer und Automatisierung die Debatte über die Zukunft der Arbeit in den letzten Jahren, so erscheinen seit Beginn der pandemischen Zeitrechnung neue Technologien eher als ein Rettungsanker menschlicher Arbeit. Nur dankTelekommunikation, Online-Lösungen und einer um sich greifenden „virtuellen Normalität“ konnten viele ihrem Beruf überhaupt nachgehen, besonders jene mit Bürojobs.

Wer ist vor Jobverlusten sicher?

Vom Arbeitsmarkt verdrängt mussten sich paradoxerweise jene fühlen, die körpernahe und kreative Dienstleistungen verrichten: Menschen also, deren Erwerbstätigkeit nicht computerisierbar ist und daher eigentlich als besonders sicher gegolten hatte. Denn selbst intelligente Maschinen können interpersonelle Dienstleistungen wie Physiotherapie, Sportpädagogik oder gastronomische Services bisher nicht ersetzen. Beschäftigte in gerade diesen Branchen traf die Krise direkt. Gleichzeitig erfuhren Basisdienstleistungen wie etwa Handel oder Pflege eine gesellschaftliche Aufwertung, die mit dem Diskurs einer Überwindung von „Routinearbeit“ schlecht harmoniert. Diese Tätigkeiten behielten auch im Zeitalter intelligenter Maschinen einen unverzichtbaren, systemerhaltenden Charakter.

Das Mantra der Weiterqualifizierung

Was bedeuten diese Entwicklungen für die Arbeitsmarktpolitik? Die Forderung nach Weiterqualifizierung gehört zum Standardrepertoire fast aller politischen Akteure, die sich mit der Zukunft der Arbeit befassen. Wer sich für Tätigkeiten ausbilden lässt, die Maschinen nicht übernehmen können, dem sei eine rege Nachfrage am Arbeitsmarkt garantiert – so die Prämisse dahinter. Diese Prämisse ist nicht ganz falsch. Aber: Die aktuelle Pandemie zeigt, dass ein funktionierender Arbeitsmarkt mit vielen Voraussetzungen und Risiken verbunden ist, die über das oft strapazierte „Wettrennen gegen die Maschine“ hinausgehen.

Wettrennen gegen die Krisen

Die Sorge über technologischen Wandel am Arbeitsmarkt begleitet die Gesellschaften des Westens seit Beginn der industriellen Revolution. Ein Blick in die Statistik zeigt allerdings, dass Arbeitslosigkeit stark durch Konjunkturzyklen und Krisenereignisse getrieben wird. Wenn es in den letzten Jahrzehnten größere Probleme am Arbeitsmarkt gab, war der Auslöser immer eine Rezession, sei es aufgrund einer Banken-, Währungs-, Schulden-, Öl- oder eben Corona-Krise. Empirisch gesehen bleiben Disruptionen des Arbeitsmarktes auch in Zukunft viel eher von wirtschaftlichen, politischen, gesundheitlichen und absehbar auch ökologischen Krisen zu erwarten als von der voranschreitenden Digitalisierung. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass eine breit angelegte Strategie der Krisenerkennung und -prävention sowie der sozialen Absicherung gegen Krisen mindestens so wichtig ist wie der ständige Ruf nach Skills, Skills, Skills.

Schönwetterprogramm

Die Pandemie zeigte ferner, dass auch Tätigkeiten in Bereichen wie Einzelhandel, Transport, Pflege oder Kinderbetreuung, die keine MINT-Abschlüsse verlangen, weiterhin hohe Relevanz behalten. Und sie lieferte letztlich den Nachweis, dass tiefgreifende staatliche Interventionen (von Kurzarbeit bis zu Notverstaatlichungen) im Ernstfall politisch legitim bleiben. Eine Reduktion der Arbeitsmarktpolitik auf die individualisierende Einladung „Bilde dich weiter, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen“ erscheint vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wie ein nicht mehr ganz zeitgemäßes Schönwetterprogramm – sowohl angesichts der aktuellen Corona-Krise, aber wohl auch mit Blick auf die Zukunft.

Dieser Beitrag basiert auf einem ausführlicheren Artikel im Sammelband „Ein Jahr Corona: Ausblick Zukunft der Arbeit“ der Reihe „Sozialpolitik in Diskussion“ der AK Wien.