Die Corona-Pandemie hat die schon länger bestehenden Krisentendenzen in der Pflege und im Gesundheits- und Sozialwesen aufgezeigt wie auch verschärft. Aber auch im Bereich familiärer Sorgebeziehungen ließ die Pandemie die tiefgreifenden Überlastungen ungleich verteilter Verantwortung erkennen. Dieser Beitrag geht den Ursachen einer sich zuspitzenden Care-Krise auf den Grund und lotet Wegweiser für einen nachhaltigen Umbau gesellschaftlicher Care-Strukturen aus.
Schon lange wird in Österreich auf eine längst überfällige Pflegereform gewartet, inklusive einer Verbesserung der Bezahlung und der Arbeitsbedingungen im Pflegesektor und einer Entlastung pflegender Angehöriger. Der Rechnungshof Österreich hält fest, dass sowohl ein nachhaltiges Finanzierungssystem wie auch ein einheitliches Verständnis von Qualität derzeit fehlt. Bereits vor der Pandemie forderte die Arbeiterkammer eine Erhöhung des Personals in den Pflegeheimen um 20 Prozent, um dem Personalnotstand entgegenzuwirken. Laut den jüngsten Berechnungen des Sozialministeriums werden bis 2030 rund 76.000 zusätzliche Personen in der Pflege benötigt. Aufgrund der hohen Belastungen im Zuge der Corona-Pandemie hat sich die Zahl der Pflege- und Betreuungskräfte, die daran denken, den Beruf zu wechseln, massiv erhöht. Einer aktuellen Studie zufolge denken 45 Prozent der Gesundheits- und Krankenpfleger:innen immer wieder daran aufzuhören. Bereits vor der Pandemie war auch klar, dass gerade viele junge Menschen, die einen Pflegeberuf wählen, schnell zu dem Entschluss kommen, dass sie bei den Arbeitsbedingungen, die sie vorfinden, und dem Personalmangel, der ständig kompensiert werden muss, nicht bleiben wollen. Der Zeitdruck unter dem viele Pflegepersonen stehen, drückt sich auch darin aus, dass in Befragungen der Wunsch geäußert wird, vor allem mehr Zeit für Kommunikation und soziale Betreuung zu haben. In den Medien wird vielerorts bereits vom „Pflexit“ gesprochen, um die Fluchtbewegung aus dem Pflegeberuf zu betiteln.
Wen sorgt es, wer sorgt?
Derweil wird versucht, die Betreuungskrise im häuslichen Bereich über niedrig entlohnte, prekäre migrantische Arbeitskräfte aus benachbarten osteuropäischen Ländern zu beheben. In der sozialen Stellung der 24-Stunden-Betreuer:innen verbinden sich die gesellschaftliche Abwertung von Sorgetätigkeiten und die strukturelle Diskriminierung migrantischer Arbeitskräfte. Der österreichische Interessenverband der 24-Stunden-Betreuer:innen IG-24 fordert eine dringende Verbesserung von Arbeitsbedingungen und Beschäftigungsverhältnissen. Auch den Elementarpädagog:innen in österreichischen Kinderbetreuungseinrichtungen fehlen die Ressourcen für eine gute Betreuung. Ende März 2022 gingen Angestellte der Wiener Privatkindergärten in den Streik, um Gruppenverkleinerungen, Aufstockung des Personals sowie bezahlte Vor- und Nachbereitungszeit und Reflexionszeit zu fordern.
Es kann oft ein ziemlicher Kraftakt sein, die alltäglichen Anforderungen der Lohnarbeit, Kinderbetreuung, Hausarbeit sowie die Unterstützung von Angehörigen unter einen Hut zu bekommen. Dass dabei auch noch „Zeit für sich“ bleiben soll, ist Wunschvorstellung. In der Umstellung auf Homeoffice und Homeschooling wurde in der Pandemie bestätigt, was Betroffene schon wussten: die Verantwortung für das Sorgen ist nach wie vor weiblich konnotiert. Gleichzeitig sind Menschen, die Sorgearbeit verrichten, oftmals stärker armutsgefährdet. Das betrifft vor allem Alleinerziehende und Angehörigenpflegende. Verbreitet sind immer noch weibliche „Care-Penalties“. Das sind Verdienstausfälle wegen Kinder- oder Angehörigenbetreuung oder auch der Beschäftigung in niedrig entlohnten Sektoren wie Pflege, Gesundheits- oder Sozialwesen.
Care-Systeme im Dauerkrisen-Modus
Steigender Pflegebedarf, reduzierte Pflegefinanzierung und Zeitmangel, um für sich selbst und füreinander zu sorgen, sind alles Phänomene, die wir als „Care-Krise“ zusammenfassen können. Im Englischen beinhaltet der Begriff „Care“ sowohl Tätigkeiten des Sorgens, Betreuens und Unterstützens wie auch die des Pflegens. Der Begriff umspannt also die bezahlten und professionalisierten wie auch die unbezahlten und im Haushalt oder auch in der Nachbarschaft stattfindenden Tätigkeiten. Beide Bereiche müssen wir im Blick haben – auch im Verhältnis zueinander –, um gegenwärtige Herausforderungen anzugehen. Dabei ist es wichtig zu erkennen, wie eine Verschiebung von Sorgeverantwortung in die Privatsphäre immer wieder dazu dient, Sorgetätigkeiten unsichtbar zu machen und sie abzuwerten. Es ist auch wichtig zu erkennen, dass gerade in den Berufen, in denen die Verantwortung für die Versorgung, die Gesundheit und das Wohlergehen anderer Menschen zentral ist, Beschäftigte oftmals trotz schlechter Arbeitsbedingungen und knapper Ressourcen weiter arbeiten oder Überstunden machen. Sie tun das, eben weil sie die Menschen, für die sie sorgen, nicht im Stich lassen wollen. Werden solche Umstände zur Routine, werden Gefühle instrumentalisiert, um unterfinanzierte Systeme im Krisenmodus aufrechtzuerhalten.
Zusammengefasst haben wir es bei einer Care-Krise mit einer Erschöpfung gesellschaftlicher Ressourcen zu tun, auf welche wir für die Reproduktion unseres Lebens angewiesen sind. Um Care-Krisen zu verstehen, müssen wir zwei Seiten beleuchten. Einerseits müssen wir uns ansehen, wie es um den Zugang zu ausreichender Versorgung, Pflege und Betreuung bestellt ist. Hier geht es um die Perspektive der Rezipient:innen. Genauso aber müssen wir die Bedingungen im Blick haben, unter denen Menschen bezahlte und unbezahlte Pflege und Betreuung leisten. Hier geht es also um die Perspektive der sorgenden oder pflegenden Personen. Diese Beidseitigkeit in der Perspektive soll nicht zuletzt davor schützen, dass die eine oder andere Seite vergessen oder dass diese Gruppen gegeneinander ausgespielt werden, gerade in politischen Aushandlungen um Ressourcenverteilung.
Warum sich die Care-Krise weiter zuspitzt
Es gibt strukturelle Gründe, warum sich die Care-Krise gerade verschärft. Hier verzeichnen wir einige allgemeine Trends. Seit den siebziger Jahren hat die weibliche Erwerbsbeteiligung zugenommen, ohne dass sich die geschlechtliche Arbeitsteilung wirklich grundlegend geändert hätte. Gleichzeitig sind Lohnquoten gesunken, sodass viele Haushalte mit Kindern zwei Einkommen benötigen, um über die Runden zu kommen. Das bedeutet auch, dass mehr Lohnarbeit geleistet werden muss, was gleichzeitig Zeit für Sorge-, Betreuungs- und Hausarbeit einschränkt. Im Zuge der Globalisierung und Finanzialisierung hat es sowohl ein geringeres Wirtschaftswachstum als auch eine Verschiebung der Verhandlungsmacht und der wirtschaftlichen Erträge von Arbeit zu Kapital gegeben. Letzteres zeigt sich in regressiven Steuerpolitiken, wie beispielsweise der Senkung der Körperschaftsteuer oder der Anhebungen der Mehrwertsteuer (Umsatzsteuer). Einsparungen in sozialen Sicherungssystemen und Kürzungen der sozialstaatlichen Leistungen bei gleichzeitiger Privatisierung und Kommerzialisierung der Daseinsvorsorge haben zur Folge, dass sich wohlhabendere Haushalte vermarktlichte Dienstleistungen leisten können, dabei aber die Arbeit auf andere, oft schlecht bezahlte prekäre Arbeitskräfte abwälzen. All diejenigen, die aber nicht wohlhabend genug sind, das zu tun, müssen die Arbeit selbst verrichten oder darauf verzichten. All dies wird durch eine Politik der persönlichen, individuellen Verantwortung unterstrichen, befördert vom Ausbau der Märkte im Bereich der Selbstsorge. Zudem bedeutet eine Orientierung auf Kosteneffizienz und Gewinn, dass Löhne und Arbeitsbedingungen unter Druck kommen, weil die arbeits- und zeitintensiven Arbeitsprozesse in der Pflege nur in geringem Maß ökonomisch rationalisierbar sind. Darüber hinaus bedeutet die überaus erfreuliche Tatsache, dass die Lebenserwartung gestiegen ist, aber auch, dass bei einer veränderten Altersstruktur der Gesellschaft, zu der auch sinkende Geburtenraten gehören, auch die Kosten für Alterssicherung und das Ausmaß an Pflegebedarf steigen.
Die Situation in Österreich
In meinem Buch „The Care Crisis“ habe ich die Situation in Großbritannien untersucht, wo die oben genannten Entwicklungen noch viel tiefgreifender sind und bereits zu erschreckenden Versorgungsdefiziten geführt haben. Aber auch in Österreich hat es einen Liberalisierungskurs und einen Umbau des Sozialstaats gegeben. Die Verlängerung der zulässigen Arbeitszeit auf zwölf Stunden am Tag oder auch Einschnitte in der Mindestsicherung sind Beispiele hierfür. Obwohl die in den neunziger Jahren eingeführten, steuerfinanzierten Pflegegeldleistungen in den letzten Jahren mehrfach erhöht worden sind, werden Pflegebedürftige in Österreich hauptsächlich von weiblichen Angehörigen zu Hause betreut. Auch hat es einige progressive familienpolitische Entwicklungen gegeben, die eine gerechtere Verteilung der Betreuungstätigkeiten zwischen Eltern wie auch ihrer Erwerbsbeteiligung fördern. Dennoch ist in Österreich der Gender-Pay-Gap und die weibliche Teilzeitbeschäftigung im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sehr hoch. Allerdings ist die öffentliche Daseinsvorsorge inklusive Pflegedienstleistungen und des Gesundheitssystems nicht in dem Ausmaß privatisiert und an Wettbewerbslogiken ausgerichtet worden wie im angelsächsischen Raum. Zum Beispiel ist es in manchen Bundesländern so, dass Pflegeeinrichtungen nicht gewinn-orientiert wirtschaften dürfen, wenn sie staatliche Förderungen beziehen. Trotzdem hat es einen Anstieg privater Anbieter gegeben, und auch in öffentlichen Einrichtungen dominiert vielfach die Maxime der Kosteneffizienz aufgrund von Kostendruck.
Für ein nachhaltiges Umdenken
Im Zuge der Corona-Pandemie und der Maßnahmen zu ihrer Eindämmung, die höhere Staatsausgaben erfordert haben, steht wieder die Frage im Raum, ob nicht eine Austeritätspolitik in den kommenden Jahren verfolgt werden muss. Eine progressive Alternative dazu wäre, verstärkt über den Ausbau einer steuerfinanzierten öffentlichen Infrastruktur zu diskutieren und über eine Umverteilungspolitik, die sowohl höhere Körperschaftsteuern wie auch Vermögensbesteuerung in Erwägung zieht. Denn zur Bewältigung der Care-Krise braucht es einen Abbau sozialer Ungleichheit und einen Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge sowie eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Beschäftigungsverhältnisse. Dennoch geht es nicht darum, die Sorge füreinander gänzlich zu verstaatlichen oder zu professionalisieren. Zudem kann im Zuge von Klimawandel und ökologischen Grenzen nicht allein auf einen durch Wirtschaftswachstum finanzierten Wohlfahrtsstaat gesetzt werden. Deswegen braucht es auch ein nachhaltiges Umdenken: Arbeitszeitverkürzung und Zeitwohlstand, Public-Commons-Partnerschaften, d. h. Partnerschaften zwischen öffentlichen Einrichtungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen mit neuen Eigentumsformen, sowie die innovative Integration von Care in den Alltag. Hier geht es darum, neue Möglichkeiten des solidarischen Zusammenlebens jenseits einer privatisierten Sorgeverantwortung auszuloten. Dabei sind Forderungen für ein anderes Wirtschaften wie auch Visionen für ein gutes Leben für alle in gleichem Maße gefragt.