Kapitalmarktunion: Antwort auf die Investitionsschwäche oder Rückkehr zur Kultur der organisierten Verantwortungslosigkeit?

11. April 2016

Anstatt die nachfragegetriebene Investitionsschwäche an der Wurzel zu packen und die Wirtschaftspolitik wenn schon nicht neu auszurichten, so doch zu reformieren, setzt die EU auf die „Segnungen“ dessen, was die letzten dreißig Jahre das große Leitthema war: (Neo-)Liberalisierung des Binnenmarktes. Anstatt fehlende öffentliche Investitionen in Bildung und Infrastruktur durch eine goldene Investitionsregel zu ermöglichen, ist die Union im Rahmen der sogenannten „Kapitalmarktunion“ nun fest entschlossen, die Investitionen ausgerechnet mit jenen Kapitalmarktinstrumenten wiederzubeleben, die nicht unerheblich zum Entstehen der Krise beigetragen haben – den Kreditverbriefungen. Statt weiterer Finanzmarktliberalisierung, Abbau von ArbeitnehmerInnenrechten und Austeritätspolitik ist eine wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik zur Stärkung der Nachfrage in Europa voranzutreiben.

Die sogenannte Kapitalmarktunion ist spätestens seit dem Bericht „Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden der „5 Präsidenten“ (Kommissionspräsident Jean Claude Juncker, Präsident der Europäischen Rates Donald Tusk, Präsident der Euro-Gruppe Jeroen Dijsselbloem, EZB-Präsident Mario Draghi und Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz) in aller Munde. Sie sollte eine der Antwort auf die Investitionsschwäche in Europa sein. Konkretisiert wurde sie vergangenen September mit einem „Aktionsplan“. Darin wird genau auf jene angebotsseitigen Maßnahmen gesetzt, die wesentlich zur Entstehung der Finanzkrise beigetragen haben: Die Verbriefung und Verpackung von Kreditinstrumenten.

Investitionsförderung durch „Verschwinden-Lassen“ des KMU-Kreditrisikos auf den „Märkten?

Neu ist, dass nun insbesondere auf Kredite an Klein- und Mittelbetriebe (KMU) gesetzt wird. Gemäß dem „originate and distribute“ Modell soll es kreditgebende Institutionen ermöglicht werden, ausstehende Kredite zu bündeln und weiterzuverkaufen. Dadurch besteht bei der Kreditvergabe kaum mehr ein Anreiz, das Risiko adäquat zu prüfen, weil Kredite ja mit der Absicht vergeben werden, diese letztlich zu veräußern, und damit das Risiko aus der Bilanz der kreditvergebenden Institution „verschwinden“ zu lassen. Am „Markt“ – oder meist in Bilanzen anderer Banken – bleibt das Risiko aber weiter bestehen und wird zunehmend unkalkulierbar. Die dem Zusammenbruch von Lehman Brothers folgende Vertrauenskrise war Ausdruck dessen, dass kein Institut dem anderen Kredit geben wollte, weil nicht bekannt war, welche Risiken über die verbrieften Kreditpakete in den Bilanzen „schlummerten“.

Ein Verbriefung von KMU-Krediten ist aber auch aus rein praktischen Gründen fraglich: Wer soll AnsprechpartnerIn für die KreditnehmerInnen sein, wenn es zu vorübergehenden Liquiditätsengpässen kommen sollte? Eine Hausbank hat meist genügend Informationen über KreditnehmerInnen, um zu beurteilen, ob es sich um ein kurzfristiges Liquiditätsproblem oder um ein Solvenzproblem handelt. Und eine solche Bank ist meist auch flexibel genug, entsprechend darauf zu reagieren. Bei verbrieften Kreditpaketen ist dies nicht der Fall.

AnlegerInnen verfügen aber nicht nur nicht über gleich gute Information über KMU wie Banken, sondern haben auch weniger Möglichkeiten, das Risiko zu kontrollieren. Darüber hinaus stellt sich die Frage der Preisbildung für solche Instrumente, für die nicht genügend Liquidität beim Handel besteht. In einer solchen Situation verlässt man sich dann eher auf Ratings, was uns direkt zur „Kultur der organisierten Verantwortungslosigkeit“ führt.

Es könnte sich fast der Verdacht aufdrängen, dass der eigentlich Zweck der Übung darin besteht, jenen Finanzdienstleistern in der Londoner City wieder mehr Geschäft zuzutreiben, deren Geschäftsfelder seit der Krise ausgetrocknet sind.

Kapitalmarktunion – am eigentlichen Investitionsproblem vorbei

Wäre dem Aktionsplan eine Analyse der Investitionsschwäche vorangegangen, hätten sie sich einerseits mit der durch europäische Spar- und Wettbewerbspolitik induzierte Nachfrageschwäche beschäftigen müssen. Andererseits hätte man auf die Berichte zu den Finanzierungsbedingungen der Unternehmen des Europäischen Zentralbanksystems zurückgreifen können. Auch die Befragungen der Unternehmen stützten klar die makroökonomische Evidenz, dass es sich bei der Investitionsschwäche der europäischen Wirtschaft vorrangig um ein Nachfrageproblem handelt. So zeigt sich seit einigen Quartalen, dass das Problem neue Kunden zu finden nicht nur am öftesten angegeben wird, sondern auch jenes ist, das am stärksten zunimmt. Demgegenüber werden von den Unternehmen selbst Finanzierungsprobleme nicht nur geringer eingestuft, sondern verlieren auch an Dringlichkeit – und das über alle Unternehmensgrößen und über die gesamte Union hinweg (mit Ausnahme Griechenlands).

Zusätzlich hat sich die Finanzierungslücke, also die Gegenüberstellung des abgefragten Bedarf an externen Finanzmitteln und des Zugangs zu Finanzmitteln, geschlossen – auch in jenen Ländern, die besonders von der Krise betroffen waren oder sind (wieder mit der Ausnahme Griechenlands). Jene Gründe, bei denen noch ein Problem beim Zugang zu externen Finanzmitteln gesehen wird, sind der allgemeine wirtschaftliche Ausblick sowie der Zugang zu öffentlichen Mitteln (S19 f). Somit lässt sich das Hauptproblem der Investitionsschwäche – der restriktive makroökonomische Kurs in der Union – auch deutlich an den Umfrageergebnissen der Unternehmen erkennen.

Österreich: Investitionen aus Rücklagen leicht finanzierbar

Auch wenn man die Ausstattung der heimischen Unternehmen und ihre Finanzierung betrachtet, deutet einiges darauf hin, dass die Investitionsschwäche eher auf der Nachfrageseite zu suchen ist als beim Zugang zu Finanzmitteln. So verfügen die heimischen Unternehmen der Realwirtschaft (nichtfinanzielle Unternehmen) seit 2007 über mehr Einlagen, als sie durchschnittlich in einem Jahr für Bruttoanlageninvestitionen ausgeben.

Kapitalmarktunion, Eigenmittelfinanzierung © A&W Blog
Quelle: OeNB, gesamtwirtschaftliche Finanzierungsrechnung; Statistik Austria, Sektorkonten. © A&W Blog
Quelle: OeNB, gesamtwirtschaftliche Finanzierungsrechnung; Statistik Austria, Sektorkonten.

Zuletzt (4. Quartal 2015) erreichten die Einlagen 132% der Bruttoanlageninvestitionen. Anders ausgedrückt würden die Einlagen der nichtfinanziellen Unternehmen zur Finanzierungen der Investitionen von mehr als 5 Quartalen reichen. Im Zeitraum 1996-2006 lagen die Einlagen noch bei rund 85% der Bruttoanlageninvestitionen.

Grundsätzlich werden Investitionen aus dem Cash Flow der Unternehmen (Ertragskraft) und externen Finanzierungsquellen (begebenes Eigenkapital wie Aktien oder andere Beteiligungen oder langfristige Fremdkapitalinstrumente wie Kredite oder Anleihen) finanziert. Die Argumentation für die Schaffung einer Kapitalmarktunion fußt dabei wesentlich auf der Annahme, dass externe Finanzierungsinstrumente wesentlich die Investitionen tragen. Bei der Betrachtung der Investitionsquote der Realwirtschafft (Bruttoanlageinvestitionen der nicht-finanziellen Unternehmen in Prozent des BIP) im Vergleich zu den Finanzierungsbeiträgen externer Finanzierungsinstrumente lässt sich ein solcher Zusammenhang jedoch kaum ablesen:

Finanzierungsbeiträge Finanzinstrumente © A&W Blog
Quelle: OeNB, gesamtwirtschaftliche Finanzierungsrechnung; Statistik Austria, Sektorkonten (2015 auf Basis der Quartalsrechnung). © A&W Blog
Quelle: OeNB, gesamtwirtschaftliche Finanzierungsrechnung; Statistik Austria, Sektorkonten (2015 auf Basis der Quartalsrechnung).

Insgesamt hat die Bedeutung externer Finanzierungsquellen – egal ob Eigenkapital oder Fremdkapitalinstrumente sehr deutlich abgenommen. Auffällig ist auch, dass die Bruttoanlageninvestitionen bereits vor der Krise ihre rückläufige Tendenz begonnen haben, während die externen Finanzierungsbeiträge noch zum Teil gestiegen sind. Die Unternehmen finanzieren tendenziell ihre Investitionen schon seit geraumer Zeit (mit Ausnahme der Jahre 2005 – 2007, also unmittelbar vor dem Ausbruch der Krise) zunehmend aus dem Cash Flow, dieser Trend hat sich seit der Krise noch verstärkt. Dabei fällt besonders auf, dass die Finanzierung über die Börse, sei es über Aktien oder Anleihen, für die Finanzierung eine eher untergeordnete Rolle spielt. Bei Ausreißern nach oben handelt es sich meist um Transaktionen aus Privatisierungen (zB 2006: Post), die aber, wenn sie später durch die Art der Privatisierung wieder vom Kurszettel verschwinden, diesen Anteil wieder drücken. Der Anteil der nicht-börsennotierten Aktien oder sonstige Anteilspapiere im Gegensatz zu den börsennotierten Papieren ist seit der Jahrtausendwende im Durchschnitt relativ konstant und übersteigt die Bedeutung der Kapitalbeschaffung über die Börse erheblich. Dies hat zum einen mit konzerninternen Kapitalflüssen zu tun und ist zum anderen Ausdruck der Struktur der heimischen Wirtschaft (Klein- und Mittelbetriebe, Familienunternehmen) und einer gewissen Scheu vor Transparenz.

Insgesamt zeigt sich, dass der realwirtschaftliche Sektor relativ rasch seinen Finanzierungssaldo „gedreht“ hat:

Eine Erklärung hierfür wird wohl am ehesten in den folgenden Ansätzen zu finden sein. Zum einen ist die Investitionsnachfrage, wie oben erwähnt wirtschaftspolitisch beschränkt (Konsolidierung der öffentlichen Haushalte). Die Ertragskraft der Unternehmen reicht aber aus, die Investitionen zunehmend aus dem Cash Flow zu finanzieren. Zum anderen verschieben sich die Investitionen weg von Bruttoanlageinvestitionen hin zu Finanzinvestitionen (Finanzialsierung der Wirtschaft). So wandelte sich der realwirtschaftliche Sektor seit Mitte der 1990er Jahre von seiner „normalen“ Rolle als Nettokreditnehmer zum Nettokreditgeber in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre. Seither hat der Sektor eine mehr oder minder ausgeglichene Finanzierungsbilanz, ist also weiter vom „Normalzustand“ als Nettokreditnehmer entfernt.

Investitionen erfordern eine auf Nachfragestärkung abzielende Wirtschaftspolitik

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich auf makroökonomischer Ebene genug empirische Evidenz findet, dass die Wachstums- und Investitionsschwäche nach der Krise in der Europäischen Union kein vorrangig angebotsseitiges Problem der Wettbewerbsfähigkeit darstellt. Evidenz auf der meso- und mikroökonomischer Ebene (siehe Umfrage bei Unternehmen über den Zugang zu Finanzmitteln und finanzielle Ausstattung der Unternehmen) unterstreicht dieses Ergebnis. Vieles deutet auf mangelnde Nachfrage und hohe Unsicherheit als größtes Hemmnis für Investitionen hin.

Das zeigt sich auch im Vergleich zu den USA: In ihrer Krisenbewältigung ging die dortige Politik einen ebenfalls bestimmten, aber gesamtwirtschaftlich angemesseneren Weg bei der Budgetkonsolidierung und konnte so ein nochmaliges Absacken der Wirtschaft nach der Erholungsphase 2010/11 vermeiden.

Demgegenüber bestehen die Institutionen der EU auf Erfüllung der selbst auferlegten Budgetregeln. Zusätzlich wird durch eine asymmetrische und unausgewogene Anpassung der Leistungsbilanzüberschüsse vor allem auf angebotsseitige Strukturreformen insbesondere am Arbeitsmarkt abgezielt. Ignoriert wird die Tatsache, dass der Außenhandel der Union nur einen Bruchteil der Gesamtnachfrage in der Union ausmacht und innerhalb der Union der Überschuss des Einen ein Defizit des Anderen bedeutet. Wird dieses Ungleichgewicht nicht symmetrisch gelöst (also im Überschussland für mehr Nachfrage gesorgt), geht es – ebenso wie der Budgetpfad – nur in Richtung weiterer Dämpfung der Nachfrage – und damit eben auch von Investitionen, Wachstum und Beschäftigung.

Wenn die europäischen Institutionen ihre Energie in fast aktionistisch anmutende Vorschlägen stecken, drohen diese Institutionen zum Totengräber der Europäischen Idee zu werden. Statt mit der rein angebotsseitigen Ausrichtung wie mit dem Aktionsplan für eine Kapitalmarktunion sollte sie daran arbeiten, die öffentlichen Investitionen zu stärken und die Nachfrageschwäche zu überwinden. Überkommen geglaubte Finanzmarktpraktiken, die nicht unwesentlich zur Entstehung der Finanzmarktkrise beigetragen haben, sind dafür jedenfalls abkömmlich.