Zukunftsfähiger Wirtschaftsjournalismus? – Journalistische Vielfalt braucht eine plurale Ökonomik

02. August 2021

Im deutschsprachigen Raum laufen seit einigen Jahren Debatten zur Vielfalt in der medialen wirtschaftspolitischen Berichterstattung und zu mehr Pluralität in den Wirtschaftswissenschaften. Die Studie „Qualifiziert für die Zukunft?“ hat diese Debatten nun zusammengeführt. Kernergebnis: Vor allem ökonomische Grundlagenveranstaltungen sind stark „orthodox“ ausgerichtet und prägen nicht nur Ökonomie-Studierende, sondern auch zukünftige Journalist:innen – und damit diejenigen, die als „Gatekeeper“ für ökonomische Theorien und Perspektiven die mediale Berichterstattung verantworten.

Vielfältiger Wirtschaftsjournalismus: Anspruch wird nicht eingelöst

Ob der nachhaltige Umbau der Wirtschaft im Zuge der Klimakrise, Armut oder Ungleichheit – wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Fragen berühren zentrale gesellschaftliche Themenfelder. Wirtschaftspolitischer Journalismus steht angesichts einer krisenhaften und komplexen Welt vor großen Herausforderungen: Ökonomische Inhalte müssen für ein breites Publikum verständlich, vielfältig und multiperspektivisch aufbereitet werden. Denn Journalismus trägt mit kontroversen und kritischen Sichtweisen zur politischen Willensbildung der Bürger:innen und damit zu einer lebendigen Demokratie bei. Aktuelle Forschungen zeigen jedoch, dass der Anspruch nach Vielfalt im Wirtschaftsjournalismus häufig nicht eingelöst wird. Es gibt in den Wirtschaftswissenschaften ein breites Spektrum an Theorieschulen und Forschungsschwerpunkten. Die mediale Berichterstattung bildet diese Vielfalt aber kaum ab, sondern orientiert sich überwiegend an einem ökonomischen Mainstream – und ist damit auch wirtschaftspolitisch einseitig gefärbt.

Krisenblindheit und politische Färbung

Während etwa im Zuge der Finanzkrise 2007/08 die Katastrophe schon in vollem Gange war, wurde in weiten Teilen der medialen Berichterstattung Beruhigungsrhetorik erzeugt und – ganz im Sinne der „orthodoxen“ neoklassischen Theorieströmung – die Krise eher als „externer Schock“ interpretiert, wie Diskursanalysen später zeigten. Dabei gab es zahlreiche eindringliche Warnungen von „heterodoxen“ Ökonom:innen, teilweise bereits Jahre vorher, die jedoch fachwissenschaftlich wie medial wenig Beachtung fanden. Erst jüngst zeigte eine Studie um eine Vermögens- und Erbschaftssteuer mit dem Fokus Deutschland, dass diese Themen kaum medial debattiert werden und die vermittelte Perspektive zentral von der jeweiligen redaktionellen politischen Ausrichtung abhängt – die meist Argumente gegen Umverteilung favorisiert und positive gesellschaftliche Wirkungen solcher Reformen ausblendet. Eine ähnlich gelagerte Studie gibt es für Österreich auch vom Momentum-Institut.

Gender-Bias: Frauen werden kaum zitiert

Doch nicht nur im Hinblick auf das Einfließen „pluraler“ ökonomischer Perspektiven in der wirtschaftsjournalistischen Berichterstattung sind deutliche Defizite zu konstatieren. So scheint es bei der medialen Zitierung eine Fokussierung auf wenige, prominente männliche Ökonomen zu geben. Ökonominnen kommen dabei fast gar nicht zu Wort: So finden sich im deutschen F.A.Z.-Ökonomen-Ranking in der Kategorie „Medien“ in den ersten 50 Rängen im Jahr 2019 nur zwei Frauen (Rang 17 und 27), im Jahr 2020 vier Frauen (Rang 30, 35, 36 und 50). Ähnliche Befunde zeigen sich auch für Österreich: So untersuchte eine Studie kürzlich, wie die zwei reichweitenstärksten Qualitätszeitungen („Die Presse“ und „Der Standard“) zwischen den Jahren 2002 und 2020 wirtschaftlichen „Wettbewerb“ thematisierten: Dabei zeigte sich, dass zwar die institutionellen Hintergründe der zitierten ökonomischen Expertise divers aufgestellt waren, aber Wettbewerb als Prinzip in der Wirtschaft grundsätzlich als alternativlos dargestellt und bei nur rund 6 Prozent auf Ökonominnen rekurriert wurde.

Economists4Future: Zukunftsfähige Lehre? Fehlanzeige!

Um diese Befunde zu verstehen, hilft ein Blick auf die Wirtschaftswissenschaften, in denen seit nun zwei Jahrzehnten eine teilweise hitzige Pluralismus-Debatte geführt wird, die immer noch hoch aktuell ist: Erst letztes Jahr veröffentlichten die deutschsprachigen Economists4Future anlässlich der Corona-Krise einen Aufruf zur Reform der ökonomischen Bildung, der von 45 Bildungs- und Forschungsinstitutionen unterstützt wurde – darunter etwa von der Wiener Arbeiterkammer, Attac Österreich und dem Linzer Forschungsinstitut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft. In dem Aufruf wird kritisiert, dass Hunderttausende Studierende im deutschsprachigen Raum vor allem in ökonomischen Grundlagenveranstaltungen Wirtschaft anhand von standardisierten Lehrbüchern vermittelt bekommen, die als wissenschaftlich überholt bezeichnet werden können. Es werde etwa einseitig behauptet, dass Wirtschaft von quasi-natürlichen Gesetzmäßigkeiten und nutzenmaximierenden Akteuren bestimmt werde. Die Studierenden würden auf diese Weise daran gehindert, so die eindringliche Kritik, „reale wirtschaftliche Probleme verstehen und bewältigen zu lernen – unter anderem jene, die im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie, systemischer Diskriminierung oder der anhaltenden Klimakrise stehen“. Ein Blick in die empirische Pluralismus-Forschung untermauert, wie dringend hier Handlungsbedarf besteht. Gleichzeitig sind auch positive Entwicklungen zu verzeichnen: So gibt es mittlerweile einige Studiengänge, die mit pluralem Anspruch und teilweise mit besonderen Schwerpunkten auf Nachhaltigkeit und Transformation an den Start gegangen sind. Für Österreich listet das Netzwerk Plurale Ökonomik jedoch lediglich zwei Master-Studiengänge auf.

Und der Wirtschaftsjournalismus?

Die Studie „Qualifiziert für die Zukunft?“ deutet darauf hin, dass die mangelnde Vielfalt der (wirtschafts-)journalistischen Berichterstattung in Zusammenhang mit der ökonomischen Hochschullehre steht: Zwar gibt es keinen einheitlichen Weg in den (Wirtschafts-)Journalismus. Die meisten absolvieren jedoch vor, während oder nach ihrer journalistischen Ausbildung ein wirtschaftswissenschaftliches Studium oder müssen ökonomische Grundlagenveranstaltungen in ihrem journalistischen Studium belegen. Bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (F.A.Z.), die für ihre umfangreiche Berichterstattung zu wirtschaftlichen Themen bekannt ist, haben beispielsweise über 70 Prozent der Wirtschaftsredakteur:innen Wirtschaftswissenschaften studiert, fast 40 Prozent sogar ausschließlich.

Die Studie untersuchte zudem über 300 Modulbeschreibungen aus 17 Studiengängen mit wirtschaftsjournalistischem Bezug in Deutschland im Hinblick auf ökonomische „Pluralität“. Dies waren teilweise wirtschaftsjournalistische Fachstudiengänge, teilweise wirtschaftswissenschaftliche Studiengänge, die angehende Wirtschaftsjournalist:innen neben ihrer Ausbildung absolvieren. Es wurde mittels „Text-Mining“ unter anderem analysiert, wie oft Schlagworte verwendet werden, die typisch für die neoklassische „Orthodoxie“ sind (z. B. „Homo oeconomicus“, „Maximierung“) oder typisch für „heterodoxe“ Strömungen etwa der (post-)keynesianischen, feministischen, Komplexitäts- oder Postwachstumsökonomik (z. B. „Regulierung“, „Pluralität“). Bei ein paar Studiengängen wurden recht wenige Treffer erzielt – dort sollten die Ergebnisse nicht überinterpretiert werden. Insgesamt zeigen sich jedoch deutliche Trends, die in die gleiche Richtung wie bereits frühere Studien deuten: So sind Wahlveranstaltungen tendenziell pluraler aufgestellt. Das heißt aber umgekehrt: Je verpflichtender und grundlegender, umso weniger plural ist die ökonomische Hochschullehre. Dabei sind die Grundlagenveranstaltungen besonders bedeutsam: Hier wird der erste Eindruck des wissenschaftlichen Blicks auf Wirtschaft geprägt.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Besonders wichtig sind zudem „reflexive“ Fächer, die schon an sich eine gewisse Breite ökonomischer Ideen vermitteln und die Ökonomik kritisch reflektieren. Hier sind zum Beispiel Ideen- oder Wirtschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie oder Ethik zu nennen. Politische Ökonomie und Nachhaltigkeit sind angesichts gesellschaftlicher Krisen bedeutend, da sie Ökonomie in Zusammenhang mit politischen und ökologischen Fragestellungen betrachten. Hier zeigt sich, dass die meisten Studiengänge im Wahlbereich immerhin mindestens eines dieser Fächer anbieten – allerdings vom Umfang meist unter 20 Prozent im Hinblick auf das jeweilige Gesamtstudium. Im Pflichtbereich sind reflexive Fächer jedoch verschwindend gering – nur rund ein bis vier Prozent. So ist Ideengeschichte nur in einem der untersuchten Studiengänge Pflicht, Ethik und Nachhaltigkeit in keinem einzigen.

Fazit: Mindeststandard für pluralen Wirtschaftsjournalismus

Um eine vielfältige Berichterstattung zu gewährleisten, sollten (Wirtschafts-)Redaktionen plural aufgestellt sein, sodass Journalist:innen im Austausch mit ihren Kolleg:innen verschiedene Perspektiven einnehmen und vermitteln können. Denn: Ökonomische Expertise ist keineswegs politisch „neutral“, sondern beinhaltet Wertannahmen und Haltungen. Ein neoklassischer Ökonom wird fundamental andere wirtschaftspolitische Empfehlungen machen als eine feministische Ökonomin oder ein:e Postwachstumsforscher:in. Ein zentraler Baustein für einen pluralen Mindeststandard in journalistischen Ausbildungs- und Studiengängen wäre daher ein Überblicks- und Kontextwissen zur pluralen Ökonomik: So würden Ökonom:innen medial nicht pauschal als „Expert:innen“ beschrieben, sondern eher als Vertreter:innen bestimmer ökonomischer Theorieströmungen zu Wort kommen. Journalist:innen könnten entsprechend proaktiv kontroverse Standpunkte hinzuziehen und blinde Flecken ausleuchten. Dafür ist aber auch wichtig, aktuelle Forschung zur Vielfalts- und Pluralismus-Debatte zu kennen. Nur dann kann nicht nur dem theoretischen, sondern auch dem Gender-Bias entgegengewirkt werden.

Die Studie „Qualifiziert für die Zukunft? Zur Pluralität in der wirtschaftsjournalistischen Ausbildung in Deutschland“ kann hier kostenfrei bestellt oder online als PDF heruntergeladen werden.

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