Ist die EU für die von ihr vorgeschlagene Mindestlohnrichtlinie eigentlich zuständig?

02. April 2021

Die EU-Mindestlohnrichtlinie soll einen geregelten Rahmen für Löhne in den EU-Mitgliedstaaten festlegen. Auch wenn immer wieder Zweifel geschürt werden, verfügt die EU-Kommission über die notwendigen Kompetenzen, einen solchen Vorschlag zu unterbreiten. Wieso dem so ist, wird im Folgenden erläutert.

Bereits 2019, in ihrer Antrittsrede vor dem Europäischen Parlament, hatte Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt, sie wolle „einen Rechtsrahmen vorlegen, der sicherstellt, dass jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer in unserer Union einen gerechten Mindestlohn erhält“. Mit ihrem Vorschlag einer „Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU“, den die Kommission im Oktober 2020 präsentierte, ist die Europäische Kommission diesem Versprechen nachgekommen. Für die Mitgliedsstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen soll ein evidenzbasiertes und verteilungspolitisch reflektiertes System geschaffen werden. Mitgliedsstaaten, die über keine gesetzlichen Mindestlöhne verfügen (wie Österreich), werden im Rahmen der Richtlinie auch nicht zur Einführung eines solchen verpflichtet.

Mindestlohnfestsetzungen EU-weit angleichen

Die EU-Kommission unterbreitete den Vorschlag für eine „Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU“ (MiLoRl), um dadurch auskömmliche gesetzliche Mindestlöhne sicher- und die Maßstäbe für deren Festsetzung klarzustellen. Sie soll nach Art. 1 der MiLoRl „den Zugang zum tarifvertraglich garantierten Mindestlohnschutz (…) unter uneingeschränkter Achtung der Vertragsfreiheit der Sozialpartner“ gewährleisten und „die Abdeckung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Tarifverträge“ fördern.

Artikel 153 (5) des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) nimmt das „Arbeitsentgelt“ dezidiert aus dem Kompetenzbereich der EU aus. Unter Verweis darauf behaupten Kritiker*innen, dass der Mindestlohnrahmen nicht mit den Europäischen Verträgen vereinbar sei: Die EU sei weder kompetent noch zuständig. Dass dem nicht so ist, wollen wir im Folgenden zeigen.

Die Europäische Kommission sieht Art. 153 (1) (b) AEUV als geeignete Rechtsgrundlage für den Erlass einer MiLoRl. Dieser Artikel gestatte ihr generell, rechtliche Mindestanforderungen an Arbeitsbedingungen und damit Arbeitslohn zu richten.Die MiLoRl berücksichtige die für ein Tätigwerden der EU vorausgesetzten Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit (Art. 5 [3] und [4] EU-Vertrag). Die Subsidiarität sei gewahrt, weil Mitgliedsstaaten den gesetzlichen Mindestlohn selbst festsetzen sollen. Ebenso sei die Verhältnismäßigkeit gewahrt, weil der gesetzliche Mindestlohn derzeit in der EU noch nicht überall existenzsichernd sei und die faire Gestaltung des Binnenmarkts harmonisierte Anforderungen für gesetzliche Mindestlöhne fordere. Die MiLoRl baue insgesamt auf den Mindestlohngesetzen der Mitgliedsstaaten auf.

EU-Recht erlaubt mittelbare Eingriffe in die Lohnfestsetzung

Art. 153 (5) AEUV untersagt die direkte Lohnfestsetzung durch die EU, weshalb ihr die unmittelbare Festlegung von Mindestlöhnen versagt ist. Die direkte Gestaltung ist vielmehr den Mitgliedsstaaten vorbehalten. Somit gilt das Verbot des Art. 153 (5) AEUV nur für Bestimmungen, die das Arbeitsentgelt unmittelbar festlegen, nicht jedoch für solche, die auf das Entgelt nur mittelbar einwirken. Regelungen, die den Lohn nur in einzelnen Aspekten gestalten, sind somit dem EU-Gesetzgeber nicht verwehrt.

Im Gegenteil: Art. 145–150 AEUV sehen eine koordinierte Beschäftigungspolitik vor, räumen also der EU die Kompetenz für die Festlegung einer Beschäftigungsstrategie ein. Diese Regeln legitimieren zwar nicht die Harmonisierung von Rechtsnormen. Der Plan der Europäischen Kommission ist es aber, einen Rahmen zu schaffen, der die Mindestlöhne, gemessen an den jeweiligen Median- und Durchschnittslöhnen in den Mitgliedsstaaten, auf ein existenzsicherndes Niveau bringt. Die Wirkung der Richtlinie ist damit lediglich mittelbar, da sie den Arbeitslohn nur in einer bestimmten Hinsicht (nämlich der Lohnuntergrenze) betrifft.

Es gibt bereits einige Beispiele für derartige mittelbare Eingriffe in die Lohnfestsetzung durch das EU-Recht: Europäische Regelungen zum Mutterschutz, zum Jahresurlaub und betreffend die Entsendung von Beschäftigten greifen ebenfalls indirekt in die Festlegung von Löhnen ein. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Legitimität dieser Maßnahmen mehrfach bestätigt: Damit die EU ihrem Harmonisierungsauftrag in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik gerecht werden kann, muss die Bereichsausnahme durch Art. 153 (5) AEUV eng ausgelegt werden. Das bedeutet, dass die Ausnahme der Lohnfestsetzung nicht die Wirksamkeit anderer Maßnahmen beeinträchtigen darf, die beispielsweise Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt oder Erwerbsarmut bekämpfen. Der EuGH betonte diesbezüglich bereits mehrmals, dass die Harmonisierungsbefugnisse der EU für Arbeits- und Sozialstandards nicht ausgehöhlt werden dürfen. Dies widerspreche den Grundsätzen des Europäischen Sozialrechts und der Sicherung der Wirksamkeit der Europäischen Verträge.

Recht auf existenzsichernde Löhne – anerkanntes Menschenrecht

In den internationalen sowie europäischen Regelungen zum Schutz von Menschenrechten ist das Recht auf eine angemessene, jedenfalls existenzsichernde Entlohnung in zahlreichen Zusammenhängen normiert: Art. 23 (3) Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 4 Revidierte Europäische Sozialcharta (RevESC) und Ziff. 5 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. Diese Bestimmungen müssen nach Art. 151 AEUV im Rahmen der EU-Rechtssetzung beachtet und berücksichtigt werden.

Nach Art. 4 Nr. 1 RevESC besteht für Beschäftigte ein Recht auf ein „Arbeitsentgelt, welches ausreicht, um ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern“. Aber auch nach den Europäischen Verträgen ist die Europäische Kommission dazu aufgerufen, der sozialen Ausgrenzung entgegenzuwirken (Art. 3 [3] EUV Art. 8 AEUV). Die Angleichung der Maßstäbe für die Mindestlohnfestsetzung sichert dieses Ziel und schont die Systeme der sozialen Sicherung vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme aufgrund von Niedriglöhnen und daraus resultierenden Beitrags- und Leistungskürzungen.

Neutralisierung der Lohnunterschiede im Binnenmarkt

Für die EU-Regelung grenzüberschreitender Arbeitsverhältnisse erkannte der EuGH jüngst den Ausgleich der auf Lohnniveau-Unterschieden beruhenden Wettbewerbsverzerrungen als legitimes Ziel von EU-Recht an.

Soweit solche Regeln im Zusammenhang mit dem Dienstleistungsverkehr im Binnenmarkt getroffen würden, schaffe EU-Recht eine „faire Grundlage“ für den Leistungswettbewerb. Damit werde der Wettbewerb so geordnet, dass er nicht von „übermäßigen Unterschieden in den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen abhängt, die in ein und demselben Mitgliedsstaat für die Unternehmen verschiedener Mitgliedsstaaten gelten“. Solche Regeln bezweckten, die in den Mitgliedsstaaten unterschiedlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Binnenmarkt zu „neutralisieren“.

Die Überwindung von Wettbewerbsverzerrungen ist aber nicht nur auf die Regelung der grenzüberschreitenden Arbeitsverhältnisse zu beschränken, sondern verlangt auch eine Verminderung der Differenzen zwischen dem anwendbaren Recht der Mitgliedsstaaten. Die MiLoRl schafft erstmals dieses gesetzgeberische Mittel. Harmonisierte Lohnuntergrenzen für die Mitgliedsstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen, auf denen diese ihre nationalen Mindestlöhne aufsetzen, ergänzen den Kampf gegen Lohnunterschiede im Binnenmarkt. Somit will die MiLoRl auch prekär Beschäftigte vor Diskriminierung bewahren – ein Motiv, das viele Rechtsakte im harmonisierenden Europäischen Arbeitsrecht trägt.

EU-Mindestlohnrichtlinie kann Beitrag zu fairer Bezahlung leisten

Blickt man auf die Europäischen Verträge, das bestehende Sekundärrecht und die Rechtsprechung des EuGH, so spricht nichts gegen die Einführung eines Rahmens für angemessene Mindestlöhne auf Grundlage von Art. 153 (1) (b) AEUV. Der juristische Dienst des Rates bestätigt diese rechtliche Analyse in seinem Gutachten vom 9. März 2021. Ein solcher trägt zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzungen bei, fördert die Sicherung existenzsichernder Löhne, wirkt der Diskriminierung prekär beschäftigter Gruppen entgegen und fördert die Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern (Art. 157 [1] AEUV). Schließlich können dadurch die nach wie vor beträchtlichen Unterschiede der Lohnniveaus im Binnenmarkt angeglichen werden, wodurch der Binnenmarkt für die Unternehmen fairer und für die Beschäftigten sozialer wird.

Das vom Deutschen Gewerkschaftsbund in Auftrag gegebene Gutachten zur Statthaftigkeit eines EU-Rechtsrahmens für gesetzliche Mindestlöhne finden Sie in voller Länge hier.