Globale Impfungleichheit: Wer hat, dem wird gegeben

09. Juni 2021

Im zweiten Jahr der COVID-19-Pandemie zeigt sich: Von den frühen Ankündigungen, wie etwa der Europäischen Kommission, Impfstoffe als „globales öffentliches Gut“ zu begreifen, ist nicht viel geblieben. Das ist einem unheilvollen Zweigespann aus Impfegoismus reicherer Staaten und Lobbymacht von Pharmakonzernen in der globalen Pandemiepolitik geschuldet.

Anfang des Jahres folgte auf den Aufruf des UN-Generalsekretärs, die weltweite Zugänglichkeit von Impfstoffen als oberste Priorität zu begreifen, die unverblümte Diagnose des Direktors der Weltgesundheitsorganisation (WHO): Die Welt stehe „am Rande eines katastrophalen moralischen Versagens“. Diesem Weckruf liegt eine gravierende globale Impfungleichheit zugrunde: Über 85 ärmere Länder werden nicht vor 2023 über ausreichenden Zugang zu Impfstoff verfügen.

Auch wenn viele ihre Impfung kaum erwarten können: Im globalen Maßstab erfährt das Phänomen der „Impf-Vordrängler“ nochmals eine drastische Dimension. Die globale Impfkluft wachse – so zuletzt der WHO-Generaldirektor – „jeden Tag und werde jeden Tag grotesker“. In vielen Ländern würden bereits „jüngere, gesunde Menschen mit geringem Krankheitsrisiko“ geimpft und dies auf „Kosten des Lebens von Gesundheitspersonal, älteren Menschen und anderen Risikogruppen in anderen Ländern“.

Die Pandemie, die spaltet

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Die Verteilung der Impfstoffe ist daher weit von dem entfernt, was etwa Ärzte ohne Grenzen auch als unverzichtbares Prinzip in der globalen Pandemiebekämpfung verstehen: nämlich „nach Maßgabe der Bedürftigkeit“ zu impfen. Bisherige Initiativen zur weltweiten gleichmäßigeren Verteilung von Impfstoffen, wie etwa durch die globale Impfstoffplattform COVAX, erwiesen sich nicht zuletzt auch als zu anfällig dafür, durch Impfnationalismus konterkariert und leergekauft zu werden. Während Staatschefs im globalen Norden kaum erwarten können, eine Herdenimmunität samt wirtschaftlichem Comeback auszurufen, bleiben in vielen Ländern mit ohnehin miserabler medizinischer Infrastruktur selbst das Gesundheitspersonal und Hochrisikogruppen auf absehbare Zeit ungeschützt.

Vor diesem Hintergrund konnten in den letzten Wochen eine Reihe von internationalen Aufrufen von WissenschafterInnen, ParlamentarierInnen, Diskussionsveranstaltungen, Medienbeiträgen, BürgerInneninitiativen sowie zivilgesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Kampagnen zwar erreichen, dass mehr öffentlicher Druck für globale Impfgerechtigkeit und ein sogenanntes „People´s Vaccine“ aufgebaut werden konnte. Doch dieser transnationalen Koalition für globale Impfsolidarität steht zugleich ein unheilvolles Duo aus Impfegoismus reicherer Staaten und der wirtschaftlichen Macht von „Big Pharma“ in der vorherrschenden globalen Pandemiepolitik gegenüber. Gegenwärtig zeigt sich der scharfe Kontrast zwischen frühen Versprechungen von COVID-19-Impfstoffen als „globalem öffentlichem Gut“ und gegenläufigen wirtschaftspolitischen Machtinteressen besonders deutlich in der Welthandelsorganisation (WTO).

WTO: Teil der Lösung oder des Problems?

Dort fordern mittlerweile mehr als 100 Mitgliedsstaaten, für die Dauer der Pandemie Ausnahmeklauseln von sogenannten „handelsbezogenen geistigen Eigentumsrechten“ für COVID-19-relevante medizinische Produkte wie zum Beispiel Impfstoffe, Testkits oder Beatmungsgeräte zu verankern (der sog. „TRIPS-Waiver“). Diese Forderungen nach gezielten Ausnahmeklauseln sind mit dem Ziel verbunden, dass Patente, Urheberrechte oder etwa die fehlende Offenlegung von Produktionswissen eine effektive weltweite Pandemiebekämpfung nicht behindernsollen.

Zwar liegt der – ursprünglich von Südafrika und Indien eingebrachte – Antrag dafür bereits seit Oktober 2020 in der WTO vor. Die Länder des globalen Südens pochen bereits seit Monaten auf die Dringlichkeit der raschen und eigenständigen Produktion von COVID-19-Impfstoffen, Medikamenten und medizinischer Ausrüstung. Nicht zuletzt die EU hat jedoch in den Verhandlungen zum pandemiebedingten TRIPS-Waiver offensichtlich eine Verzögerungstaktik verfolgt.

Auf ablehnendem Kurs waren auch lange die USA unterwegs, bis dann die US-Regierung Anfang Mai mit einer knappen Verlautbarung weltweit aufhorchen ließ: Die Biden-Harris-Administration unterstütze das Aussetzen von geistigem Eigentumsschutz für COVID-19-Impfstoffe. Denn die „außerordentlichen Umstände der COVID-19-Pandemie erfordern außerordentliche Maßnahmen“.

Kurswechsel der Biden-Harris-Administration

Dieser Kurswechsel liegt in steigendem internationalem und öffentlichem Druck, aber vor allem auch einer wachsenden Kritik innerhalb der Demokratischen Partei gegenüber den Interventionen der US-Pharmaindustrie begründet. In der Folge brachen die Aktienkurse der Pharmariesen ein. Diese hatten zuvor versucht, die Entscheidung mit massivem Gegendruck abzuwehren. Das konservative „Wall Street Journal“ schrieb im Anschluss, dass es sich dabei um nichts anderes als einen „Raub“ handle, mit dem Biden den Progressiven der Partei gefallen wolle. Um die Entscheidung zu verstehen, empfiehlt sich auch ein Blick auf geopolitische Zusammenhänge. Schließlich kam die Richtungsentscheidung, just als sich die Pandemie in Indien zuspitzte – geopolitisch ein entscheidender Partner der USA im Konkurrenzkampf mit China.

Nach dem US-Positionswechsel ist es nunmehr vor allem die EU, welche die Forderungen von Staaten des globalen Südens ins Leere laufen lässt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen antwortete auf den US-Vorstoß mit dem Kommentar, dass man für Verhandlungen offen sei, um dann zu betonen, dass es doch eigentlich um erhöhte Produktionskapazitäten gehe, die dann einen Export in betroffene Länder ermöglichen würden. Noch deutlicher wurde die deutsche Bundesregierung: „Der Schutz von geistigem Eigentum ist Quelle von Innovation und muss es auch in Zukunft bleiben.“

Von den frühen Versprechungen von Impfstoffen gegen COVID-19 als globalem öffentlichem Gut ist hingegen von der EU in dieser aktuellen WTO-Auseinandersetzung um globale Impfsolidarität nichts zu hören. Die Krisenbekämpfung und -vorsorge im globalen Süden werden damit auch langfristig in Abhängigkeit von offensiven wirtschaftlichen Machtinteressen sowie geopolitischer Instrumentalisierung gehalten.

Warnung vor Impfstoff-Apartheid

Um was es geht, verdeutlichte Carlos Correa, der Leiter des Think-Tanks South Center, im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung von VIDC, ÖFSE und AK Wien Anfang März. Der Waiver sei für die Unterstützung rascher und länderübergreifender Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung entscheidend. Bestehende Möglichkeiten zum Beispiel zu Zwangslizenzierungen (sog. „TRIPS-Flexibilitäten“) wären hingegen sehr langwierig und auch aufgrund des hohen Drucks für einzelne Länder des globalen Südens in der Vergangenheit praktisch kaum umsetzbar gewesen. Mit der Annahme des TRIPS-Waivers würde auch nicht mehr als eine Art „Schutzschild“ für handelsbezogene geistige Eigentumsrechte auf internationaler Ebene wegfallen, da kein Mitgliedsstaat einen anderen Mitgliedsstaat dann aufgrund seiner Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung in der WTO verklagen könnte.

Im Zuge der Veranstaltung warnte zudem Fatima Hassan von der südafrikanischen Health Justice Initiative vor einer globalen Impfstoff-Apartheid und rief die verlorene Zeit bei der Bekämpfung der HIV/Aids-Pandemie in Erinnerung. Mitte der 1990er-Jahre waren antiretrovirale Medikamente im globalen Norden entwickelt worden, deren Einsatz verhindern konnte, dass Menschen an einer Aids-Erkrankung sterben mussten. Doch das Festhalten am Patentschutz führte zu Millionen Toten im globalen Süden. Mit einer jahrlangen Kampagne gelang es einem Bündnis von Organisationen aus dem globalen Norden und Süden jedoch, eine Außerachtlassung von Patenten zu erkämpfen. Die so ermöglichte Produktion von Generika konnte weitere Tote verhindern. Darüber hinaus betonte Hassan zuletzt angesichts der neuen Dynamik für den TRIPS-Waiver: Es brauche nun Transparenz in den Verhandlungen und weiterhin Vorsicht vor einer Verwässerung des Vorschlags.

Verlorene Zeit durch Doppelspiel der EU

Der öffentliche Druck hat zwar auch innerhalb der Europäischen Union Wellen geschlagen. Nicht zuletzt, um den Druck auf Pharmaunternehmen mit Sitz bzw. Produktionsanlagen in der EU zu erhöhen, meinte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen etwa Mitte März, dass sie „nichts ausschließe“, um die „Krise des Jahrhunderts“ zu meistern und sicherzustellen, dass alle Europäer so schnell wie möglich geimpft werden. Um das zu ermöglichen, sei auch die Anwendung der EU-Kompetenz für Versorgungskrisen nicht ausgeschlossen.

In eine ähnliche Kerbe hatte zuvor bereits der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, geschlagen. Sollten die Verhandlungen mit den Pharmaunternehmen scheitern und diese nicht mehr Impfstoffe zur Verfügung stellen, müsse man den Einsatz des Art.-122-Vertrages über die Arbeitsweise der EU zur Sicherstellung der Versorgung mit wichtigen Gütern in Krisenzeiten in Erwägung ziehen.

Die damit angesprochene Kompetenz erlaubt es den Mitgliedstaaten, falls „gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung“ mit Gütern auftreten, „angemessene Maßnahmen“ zu beschließen, um Engpässe in der Versorgung und die damit verbundenen Folgen für die Bevölkerung zu vermeiden oder rasch zu lösen. Dafür spricht auch, dass zu Beschlussfassung keine Einstimmigkeit, sondern lediglich eine qualifizierte Mehrheit notwendig ist.

Auf EU-Ebene würde daher ein rechtlich einwandfreier und vergleichsweise einfach einzusetzender Hebel zur Verfügung stehen, um alles zu unternehmen, um die Impfstoffproduktion rasch auszuweiten – sei es nun durch die Zwangslizenzen oder durch die Aufhebung von Patenten und die Teilung von Produktionswissen. Doch bisher, das zeigte vor allem auch die Reaktion auf den Vorschlag der Biden-Harris-Administration, gleicht die EU mehr dem Hund, der bellt, aber nicht beißt. Und das, obwohl die Mitgliedsstaaten der Union mit ihren Impfprogrammen nachhinken und im globalen Süden viele nach derzeitigem Stand noch zwei Jahre ungeschützt bleiben werden.

Lobbymacht und „Big Pharma“

Dass dem so ist, liegt nicht zuletzt an der ausgeprägten Macht der Pharmaindustrie, die im globalen Norden ihre Firmensitze hat und über einen entsprechend kurzen Draht in die politischen Institutionen verfügt. Allein auf Ebene der EU gibt der Sektor jährlich rund 40 Millionen Euro aus, um die Politik entlang ihrer an Profit ausgerichteten Interessen zu beeinflussen. Dazu beschäftigt er mehr als 175 LobbyistInnen. Die öffentlich zugänglichen Auflistungen der Sitzungen der Spitzen der Kommission zeigen, dass allein in den ersten sechs Monaten nach Ausbruch der Pandemie 85 Treffen mit der Pharmaindustrie stattfanden.

Dass Hauptargument der Pharmaindustrie zur Verteidigung einer auf Profite ausgerichteten Erforschung und Produktion von Impfstoffen ist dabei, dass nur diese einen Anreiz zur Entwicklung neuer Produkte lieferten. Allerdings offenbaren nicht zuletzt die Zahlen rund um die Entwicklung der COVID-19-Vakzine einen ganz anderen Zusammenhang: Die Erforschung der mRNA-Impfung geht zum ganz überwiegenden Teil auf öffentliche Forschung zurück. Und obendrauf bekam die Pharmaindustrie im letzten Jahr Milliarden, um rasch eine Impfung anbieten zu können. Biontech/Pfizer etwa erhielt von Deutschland und den USA 2020 2,7 Milliarden, um dieses Ziel zu erreichen. Während die Entwicklung überwiegend von der öffentlichen Hand bezahlt wird, bleiben die Patente und damit die Profite privat: Allein bei Biontech/Pfizer werden für dieses Jahr Einnahmen zwischen 10 und 20 Milliarden Euro auf Basis ihres COVID-19-Impfstoffes veranschlagt.

Diese Machtbasis und Profitabilität erklärt auch, warum viele Staaten des globalen Nordens bisher großteils im TRIPS-Council der WTO eine Freigabe der Patente blockiert haben und rhetorisch zwar mit den Säbeln rasseln, aber nicht von ihrer auf EU-Ebene weitreichenden Eingriffskompetenz in Krisenzeiten (Art. 122 AEUV) Gebrauch machen. Schließlich fürchtet die Pharmaindustrie nicht nur um ihre Profite, sondern dass sich eine Tür hin zu einem solidarischen und globalen Gesundheitssystem öffnen könnte, das öffentliche Interessen in den Mittelpunkt stellt.

Change not Charity

Dass Einzelinteressen bisher das globale Allgemeininteresse blockieren, ist dabei nicht nur moralisch falsch. Vielmehr hat das Brachliegen von Produktionskapazitäten und ihr mangelnder Ausbau auch epidemiologisch verheerende Folgen. Indem viele im globalen Süden bis 2023 auf ihre erste Impfung warten müssen, hat das Virus aufgrund der damit einhergehenden Vielzahl von Infektionen viel Zeit, um zu mutieren. Schon jetzt entstehen dadurch ansteckendere und infektiösere Varianten, die allenfalls auch in bereits immunisierten Regionen virulent werden können. Auch das Entstehen einer Mutante, gegen die kein Impfstoff Schutz bietet, wird so wahrscheinlicher.

Auch volkswirtschaftlich drohen dadurch gigantische Schäden, die aufgrund des neokolonialen Musters der gegenwärtig an privaten Profiten orientierten Impfstrategie überproportional Länder im globalen Süden treffen werden. Nach einer Studie der International Chamber of Commerce drohen so wirtschaftliche Schäden in Höhe von 9,2 Billionen Dollar.

Dass selbst jetzt noch genug Spielraum besteht, um eine Impfstoffproduktion zu starten, die hilft, rasch alle Menschen weltweit durchzuimpfen, die das möchten, bestätigte jüngst sogar die WTO-Direktorin. So meinte Ngozi Okonjo-Iweala Anfang März, dass im globalen Süden bereits Kapazitäten vorhandenen wären, die innerhalb von sechs Monaten mit einer entsprechenden Produktion beginnen könnten. Das zeigt nicht zuletzt, was alles möglich gewesen wäre, wenn Emmanuel Macron, Angela Merkel, Charles Michel und Ursula von der Leyen ihren Worten von Anfang Mai letzten Jahres frühzeitig entschlossene Taten folgen hätten lassen. Damals hieß es nämlich noch: „Wenn wir einen Impfstoff entwickeln können, der von der ganzen Welt für die ganze Welt produziert wird, wird dies ein einzigartiges globales öffentliches Gut des 21. Jahrhunderts sein.“

Eine frühere Version des Beitrags ist bei makroskop erschienen: Am Rande eines „katastrophalen moralischen Versagens“ – MAKROSKOP.