Europa geht anders – Am Anfang war ein „Nein“

15. Mai 2013

Ende Juni soll am Europäischen Rat die Grundsatzentscheidung über die Pakte für Wettbewerbsfähigkeit fallen. Worum es dabei geht? „Troika und Strukturreformen für alle!“ lautet die zugespitzte Antwort: Die Einschnitte in das Sozialsystem, die im südeuropäischen Laboratorium erprobt wurden, sollen verallgemeinert werden. Erst ein klares „Nein“ – wie es etwa die Initiative „Europa geht anders“ fordert – wird den Raum für Alternativen öffnen.

Für die breite Masse der Menschen in Europa ist die bisherige Krisenpolitik gescheitert: Seit Beginn der Aufzeichnungen war die Arbeitslosenquote noch nie so hoch: 26 Millionen Menschen sind in der Union ohne Lohnarbeit – rund 10 Millionen mehr als vor der Wirtschaftskrise. Besonders dramatisch ist die Situation in jenen Ländern, die im Anschluss an die Wirtschaftskrise die Politik der Troika umsetzen mussten, um Geld zu erhalten beziehungsweise Anleiheankäufe der EZB sicherzustellen: In Griechenland und Spanien beträgt die Arbeitslosigkeit mittlerweile rund 27% der Erwerbspersonen – unter Jugendlichen 60%. Werte, die selbst in der Weimarer Republik und in der Zwischenkriegszeit in Österreich nur kurzfristig übertroffen wurden.

Wer wird gerettet? Welche Strukturen werden „reformiert“?

Die Rettungsgelder kommen aber nicht den Arbeitslosen und Armen zu Gute, sondern werden zu keinem geringen Anteil zur Rettung von Banken eingesetzt, die nicht selten aus den Geberländern stammen. Neben drastischen Sparmaßnahmen verordnet das „Reformbündnis“ aus Unternehmerverbänden, Finanzindustrie, EU-Kommission, neoliberalen Staatschefs und Europäischer Zentralbank (EZB) „Strukturreformen“, zu denen sich die betroffenen Länder durch vertragliche Vereinbarungen (Memoranda of Understanding) verpflichten.

Die Erfahrungen zeigen aber, dass damit nicht jene Strukturen einer Reform unterzogen werden, die für die Wirtschaftskrise verantwortlich sind. So kam es in keinem der betroffenen Länder zu einer merklich verstärkten Besteuerung von Vermögen, hohen Einkommen und Unternehmensgewinnen. Genauso wenig wurde die Monopolisierung wirtschaftlicher Entscheidungen durch eine Demokratisierung aufgebrochen. Im Gegenteil, die Ungleichheit in der Verteilung und die Entdemokratisierung der Wirtschaft(spolitik) spitzte sich weiter zu.

Da Ausgabenkürzungen und neoliberale Strukturreformen die Nachfrage drosseln, kam es in den Krisenländern zu einem massiven Einbruch der Wirtschaft. Dass diese Entwicklung im Süden letztlich auch die Länder des Zentrums treffen werde, war kritischen ÖkonomInnen von Anfang an klar: denn 87 % der Nachfrage nach europäischen Gütern und Dienstleistungen gehen auf die Nachfrage im Europäischen Binnenmarkt zurück. Dieser Zusammenhang wurde 2012 neuerlich offenkundig, als die Wirtschaftsleistung der gesamten Eurozone um 0,4 % zurückging.

Die Verallgemeinerung der Krisenpolitik

Obwohl die Politik in den „Krisenländern“ aus der Perspektive der breiten Masse gescheitert ist, wird sie in ganz Europa verallgemeinert: Das neoliberale „Reformbündnis“ hat ab 2010 energische Anstrengungen unternommen, Teile der sogenannten Austeritätspolitik (d.h. die bedingungslose Kürzung der öffentlichen Leistungen) und der „Strukturreformen“, die in Südeuropa in Stellung gebracht wurden, auf ganz Europa auszuweiten. Im Zentrum dieser Bemühungen stehen die sogenannte Economic Governance (ein „Gesetzespaket“ aus fünf EU-Verordnungen und einer Richtlinie, das daher auch als 6-Pack bekannt wurde) und der Fiskalpakt, die Ende 2011 bzw. Anfang 2013 in Kraft getreten sind.

Pakte für Wettbewerbsfähigkeit

Diese Politik soll nun mit einer Grundsatzentscheidung am 27. Juni in ihre nächste Etappe gehen: In Pakten für Wettbewerbsfähigkeit, so die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, sollen sich die Mitgliedstaaten vertraglich gegenüber der Europäischen Kommission zur Deregulierung ihres Arbeitsrechts, zur „Reform“ ihrer Pensionssysteme und zur Senkung ihrer Löhne verpflichten. Um politischen Widerstand zu überwinden, so die Kommission, wird Zuckerbrot und Peitsche in Position gebracht: Wenn die Maßnahmen zeitgerecht umgesetzt werden, gibt es dafür ganz nach dem in den Krisenländern zur Anwendung kommenden Modell eine finanzielle Unterstützung. Andernfalls drohen Verwarnungen und Sanktionen in Form von Geldbußen. Geht es nach dem Europäischen Rat, dem politischen Steuerungsgremium der EU, in welchem die Staatschefs der Mitgliedstaaten vertreten sind, sollen durch die Pakte „alle dem Euro-Währungsgebiet angehörende Mitgliedstaaten“ gebunden werden.

Warum wird die Krisenpolitik trotz ihres Scheiterns fortgesetzt und ausgeweitet?

Warum versucht das „Reformbündnis“ die Krisenpolitik in ganz Europa zu verallgemeinern, obwohl ihr Scheitern hinsichtlich der Interessen der breiten Masse der Bevölkerung gegenwärtig und auch historisch offenkundig ist?

Dafür lassen sich vereinfachend wohl zwei Erklärungen finden: Zum einen ist die ideelle Dominanz neoliberaler Wirtschaftstheorie ungebrochen. Jahrelang haben die heute zur Entscheidung berufenen AkteurInnen neoliberales Denken und Handeln an den Universitäten, in Institutionen und Think-Tanks eingeübt. Gleichzeitig wurden kritische WissenschafterInnen marginalisiert – insbesondere auch im Bereich der politischen Ökonomie. Auch wenn spätestens seit der Wirtschaftskrise immer weniger Menschen davon überzeugt sind, dass neoliberale Wirtschaftspolitik die dringenden gesellschaftlichen Probleme lösen kann, die Hegemonie des Neoliberalismus folglich brüchig wird, fällt es Alternativen daher vorerst schwer sich durchzusetzen, da die Wettbewerbsorientierung institutionell massiv verankert wurde.

Zum anderen profitieren einige Wenige massiv von der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Unter Rückgriff auf den Europaforscher Bastiaan van Apeldoorn lässt sich dies folgendermaßen erklären: Bei der Wettbewerbsorientierung steht „der strategische Aspekt [der] Konstruktion eines europäischen Modells des Kapitalismus im Vordergrund, mit dem der Imperativ der Reduktion der Arbeitskosten zur Sicherung der Unternehmensprofite verankert werden soll.“ Diese in den Verträgen für Wettbewerbsfähigkeit erneut zum Ausdruck und zur Entfaltung kommende Strategie nützt daher vor allem transnationalen Unternehmen und industriellen Kapitalfraktionen.

Die Instrumente der Bankenrettung und Austerität (z. B. die Verschärfung des Stabilitätspaktes durch die Economic Governance und der Fiskalpakt), die mit Angela Merkel als zweite Leitplanke der Krisenpolitik bezeichnet werden können, sind hingegen darauf zugeschnitten, die Finanzmarktakteure (Fonds, Banken und Stiftungen) zu bedienen. Diese sind zwar auf immer weitersteigende Verschuldung in Form von Staatsanleihen als Profitquelle angewiesen, wollen aber sicherstellen, dass diese letztlich zurückgezahlt wird.

Wie wird die Politik im Interesse der Wenigen durchgesetzt?

Die Entfaltung der Wirtschaftskrise in der EU und ihre „Bearbeitung“ haben die ohnehin oft schon prekäre Lebenssituation vieler Menschen weiter verschärft und die neoliberalen Europabilder brüchig werden lassen. Einer Vertiefung der Union im Interesse der Wenigen stößt immer weniger auf den Konsens der Bevölkerung und lässt sich daher kaum noch demokratisch durchsetzen.

Es überrascht daher nicht, dass alle bisherigen Bausteine der Krisenpolitik ein autoritär-neoliberales Muster aufweisen: Sowohl die Economic Governance als auch der Fiskalpakt stellen einen Eingriff in die europäischen Verträge dar, der ordnungsgemäß nur durch ein ordentliches Vertragsänderungsverfahren erfolgen hätte können, das die frühzeitige Einbindung und Zustimmung der Parlamente und eine Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten vorsieht. In den Rechtswissenschaften herrscht daher weitgehend Einigkeit darüber, dass die Maßnahmen zur Absenkung der Zustimmungserfordernisse rechtswidrig beschlossen wurden.

Um das neoliberale Reformbündnis gegen den zunehmenden Widerstand der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen zu isolieren, kam es darüber hinaus zu einer Aufwertung der Exekutive gegenüber der Legislative: Während die Krisenpolitik eine Entwertung des EU-Parlaments und der nationalen Parlamente nach sich zog, wurden mit der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der Kommission und den im ECOFIN-Rat vertretenen nationalen Finanzministerien gerade jene Staatsapparate aufgewertet, die besonders neoliberal und zusammengesetzt sind.

Dieses Muster scheint sich nun in den Pakten für Wettbewerbsfähigkeit ein weiteres Mal zu wiederholen: Folgt man den Plänen der Kommission soll wiederum eine untaugliche Rechtsgrundlage für die Beschlussfassung der Pakte herangezogen werden. Erneut soll die Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der Kommission gegenüber den parlamentarischen  Terrains gestärkt werden, auf denen sich die Interessen der breiten Masse der Bevölkerung vergleichsweise gut ausdrücken können.

Was nun?

Doch auch wenn die Europäische Union den Weg in den Autoritarismus eingeschlagen hat, wie Hans-Jürgen Urban vom Vorstand der deutschen Gewerkschaft IG-Metall feststellt, hat sich das neoliberale „Reformbündnis“ noch nicht vollkommen von politischen Zustimmungserfordernissen und Verantwortlichkeiten entkoppeln können. Gerade der Europäische Rat ist für seine politischen Grundsatzentscheidungen auf einen Konsens aller Staatschefs angewiesen.

An dieser Stelle scheint der Aufruf „Europa geht anders“ anzusetzen, der von zahlreichen ErstunterzeicherInnen aus Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Politik und Wissenschaft in  unterschiedlichen Ländern der Union unterstützt wird. Auf der Startseite der entsprechenden Homepage heißt es: „Europa geht anders. Wir lehnen [den] Plan der EU-Kommission entschieden ab. Wir fordern alle Menschen, die ein anderes Europa wollen, auf, Druck auf ihre Regierungen und Parlamente auszuüben, damit möglichst viele Regierungschefs beim kommenden Europäischen Rat dem Wettbewerbspakt eine Absage erteilen. Es braucht eine Kehrtwende hin zu einem demokratischen, sozialen und ökologischen Europa der Vielen!“

Jene Akteure, die das derzeit herrschende „Reformbündnis” tragen, konnten die neoliberale Entwicklungsweise vor allem dadurch durchsetzen, dass es ihnen gelang, ihre politischen Konzepte und die dahinter liegenden Interessen und Kräfteverhältnisse als die einzig gangbaren darzustellen. Paradigmatisch dafür ist jener Slogan, den Margret Thachter zur Durchsetzung einer ersten Welle von Austerität und „Strukturreformen“ nützte: „There is no alternative! – Es gibt keine Alternative!“ Die Pakte für Wettbewerbsfähigkeit sind weder die erste Möglichkeit, noch werden sie die letzte sein, um den Pfad in eine autokratisch-neoliberale Europäische Union zu verlassen und die Debatte über grundlegende Alternativen zu beginnen. Sie sind aber ein wichtiger Ansatzpunkt, um eine Vertiefung der Europäischen Union im Interesse einiger Weniger zu stoppen: Am Anfang eines anderen Europas steht ein „Nein.“

Aufruf: Europa geht anders

Dieser Beitrag basiert auf einer ausführlicheren Analyse der Pakt(e) für Wettbewerbsfähigkeit im infobrief eu & international 1/2013.