Der Energiecharta-Vertrag als Bremsklotz am Weg zur Klima- und Energiewende

15. Juni 2022

Seit 2019 wird hinter verschlossenen Türen die Modernisierung des Energiecharta-Vertrags (ECV) verhandelt, die demnächst abgeschlossen werden soll. Der in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte, multilaterale Vertrag schützt Investitionen in fossile Energieträger wie Öl, Gas und Kohle. Für Investor:innen stellt er ein mächtiges Werkzeug dar. Sie können Staaten auf Schadenersatz für entgangene künftige Gewinne klagen, wenn notwendige Maßnahmen zum Schutz von Klima und Umwelt gesetzt werden. Ein umwelt- und energiepolitisches, vor allem aber ein demokratiepolitisches Problem – gerade jetzt, wo jeder Euro staatlicher Gelder gebraucht wird, um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen.

Der Energiecharta-Vertrag: fossiles Erbe aus dem vorigen Jahrhundert

Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 richteten sich die Blicke westlicher Öl- und Gaskonzerne gen Osten: Mit einem Mal eröffnete sich die Möglichkeit, direkten Zugang zu den immensen Öl- und Gasvorkommen in den ehemaligen Ländern der Sowjetunion zu bekommen. Ein gemeinsamer Rechtsrahmen im Energiebereich sollte dazu dienen, Investitionen des Westens in den ressourcenreichen Ländern des Ostens unter dem Deckmantel der Versorgungssicherheit abzusichern und den Handel zu erleichtern. 1998 trat mit dem ECV das erste multilaterale Investitionsschutzabkommen in Kraft. 53 Länder von Westeuropa über Zentralasien bis hin nach Japan gehören heute dem Vertrag an. Die EU und alle EU-Mitgliedstaaten außer Italien sind ebenfalls Vertragsparteien (Italien ist 2016 ausgetreten). Prominentestes Nicht-Mitglied ist Russland, das den Vertrag ursprünglich zwar unterzeichnet und angewandt hat, diese Schritte aber in den vergangenen Jahren rückgängig gemacht hat.  

Rund 25 Jahre später haben sich die (klima-)politischen Rahmenbedingungen grundlegend geändert. Der ECV stützt sich in den Bereichen Handel und Transit im Wesentlichen auf die Bestimmungen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT. In den 90er-Jahren waren die meisten Staaten des ehemaligen Ostblocks noch keine Vertragsparteien des GATT. Das hat sich zwischenzeitlich geändert, weil viele Staaten der Welthandelsorganisation (WTO) und damit auch dem GATT beigetreten sind. Viele ehemalige Staaten der Sowjetunion sind außerdem der EU beigetreten. Für sie gelten damit ohnehin die Regeln des Binnenmarktes.

Im Laufe der vergangenen Jahre haben sich aber vor allem auch die klimabezogenen Zielsetzungen wesentlich geändert. 2015 wurde das Pariser Klimaabkommen verabschiedet, alle ECV-Vertragsparteien, mit Ausnahme des Jemen, haben das Abkommen ratifiziert. 2019 hat die EU-Kommission den Europäischen Grünen Deal präsentiert, mit dem die Nettoemissionen der EU bis 2050 auf null reduziert werden sollen. Der Weltklimarat warnt in seinem jüngsten Bericht ganz offen: Werden die Treibhausgas-Emissionen nicht sofort und drastisch reduziert, ist das im Pariser Übereinkommen und in den Sustainable Development Goals (SDG 13) gesetzte Ziel, die menschengemachte Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, unerreichbar. Auch die Entwicklungen der vergangenen Monate im Zuge des russischen Aggressionskriegs haben einer breiten Bevölkerung die verhängnisvolle Abhängigkeit Europas, und so auch Österreichs, von fossilen Energieträgern vor Augen geführt. Die Energiepreise sind hoch wie noch nie, ebenso die Verunsicherung an den Energiemärkten. Energiepolitische Maßnahmen fokussieren mehr denn je auf einen Ausstieg aus fossilen Energieträgern. Gerade diesen ambitionierten Plänen liegt aber ein großer Stein im Weg: Er heißt Energiecharta-Vertrag.

Klimakiller Energiecharta-Vertrag

Der ECV schützt sämtliche Investitionen in Primärenergieträger und Energieerzeugnisse, die in einem eigenen Anhang aufgelistet sind. Fossile Energieträger wie Öl, Gas und Kohle scheinen dort ebenso auf wie Kernenergie und Strom. Der ECV ist damit „klimablind“. Die Bestimmungen zum Schutz von Investitionen sind derart überschießend, dass Investor:innen sogar Klage einreichen können, wenn sie sich um entgangene zukünftige Gewinne gebracht fühlen, weil ein Staat beispielsweise ambitionierte Klimapolitik betreibt.

Prominentes Beispiel dafür sind die Niederlande, die verkündet haben, bis 2030 aus der Kohleverstromung aussteigen zu wollen. Nachdem das entsprechende Gesetz verabschiedet worden war, verklagten 2021 die Konzerne Uniper und RWE die Niederlande in Milliardenhöhe. Denn sie besitzen mehrere Kohlekraftwerke dort. Der ECV torpediert damit die dringend notwendige Energiewende auf zweifache Weise: Er zementiert den Status Quo ein, weil Staaten in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt werden – eine demokratiepolitisch unverantwortliche Tatsache. Und er leitet dringend benötigte staatliche Gelder für Investitionen in die Klimawende an Konzerne um, die die Klimakrise maßgeblich mitzuverantworten haben.

Der ECV ist auch das Abkommen mit den meisten Streitfällen weltweit. 145 Verfahren nach dem ECV, bei denen Investor:innen Staaten verklagt haben, sind derzeit bekannt. Die Zahl könnte aber weit höher sein, denn Verfahren müssen nicht öffentlich gemacht werden. Ganz zu schweigen von der Höhe der dort ausgehandelten Zahlungen an Investor:innen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Energiecharta-Vertrag: Vom Klimakillervertrag zum Bodyguard der erneuerbaren Energien?

Doch könnte der ECV nicht auch im Sinne des Klimaschutzes genutzt werden? Wäre es nicht möglich, Investitionen in erneuerbare Energien zu forcieren und damit die Energiewende sogar voranzutreiben? Diese Mär versuchen Befürworter:innen des Abkommens gerade zu verbreiten. Denn seit 2019 wird an einer Modernisierung des Vertragswerks gearbeitet, die noch im Juni 2022 mit einer Grundsatzeinigung abgeschlossen werden soll. Das Problem: Die Reform trägt nicht zur Lösung der bestehenden Probleme bei. Denn an den Grundfesten des Abkommens, dem Investor-Staat-Schiedsverfahren, wird nicht gerüttelt. Investoren sollen weiterhin umfassende Möglichkeiten haben, Staaten unter Umgehung nationaler Gerichte vor einer Paralleljustiz zu klagen. Das schwächt nicht nur die jeweilige nationale Gerichtsbarkeit, sondern führt auch dazu, dass Staaten aufgrund von Klagsandrohungen in ihren Handlungsspielräumen eingeschränkt werden. Dieser Effekt der Selbstbeschränkung des Staates wird als „regulatory chill“ bezeichnet. Das berühmteste Negativbeispiel ist der Konzern Vermilion, der Frankreich mit Klagsandrohungen dazu gebracht hat, ein ambitioniertes Klimagesetz in entscheidenden Punkten abzuändern. Auf diese Art können demokratisch legitimierte und gesellschaftlich notwendige Entscheidungsprozesse durch ausländische Investor:innen beeinflusst werden.

Im Zuge der derzeitigen Reform soll eine Vereinbarkeit mit dem Pariser Abkommen dadurch erreicht werden, dass der Schutz für Investitionen in fossile Energieträger graduell beendet wird. Der von der EU-Kommission Anfang 2021 dazu veröffentlichte Vorschlag wurde von den übrigen Vertragsparteien jedoch entschieden abgelehnt. Dieser Vorschlag sah bereits äußerst großzügige Übergangsfristen zum Auslaufen des Investitionsschutzes in fossile Energieträger bis weit in die 2030er-Jahre vor. Nun wird ein „flexibler“ Ansatz diskutiert, der es einzelnen Vertragsparteien wie beispielsweise der EU und ihren Mitgliedstaaten ermöglichen soll, den Investitionsschutz in Fossile auslaufen zu lassen. Eine Einigung wurde bei der letzten Verhandlungsrunde aber noch nicht erreicht.

Fakt ist: Die derzeit diskutierten Vorschläge verfehlen das Ziel, den ECV klimakompatibel zu gestalten, vollkommen. Selbst im optimistischsten Szenario könnten Öl- und Gaskonzerne noch nach 2030 ECV-Klagen einbringen. Zusätzlich werden die demokratiepolitisch bedenklichen Teile des Vertrags gar nicht im Zuge der Modernisierungsverhandlungen diskutiert. Inwiefern diese Reform daher dazu beitragen soll, die europäischen Emissionen bis 2030 um 55 % gesenkt zu haben, ist nicht nachvollziehbar.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen aus dem ECV austreten!

Der ECV stellt auch in einer modernisierten Fassung mit seinen Bestimmungen zu Investitionsschutz und dem Investor-Staat-Schiedsverfahren eine Bedrohung für unseren Rechtsstaat, die soziale Gerechtigkeit und die Energiewende dar. Wie jüngst in einem juristischen Kurzgutachten festgestellt wurde, bietet der Vertrag auch keinen nennenswerten Nutzen für EU-Mitgliedstaaten wie Österreich. Daher fordern immer mehr Stimmen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft den Ausstieg der EU und ihrer Mitgliedstaaten aus dem Vertrag. Rechtlich gesehen ist das möglich. Problematisch ist jedoch die im ECV vorgesehene „Fortbestandsklausel“, die im Wesentlichen den Schutz in (bereits getätigte) Investitionen selbst nach Ausstieg aus dem Vertrag für 20 Jahre verlängert. Dafür gibt es jedoch eine Lösung: Mit einem Abkommen unter den ausgetretenen Vertragsparteien kann die Fortbestandsklausel unmittelbar neutralisiert werden. Das Risiko für Klagen nach dem ECV könnte so bereits kurzfristig erheblich reduziert werden.

Wie geht es weiter?

Nach der für Ende Juni 2022 geplanten Grundsatzeinigung soll der reformierte ECV noch in diesem Jahr auf der Energiecharta-Konferenz von den Vertragsparteien angenommen werden. Aufgrund der weitreichenden Auswirkungen soll der neue Vertragstext dann den Weg durch die nationalen Parlamente nehmen, bevor eine Ratifikation durch die einzelnen Vertragsparteien möglich ist. Es wird daher von entscheidender Bedeutung sein, zu sehen, wie sich die österreichische Regierung bei Vorliegen des reformierten Vertragstextes positioniert und wie in der Folge die österreichischen Abgeordneten im Nationalrat abstimmen.

Hier ist klar zu fordern, dass es einen öffentlichen Diskurs über den ECV und seine Modernisierung geben muss. Vor- und Nachteile einer Zustimmung bzw. eines Austritts müssen sorgfältig abgewogen werden. Denn Entscheidungen, die so langfristige und tiefgreifende Auswirkungen auf uns alle haben, müssen von der Bevölkerung mitgetragen werden. Und das alles vor den großen Fragen im Hintergrund: Schaffen wir so die Klimawende? Kitten wir so die bestehenden Spaltungen in der Gesellschaft, anstatt sie zu vergrößern?

Derzeit ist es um den ECV und seine Reform noch eher ruhig, auch wenn einzelne Organisationen und zivilgesellschaftliche Gruppierungen bereits versuchen, auf den Vertrag und seine klimapolitischen Auswirkungen aufmerksam zu machen. Um dieses fossile Überbleibsel des letzten Jahrhunderts allerdings unwirksam zu machen, wird es einen breiten Schulterschluss unterschiedlicher Akteur:innen brauchen, ähnlich wie dies beispielsweise beim Handelsabkommen mit Kanada (CETA)  bzw. mit den USA (TTIP) der Fall war. Gerade auch, weil ein Einwirken auf die momentan stattfindenden Reformverhandlungen nicht möglich ist, da diese, wie auch die Schiedsverfahren selbst, im Geheimen stattfinden.

Aus demokratie-, umwelt- und energiepolitischer Sicht kann nur eine Ablehnung des Reformvorschlags und damit des Vertrages selbst den Weg in Richtung Klimaneutralität ebnen. Dem stehen Interessen privater Investor:innen jedenfalls diametral entgegen. Derzeit ist noch offen, ob dieses Fossil zu Grabe getragen oder künstlich am Leben erhalten werden wird. Wir sollten deshalb alles daransetzen, dass es dort seinen Platz findet, wo es zeitgeschichtlich hingehört: im Museum.

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