Das Strommarktdesign gefährdet unseren Wohlstand

05. Juni 2023

Die zentralen energiepolitischen Ziele – Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit und Leistbarkeit – werden durch das EU-Strommarktdesign nicht ausreichend unterstützt. Die hohen und volatilen Preise führen zu Übergewinnen bei den Stromerzeugern. Ausgerechnet erneuerbare Energie wird so teuer, dies belastet die Verbraucher:innen und schadet der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie. Das führt insgesamt zu einem Wohlstandsverlust in Europa. Eine umfassende Reform des EU-Strommarktdesigns ist möglich und notwendig. Doch leider abgesagt.

Energie ist kein Gut wie jedes andere

Die sichere, leistbare und – im Sinne der Dekarbonisierung – nachhaltige Versorgung mit elektrischer Energie ist wesentliche Grundlage für die Teilhabe an unserer Gesellschaft und Basis unseres Wirtschaftssystems. Um unseren Lebensraum lebenswert zu erhalten, muss die Energiebereitstellung 100 Prozent klimaneutral werden. Das kann nur gelingen, wenn wir fossile Energie durch erneuerbaren Strom ersetzen.

Manipulierter Gasmarkt

Bereits vor dem groß angelegten Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 ist der Strompreis Hand in Hand mit den Gaspreisen stark gestiegen. Mit Kriegsbeginn hat diese Dynamik weiter zugenommen. Und so betrug der durchschnittliche Börsenpreis für eine Megawattstunde Strom im vergangenen Jahr mit 284 Euro fast siebenmal so viel wie im langjährigen Durchschnitt.

Europäische Staaten waren und sind nach wie vor stark von russischem Gas abhängig. Die russische Gazprom als mächtigste Akteurin am oligopolistisch organisierten Gasmarkt hat bereits 2021 begonnen, den Gaspreis zu manipulieren. Dies konnte sie aufgrund ihre Marktmacht ganz einfach durch bewusste Angebotsreduktion.

Das Strommarktdesign als Umverteilungsmaschinerie

Dass auch der Börsenpreis für Strom so stark gestiegen ist, verwundert zunächst, zumal knapp 60 Prozent der EU-Stromproduktion nicht aus fossilen Quellen stammen, sondern mit erneuerbarer Energie oder Atomkraft produziert werden. Doch das EU-Strommarktdesign sieht vor: Der Börsenpreis für Strom wird nach dem Merit-Order-System ermittelt. Das bedeutet: Die Produktionskosten des teuersten noch benötigten Kraftwerks bestimmen den Preis. Aufgrund der schwankenden Einspeisung von erneuerbarer Energie ist das meist ein Gaskraftwerk. Der Strompreis steigt daher mit dem Gaspreis, obwohl sich die Produktionskosten für mehr als 60 Prozent der EU-Stromproduktion nicht verändert haben. Verstärkt wird dieser preistreibende Effekt durch spekulative Geschäfte auf den Gas- und Strommärkten. Es sind häufig marktfremde Akteure wie Banken und der Hochfrequenzhandel, die die mangelnde Liquidität im Spot- und Future-Markt der Energiebörsen für spekulative Arbitragegeschäfte nutzen. Dies verstärkt die Unsicherheit, erhöht die Volatilität und treibt so die Preise weiter nach oben. Die Folge: ein dramatischer und anhaltender Anstieg der Inflation.

Die Verwerfungen am Gasmarkt in Kombination mit dem EU-Strommarktdesign haben also den Strompreis massiv in die Höhe getrieben. Davon profitiert haben die Betreiber von Wasserkraft-, Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen, aber auch Atomkraftwerken. Ihre Produktionskosten (sogenannte „Gestehungskosten“) haben sich nicht verändert, doch plötzlich konnten sie den Strom zum siebenfachen Preis verkaufen.

Damit kam es (und kommt es nach wie vor) zu einer nie dagewesenen Umverteilung von den Stromverbraucher:innen hin zu den Energieunternehmen.

Öffentliche Subventionen statt Markteingriffe

Spanien und Portugal haben auf die Marktverwerfungen reagiert, indem sie in den Markt eingegriffen haben. Bereits seit Juni 2022 wird dort der Gaspreis für Gaskraftwerke gedeckelt, d. h. sowohl die Input-Preise (Gas) als auch die Output-Preise (Strom) von Gaskraftwerken sind reguliert. Damit ist es gelungen, den Strompreis für alle Erzeugungstechnologien auf einem deutlich niedrigeren Niveau zu stabilisieren. Gleichzeitig werden die Übergewinne bei Betreibern erneuerbarer Energie oder von Atomkraftwerken reduziert. Eine Studie der österreichischen Energieagentur im Auftrag der AK konnte zeigen, dass dieses Modell bei EU-weiter Umsetzung noch besser funktionieren würde.

Doch die meisten EU-Staaten gingen einen anderen Weg. Sie versuchen mit staatlichen Transfers die Auswirkungen der extrem hohen Energiepreise einzudämmen. Allein im Zeitraum September 2021 bis Mitte März 2023 haben die EU-Staaten in Summe etwa 646 Mrd. Euro in Maßnahmen investiert, um Verbraucher:innen vor den gestiegenen Energiepreisen zu schützen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Wirkungslose Übergewinnsteuern

Die massiven Übergewinne im Energiesektor wurden hingegen in vielen Ländern, darunter Österreich, lange gar nicht berührt. Erst im Herbst 2022 beschloss die EU die Abschöpfung von Übergewinnen ab 1.12.2022. Die konkrete Ausgestaltung blieb dabei den Mitgliedsstaaten überlassen. In den meisten Fällen ist die konkrete Ausgestaltung dieser Steuern jedoch nur bedingt wirksam und das entsprechende Abgabenaufkommen in Relation zu den tatsächlichen Zufallsgewinnen äußerst gering. Damit konnten die zur Abschöpfung der Übergewinne ergriffenen Maßnahmen die zu beobachtende, gigantische Umverteilung von den Verbraucher:innen hin zu den Energieerzeugern also nicht verhindern, nein, nicht einmal deutlich reduzieren. Das Abgabenaufkommen reicht nicht annähernd aus, um die Subventionen an private Haushalte und Unternehmen, mit denen versucht wird den Schaden überhöhter Energiepreise für Wirtschaft und Gesellschaft einzudämmen, zu finanzieren. Damit kommt es insgesamt zu einer starken Belastung der nationalstaatlichen Budgets. Gleichzeitig sind die inflationsdämpfenden Effekte, aufgrund der Ausgestaltung der staatlichen Transfers, häufig eher gering.

Die abgesagte Strommarktreform

Auch EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hatte das grundlegende Problem schon relativ früh erkannt und meinte im Juni 2022 vor dem EU-Parlament: „What is the problem is the structure of the [power] market“ und „This market system does not work anymore. We have to reform it.“

Doch tatsächlich zeigt der von der EU-Kommission im März vorgelegte Legislativvorschlag nur eines deutlich: Die grundlegende Reform des Strommarktdesigns ist abgesagt.

Das bestehende System wird im Wesentlichen beibehalten – das gilt auch für das Merit-Order-System: Das teuerste noch benötigte Kraftwerk – häufig ein Gaskraftwerk – soll auch weiterhin den Preis bestimmen.

Anstelle tiefgreifender Reformen möchte die EU-Kommission lediglich den vorzeitigen und langfristigen Handel von Strom etwas mehr forcieren. Das bedeutet, dass sogenannte Future-Kontrakte, also im Vorhinein an der Börse gehandelte Verträge für den Kauf und Verkauf von Strom, an Bedeutung gewinnen sollen. Außerdem soll es künftig mehr Direktverträge zwischen Erzeugern und Abnehmern geben. Für die Förderung neuer Erzeugungsanlagen sollen, zumindest für einige Jahre, Preisober- und Preisuntergrenzen (Contract for Differences) gelten, wobei der Staat einspringt, wenn die Preise unter eine bestimmte Grenze fallen.

Strompreise bleiben hoch

Damit werden die eigentlichen Probleme nicht gelöst. Die Preise für Gas und damit auch für Strom sind nach wie vor hoch. Trotz der gesunkenen Preise in den letzten Wochen sind Gas und Strom im Großhandel noch immer wesentlich teuer als im langjährigen Durchschnitt. Aktuelle Prognosen gehen zudem davon aus, dass der Strompreis auch in den kommenden Jahren mit rund 80 bis 130 Euro/MWh sehr hoch bleiben wird. Die Handelspreise haben sich damit vollständig von den tatsächlichen Herstellungskosten entkoppelt. Die gigantische Umverteilung von Energieverbraucher:innen zu den Energieunternehmen geht weiter. Dabei sind die derzeit volatilen und hohen Preise nicht nur eine massive finanzielle Belastung für Verbraucher:innen, sondern schaden der gesamten Wirtschaft.

Startschuss für den Subventionswettbewerb

Die deutsche Bundesregierung hatte sich auf EU-Ebene gegen eine grundlegende Reform des Strommarktdesigns gewehrt. Stattdessen plant Wirtschaftsminister Robert Habeck nun den Stromverbrauch der energieintensiven Industrie mit Steuergeldern zu subventionieren. Darüber hinaus ist angedacht, dass die energieintensive Industrie von Netzgebühren teilbefreit wird und exklusiv von neuen günstigen Stromerzeugungsanlagen profitieren darf. Für alle anderen Verbraucher:innen, vom privaten Haushalt über den Gewerbebetrieb bis hin zu nicht begünstigten Produktionsbetrieben, bedeutet dies nichts Gutes. Ohne Reform des Marktdesigns werden ihre Energiekosten hoch bleiben, zudem werden sie die direkten und indirekte Subventionen der energieintensiven Industrie (mit-)finanzieren müssen. Doch dem nicht genug: Deutschland feuert damit den EU-internen Subventionswettbewerb weiter an. Andere EU-Staaten werden nachziehen.

Dekarbonisierung braucht ein neues Strommarktdesign

Nur eine tiefgreifende Reform des Strommarktdesigns kann zu nachhaltig wettbewerbsfähigen Strompreisen führen. Denn nur durch eine Entkopplung der Strompreise vom Gaspreis kann die Umverteilung gebremst und eine Stabilisierung der Preise erreicht werden. Gerade für die Energiewende ist leistbarer Strom ein entscheidender Faktor: Der Einsatz von Wärmepumpen, der Umstieg auf E-Mobilität oder beispielsweise Elektrohochöfen in der Stahlindustrie, die Herstellung von grünem Wasserstoff, aber auch die Leistbarkeit des Schienenverkehrs hängen davon ab, ob ausreichend leistbarer erneuerbarer Strom zur Verfügung steht. Weniger volatile, stabilere Preise braucht es aber auch, um Sicherheit für Investitionen in erneuerbare Energien zu schaffen.

Notwendig ist eine grundlegende Überarbeitung des Preismechanismus. Dafür kommen mehrere Optionen infrage. So kann eine Entkopplung des Strompreises vom Gaspreis etwa durch eine Teilung des Strommarktes in rohstoffabhängige und rohstoffunabhängige Anlagen gelingen. Das bedeutet unterschiedliche Preise für rohstoffabhängige und rohstoffunabhängige Anlagen. Der Marktpreis für Verbraucher:innen setzt sich aus dem gewichteten Durchschnitt zusammen. Alternativ ist eine Reform des sogenannten Euphemia-Mechanismus denkbar, also jenes Algorithmus, welcher die Preisbildung technisch umsetzt. Künftig könnte vorgesehen werden, dass nicht mehr das teuerste Kraftwerk den Preis festlegt, sondern eine günstigere Technologie oder der gewichtete Durchschnittspreis als preissetzend festgelegt wird. Benötigte teurere Kraftwerke könnten ex post, durch die Abschöpfung der Übergewinne bei günstigeren Kraftwerken, vergütet werden.

Energie – ein öffentliches Gut

Es gibt unterschiedliche Wege, den Preisfindungsmechanismus für Strom zu verbessern. Klar ist aber: Stark schwankende oder anhaltend hohe Energiepreise führen auf lange Sicht zu Standortnachteilen und sozialen Problemen, sowohl für einzelne Mitgliedsstaaten als auch für die EU in ihrer Gesamtheit. Es gilt daher die Stromversorgung als Teil der Daseinsvorsorge zu begreifen und Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit im Sinn der Dekarbonisierung sowie Leistbarkeit als übergeordnete Ziele zu verankern. Ein funktionierendes Strommarktdesign muss sicherstellen, dass die Strompreise künftig die tatsächlichen Herstellungskosten widerspiegeln und sich nicht mehr an den teuersten Stromerzeugungstechnologien orientieren.

Darüber hinaus gilt es Energie auch EU-rechtlich als Teil der Daseinsvorsorge zu definieren. Versorgungssicherheit, Leistbarkeit und Nachhaltigkeit im Sinne der Dekarbonisierung sind als übergeordnete Ziele festzuschreiben. Sie müssen Vorrang vor reinen Profitinteressen haben.

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