Comeback der Industriepolitik

25. April 2023

In den USA soll mit dem sogenannten Inflation Reduction Act (IRA) die Wirtschaft klimafest, wettbewerbsfähig und gleichzeitig unabhängiger von kritischen Rohstoffen und ausländischen Vorleistungen werden. Neben den sich überschlagenden Krisen und Herausforderungen aller Art haben nicht zuletzt diese Aktivitäten der USA auch die Europäer:innen aus dem industriepolitischen Dornröschenschlaf erweckt. Aber wer hat die besseren Rezepte für eine „Just Transition“? Reichen die Konzepte aus, um Wohlstand für alle zu sichern?

Auf- und Abstieg der Industriepolitik

Für Nordamerika und Europa ist Industriepolitik kein neues Thema. In den 1930er-Jahren bekämpfte US-Präsident Roosevelt mit dem New Deal (Wirtschafts- und Sozialreformen, industriepolitische Planung und Steuerung) erfolgreich die Folgen der Weltwirtschaftskrise. Damit konnten die USA ihre Führungsrolle in der Weltwirtschaft behaupten. Viele Schlüsseltechnologien wurden zwischen Chicago und Houston entwickelt und produziert.

In Europa erforderte der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls einen handelnden Staat. Die Montanunion, die Vergemeinschaftung von Kohle, Stahl und Atom, war das erste große gemeinsame industriepolitische Projekt auf dem alten Kontinent. Anschließend folgten zahlreiche zwischenstaatliche Abkommen, Förderinitiativen, Kooperationsprogramme sowie gemeinsame Regelwerke für einzelne Wirtschaftssektoren. Die Airbus-Gründung im Jahr 1969 markierte den Höhepunkt dieser Epoche.

In den 1980er-Jahren führten Ronald Reagan und Margaret Thatcher die neoliberale Konterrevolution an. Eine Welle der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung rollte durch die USA, Großbritannien und in Folge abgeschwächt durch ganz Europa. Dezentrales Wissen und das Handeln der Marktakteure sollten die Richtung des technischen Fortschritts bestimmen. Der Glaube an effiziente Märkte verdrängte den Primat der Politik. Industriepolitische Spielräume wurden mit Beihilfen- und Subventionsverboten stark eingeschränkt. Zwei große Integrationsprojekte trieb die EU-Kommission unter diesen Vorzeichen voran: den gemeinsamen Binnenmarkt und die Währungsunion.

Diese marktradikalen Konzepte hatten klare negative Konsequenzen. Die wirtschaftliche und technologische Entwicklung wurde geschwächt, die ökonomische Ungleichheit und die regionalen Ungleichgewichte verstärkten sich. Aus dem amerikanischen Manufacturing Belt (Detroit, Cleveland, Pittsburgh, …) wurde unter Reagan, Clinton und Bush ein Rust Belt, der Industrieanteil am BIP fiel von 25 Prozent (1960) auf heute 12 Prozent.

Kein Wunder, dass Staaten großen Schaden anrichten, wenn man den Strukturwandel nicht gestaltet, wenn man übersieht, dass Unternehmen riskante Investitionen unterlassen und weiter mit veralteten klimaschädlichen Technologien arbeiten, weil ihnen Risiken, Abschreibungszeiträume und Fixkosten zu hoch sind, wenn man offensichtliches und vielfältiges Marktversagen (Unsicherheiten, Anpassungskosten, Netzwerkeffekte, Externalitäten, Pfadabhängigkeiten) negiert.

Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts

Die Klimakrise ist dabei das größte Marktversagen der Menschheitsgeschichte. Der Staat ist gefordert, den notwendigen ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zu organisieren – die Natur muss vor der Dynamik der Kapitalverwertung geschützt werden. Dazu kommen eine Reihe weiterer Krisen: Finanzmarktkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, die Corona-Pandemie und zuletzt der russische Angriffskrieg mit den inflationären Folgen. Alles Gründe, warum der Staat intervenieren, Rettungsschirme spannen, Konjunkturpakete schnüren, Überbrückungshilfen spendieren, Kurzarbeit ermöglichen, die Inflation bekämpfen, den Kapitalismus notoperieren muss.

Darüber hinaus verschärft und verändert sich die weltweite Konkurrenz. China etwa stieg mithilfe staatlicher Planung und Steuerung in den Club der führenden Industrienationen auf. Bei erneuerbaren Energien und Elektromobilität spielt China bereits in der Champions League, beherrscht mit Marktanteilen über 80 Prozent die Weltmärkte für Solar- und Windenergie. Chinas Strategie zielt nun darauf ab, eine globale Digitalmacht zu werden. Dadurch werden Washington und Brüssel unter Druck gesetzt, denn Schlüsselindustrien (Wind- und Solarenergie, Batterien für Elektrofahrzeuge, Mikrochips, Cloud-Dienstleistungen etc.) sind zentrale Innovationstreiber. Sie konzentrieren sich weltweit aber nur in wenigen Ländern.

Staat und Industriepolitik sind in den USA wieder „in“

Die USA reagieren auf all die Herausforderungen mit der Neuentdeckung von Industriepolitik und Wirtschaftssanktionen. Die Biden-Administration versucht, industrielle Wertschöpfung und gute Arbeit wieder zurückzuholen. Denn die US-Industrie hat den Anschluss an die europäische und chinesische Konkurrenz verloren. Das Investitions- und Subventionspaket vom Sommer 2022 beläuft sich auf rund 370 Mrd. Dollar – in Summe rund 2 Billionen Dollar über zehn Jahre. Dieser sogenannte Inflation Reduction Act (IRA) soll die US-Wirtschaft klimafest, digitaler, wettbewerbsfähig, unabhängiger von kritischen Rohstoffen und von ausländischen Vorleistungen machen. Zudem sollen die Emissionen von Gas- und Kohlekraftwerken sowie landwirtschaftlichen Betrieben, Häfen und Gemeinden sinken. Staatshilfen gibt es aber nur für Unternehmen, die in Nordamerika produzieren, beziehungsweise nur für Produkte, die in Nordamerika oder in Ländern mit Freihandelsabkommen hergestellt werden – was immer die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) dazu sagen. Im Welthandel gilt heute wieder das Recht des Stärkeren. Des Weiteren werden die Subventionen teilweise an die Lohnhöhe sowie an Ausbildungs- und Qualifizierungspflichten der Unternehmen gebunden.

Im 21. Jahrhundert will die größte Wirtschaftsmacht über industriepolitische Maßnahmen wieder Schlüsseltechnologien kontrollieren – Entwicklung, Investitionen und Ansiedlung.

Comeback des Staates – auch in Europa?

Einige Industriekapitäne, Ökonom:innen und Politiker:innen befürchten, dass der Mix aus hohen Energiepreisen und attraktiven US-Subventionen zu einem Exodus europäischer Industrieunternehmen führen könnte. Die industriepolitische Großoffensive der USA führte in Europa zu hitzigen Debatten und hektischem Handeln. Von der Leyen & Co wollen Beihilferegeln lockern, Zukunftstechnologien fördern, Aus- und Weiterbildung verbessern, Genehmigungsverfahren beschleunigen und Investitionen anreizen. Tatsächlich muss Europa wieder ein politisch fortschrittlicher Akteur auf der Weltbühne werden. Bei Klimawandel, Pandemie, Migration oder Energiekrise können die Probleme besser auf europäischer Ebene angegangen werden. Die US-Initiative ist eine Chance für Europa, eine zielführende industrie- und dienstleistungspolitische Strategie zu entwickeln, um den sozial-ökologischen Umbau erfolgreich zu gestalten.

Ein europäischer Green New Deal

Ein solches Aufbau- und Investitionsprogramm für eine gesunde Umwelt sollte sich auf die Förderung der Herstellung strategisch wichtiger Produkte und Dienstleistungen konzentrieren (Batterien für Elektrofahrzeuge, Solaranlagen, Windräder, Wasserstoff, Mikrochips, autonomes Fahren, KI, neue Mobilitätskonzepte, medizinische Diagnostik, Quanten-Computing usw.). Zwar fördert Brüssel inzwischen strategisch wichtige Projekte einzelner Mitgliedsstaaten durch das Programm Important Projects of Common European Interest (IPCEI) und lässt insgesamt für den Klimaschutz bis 2027 rund 645 Mrd. Euro (aus den Programmen NextGenerationEU und REPowerEU) für Investitionen in den Mitgliedsstaaten mittels zinsgünstiger Kredite springen. Das reicht aber nicht aus.

Die Wettbewerbslogik des europäischen Beihilferechts steht einer wirkungsmächtigen europäischen Industrie- und Dienstleistungspolitik weiter im Weg. Die europäische Infrastruktur muss modernisiert, das öffentliche Beschaffungswesen sozial und ökologisch ausgerichtet, strategisch wichtige Unternehmen müssen vor Übernahmen geschützt und Schlüsselinvestitionen durch Staatsbeteiligungen gefördert werden. Ferner kann eine europäische Regulierung energieeffiziente und ressourcensparende Produkte und Innovationen fördern. Und eine CO2-Grenzsteuer auf außereuropäische Importe kann verhindern, dass heimische Unternehmen durch eine klimafreundliche Produktion Wettbewerbsnachteile erleiden.

Eine solche europäische Industrie- und Dienstleistungspolitik kann durch einen europäischen Souveränitätsfonds, gemeinsame Anleihen (Eurobonds) und/oder Steuern finanziert werden. Und es sollte klar sein, dass moderne Industrie- und Dienstleistungspolitik immer eine Politik für gute Arbeit sein muss. Deswegen sollten europäische Fördermittel an Tarifverträge, Mitbestimmung und Qualifizierung geknüpft werden.

Einschätzung der Industriestrategien: USA vs. EU

Die neue Brüsseler Industriepolitik ist marktfreundlich, technologieoffen, bürokratisch und projektbezogen. Die US-Industriepolitik konzentriert sich hingegen auf ausgewählte Wirtschaftssektoren und Produkte. Sie fördert den Ausbau heimischer Produktionskapazitäten für Zukunftstechnologien. So können zwischen New York und Los Angeles strategisch wichtige Schlüsselindustrien entstehen. Darüber hinaus verknüpft die US-Regierung ihre Staatshilfen mit guter Arbeit. Die US-amerikanische Industriepolitik ist für den sozial-ökologischen Umbau zielführender als die unbeholfenen europäischen Gehversuche.

Zur Wahrheit gehört aber auch: In Europa ist und bleibt vorderhand der Nationalstaat die zentrale Arena der Industrie- und Dienstleistungspolitik. Dadurch verschärfen sich die regionalen Ungleichgewichte in der EU weiter. Nichts zu tun ist aber keine Alternative. Idealerweise sollten die unterschiedlichen nationalen Aktivitäten zukünftig stärker europäisch koordiniert werden, um eine gleichmäßigere wirtschaftliche Entwicklung der europäischen Regionen zu bewirken.

Obwohl die Industriepolitik wichtige Beiträge zur sozial-ökologischen Transformation leisten kann, sollte dem Dienstleistungssektor mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. In diesem arbeiten bis zu vier Fünftel der Beschäftigten in modernen Volkswirtschaften – mit ähnlich großem Wertschöpfungsanteil. Insbesondere die Daseinsvorsorge und der Sozialstaat sind für die wirtschaftliche Entwicklung der führenden Volkswirtschaften von zentraler Bedeutung. Daher bedarf es einer speziellen, passgenauen Branchenpolitik, um den sozial-ökologischen Umbau der Dienstleistungssektoren hin zu strategischen Zukunftsbranchen zu gestalten. Eine sozial-ökologische Transformationsstrategie muss immer Dienstleistungen, Daseinsvorsorge und Sozialstaat einschließen.

Mehr Demokratie wagen

Fortschrittliche Industrie- und Dienstleistungspolitik stellt die Verteilungsfrage. Wenn der Aufbau industrieller Kapazitäten oder innovativer Produkte aus öffentlichen Geldern gefördert wird, muss die Allgemeinheit etwas dafür zurückbekommen. Dies kann in Form öffentlicher Beteiligungen oder einer Gewinnabschöpfung über Steuern geschehen.

Eine fortschrittliche Industrie- und Dienstleistungspolitik will auch – anders als der industriepolitische Mainstream – die wirtschaftliche Steuerung demokratisieren und den Unternehmen gesellschaftliche Ziele vorgeben. Betriebliche und Unternehmensmitbestimmung müssen ausgebaut werden.

Eine progressive Industrie- und Dienstleistungspolitik setzt auf eine gemischte Wirtschaft. In vielen Wirtschaftsbereichen gibt es bereits heute sowohl Privateigentum, Markt und Wettbewerb als auch staatliches Regeln, Planen und Entwickeln. Wo Märkte ihren Wohlfahrtszweck nicht erfüllen, sollten sie durch andere Eigentumsformen und Verfahren ersetzt werden. Öffentliche Unternehmen und Genossenschaften könnten dabei eine wichtige Rolle spielen.

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