Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle?
Die alte Utopie eines existenzsichernden bedingungslosen Einkommens gewinnt parallel zum langfristigen Anstieg von Arbeitslosigkeit und Prekarisierung an Zuspruch. Sie öffnet auch die Debatte über die grundlegenden Aufgaben des Sozialstaates, insbesondere was die Gestaltung der Arbeitsbedingungen, sozialer Absicherung und Arbeitsmarktintegration betrifft. Gesellschaftliche Freiheitsansprüche lassen sich dabei am wirkungsvollsten durch eine Erweiterung des bestehenden Systems umsetzen – insbesondere hinsichtlich der Freizeit-, Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten bei gleichzeitiger sozialer Absicherung.
Historische Wurzeln des Grundeinkommens
Die Vorstellung eines bedingungslosen Einkommens für alle Gesellschaftsmitglieder reicht weit ins 19. Jahrhundert zurück und entstand als utopisches Konzept von Sozialreformern zu einer Zeit, in der große Teile der Bevölkerung von bitterer Armut betroffen waren. Eine breitere wissenschaftliche Diskussion des Themas begann im 20. Jahrhundert und fand auch politische Verbündete. In Österreich flammte die Diskussion um ein Grundeinkommen in den 1980er-Jahren auf, als die Arbeitslosigkeit dauerhaft anstieg. Eingebettet waren diese Debatten häufig in gesellschaftspolitische Anliegen wie die Ökologisierung des Produktionssystems oder die Transformation zu einem solidarisch-kollektivistischen Wirtschaftssystem.
Grundeinkommen: bedingungslos und existenzsichernd?
Eine einheitliche Definition des Begriffs des Grundeinkommens existiert nicht. In der Regel werden mit dem Begriff vier Merkmale verbunden (z. B. Spannagel 2015):
- Bedingungslos: Das heißt, der Bezug ist weder an die Bereitschaft, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen oder sich um eine solche zu bemühen, noch an den vorausgegangenen Erwerb von Ansprüchen an eine Versicherung gebunden.
- Ohne Bedürftigkeitsprüfung, also von sozialadministrativen Behörden unabhängig von der finanziellen Lage einer Person ausgezahlt.
- Individuelle Leistung: Es steht demnach allen Personen zu, die Mitglieder einer politischen, d. h. nationalstaatlich abgegrenzten Solidargemeinschaft sind – und nicht etwa einer Bedarfsgemeinschaft wie einem Haushalt.
- Existenzsichernde Höhe: Um materielle Existenz und gesellschaftliche Teilhabe zu sichern, muss ein Grundeinkommen eine ausreichende Höhe haben. Als Mindestniveau kann beispielsweise die Armutsrisikogrenze der EU herangezogen werden.
Das letzte Kriterium ist allerdings in vielen Konzepten, die unter dem Namen „Grundeinkommen“ im Umlauf sind, nicht erfüllt. Solche Arten von Grundeinkommen stellen reformierte Formen bestehender Grundsicherungen dar, deren Zugang aber universell ist. Wie schwierig die Umsetzung eines armutsvermeidenden Einkommensniveaus ist, verdeutlicht der Umstand, dass in der EU in kaum einem Land die gesetzlichen Mindestlöhne über der Armutsschwelle liegen.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit
So unterschiedlich die Modelle für ein Grundeinkommen sind, so vielfältig sind auch die Gründe, die für ein bedingungsloses Grundeinkommen sprechen. Um die stärksten Formen der Armut abzumildern und die politisch-gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten, fand eine schrittweise Dekommodifizierung der Arbeit durch die Etablierung eines Systems des Arbeits- und Sozialschutzes zur Absicherung von Risiken wie Arbeitslosigkeit, Alter und Krankheit statt. Die sozialen Sicherungssysteme in vielen Ländern, wie auch Österreich, sind stark an die Entwicklung auf den Erwerbsarbeitsmärkten gekoppelt. In Zeiten steigender Arbeitslosigkeit, der Zunahme atypischer Beschäftigung, demografischen Wandels, zunehmender Internationalisierung der Märkte und steigender Steuervermeidung und -flucht stehen die Wohlfahrtsstaaten in Österreich und Europa trotz wiederholter Reformen vor großen Herausforderungen. Besonders für Frauen entstehen – aufgrund unterbrochener Erwerbsbiografien, gering bezahlter und sozialversicherungsrechtlich schlecht abgesicherter Arbeit – Mängel im sozialen Schutz.
Die Debatten um ein Grundeinkommen konnten in Ländern wie den Niederlanden und Finnland dazu genutzt werden, die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit als zentrale Aufgabe des Wohlfahrtsstaates wieder in den Mittelpunkt des politischen Diskurses zu stellen. In beiden Ländern wurde testweise ein bedingungsloses Grundeinkommen an eine bestimmte Anzahl von Arbeitslosen ausbezahlt. Als Pilotversuch wird ein „solidarisches Grundeinkommen“ beispielsweise in Berlin eingeführt.
Ebenfalls auf eine bestimmte Personengruppe ausgerichtet, wird in Österreich in einem Pilotversuch der Volkshilfe ein Modell der Kindergrundsicherung getestet. Seit Jänner 2019 unterstützt die Volkshilfe armutsbetroffene Kinder. Die Familien erhalten, gestaffelt nach Haushaltseinkommen, durchschnittlich 320 Euro pro Kind. Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet, um Effekte des „Grundeinkommens“ auf die materielle Versorgung, Bildungschancen, soziale Teilhabe und gesundheitliche Entwicklung der Kinder zu untersuchen.
Ende des Zwangs zur Erwerbsarbeit als Voraussetzung für höhere Jobqualität?
Die Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen wird nicht nur im Kontext der Bekämpfung von Armut und Erwerbslosigkeit, sondern auch hinsichtlich der Qualität der Arbeit geführt. Der Anteil von ArbeitnehmerInnen in befristeter, instabiler, Teilzeit- und gering bezahlter Arbeit ist seit Ende der 1990er-Jahre in den EU-Ländern deutlich angestiegen (siehe Europa-Teil des entsprechenden ILO-Berichts, S. 52ff.).
Ein Grundeinkommen in ausreichender Höhe könnte es Menschen ermöglichen, temporär oder längerfristig aus dem Erwerbsarbeitsverhältnis auszusteigen. Die Gründe dafür können der Ausstieg aus physisch und psychisch belastender Arbeit sein oder das Bedürfnis, sich zivilgesellschaftlich, ehrenamtlich oder familiär zu engagieren. Das Grundeinkommen könnte so zum Rückgang des Arbeitsangebots für bestimmte, oft schlecht bezahlte und belastende berufliche Tätigkeiten wie Kranken- und Altenpflege beitragen. Das würde die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften stärken und eine Verbesserung von Arbeitsbedingungen und Entlohnung eher umsetzbar machen. Nachdem das vor allem für Berufe gilt, die überwiegend von Frauen ausgeübt werden, würde sich so auch die Einkommensungleichheit zwischen den Geschlechtern verringern.
Kritik am Grundeinkommen
GegnerInnen des bedingungslosen Grundeinkommens bringen oft vor, dass es ungerecht sei, Menschen einen hedonistischen Lebensstil ohne Gegenleistung zu ermöglichen, der von arbeitenden Menschen finanziert wird. Dem ist wenig entgegenzusetzen, außer dass auch bisher große Teile der Bevölkerung, wie beispielsweise Frauen, die auf Erwerbsarbeit verzichten, um sich unentgeltlich der Kindererziehung oder der Pflege alter und kranker Familienmitglieder zu widmen, benachteiligt werden. Außerdem kann aus frauenpolitischer Perspektive auch eingewandt werden, dass das Grundeinkommen einerseits zwar die Abhängigkeit von belastender Arbeit sowie vom Ehepartner verringert, andererseits bestehende Geschlechterverhältnisse zementieren kann, weil es bisher unbezahlte familiäre Arbeit finanziell anerkennt und Frauen von der Erwerbstätigkeit abhalten kann.
Ein zwingenderes Gegenargument ist, dass die Bedingungslosigkeit ungerecht ist, weil sie spezielle Bedarfe von Menschen, wie Behinderung oder chronische Krankheit, nicht berücksichtigt. Der Sozialstaat hingegen berücksichtigt spezielle Bedarfe, die entweder chronisch oder lebensphasenspezifisch sind, wie Alter, Pflegebedürftigkeit und Arbeitslosigkeit, und die für große Teile der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens entstehen. Gleichzeitig würden durch die Auszahlung nach dem Gießkannenprinzip auch all jene das Grundeinkommen erhalten, die gar nicht darauf angewiesen sind, da sie ein ausreichendes Erwerbs- oder Vermögenseinkommen beziehen. Ein Grundeinkommen, das zusätzlich zu bestehenden Sozialtransfers gewährt wird, würde die Grenzen der Finanzierbarkeit des gesamten Sozialsystems bei Weitem überschreiten.
Ein in der Debatte um das Grundeinkommen vernachlässigter Aspekt ist die gesellschaftliche Integrationsfunktion der Erwerbsarbeit. Frauen und MigrantInnen beispielsweise waren in der Lage, ihre gesellschaftliche Position durch die Teilnahme am Arbeitsmarkt zu verbessern. Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte auch milieu- und klassenspezifische Ungleichheiten hinsichtlich der Arbeitsmarktpartizipation zementieren, indem es Menschen, auch über Generationen hinweg, von der Aufnahme einer Erwerbsarbeit abhält. Erwerbsarbeit ist immer mit gesellschaftlicher Teilhabe verbunden. Ein Verzicht auf sie birgt die Gefahr der sozialen Marginalisierung und Ausgrenzung.
Ein gerechterer Sozialstaat für alle, die ihn brauchen
Die Debatte um ein Grundeinkommen rückt die grundlegenden Aufgaben des Sozialstaates und der Kollektivvertragspolitik wieder in den Vordergrund. Österreich verfügt über einen gut ausgebauten und im internationalen Vergleich umverteilungswirksamen und lebensstandardsichernden Sozialstaat. Studien deuten darauf hin, dass die Akzeptanz einer Umverteilungspolitik hoch ist, diese aber zweck- und bedürftigkeitsorientiert sein muss, um als gerecht zu gelten. Die Bekämpfung der Armut muss daher stärker als bisher ein vorrangiges Ziel sozialstaatlicher Reformen sein. Von großer Bedeutung ist dabei der Ausbau der bedarfsorientierten Mindestsicherung. Verbesserungen in der Mindestsicherung erfordern eine armutsvermeidende und transparente Ausgestaltung. Das bedeutet eine Erhöhung an die Armutsgefährdungsschwelle (inklusive der Erhöhung des Vermögensfreibetrages und der Ausweitung des Rechtsanspruchs auf Sonderbedarfe) sowie die Förderung der Arbeitsmarktintegration durch ausreichende Mittel für die Arbeitsmarktpolitik.
Ebenso wichtig ist der aktive Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, der in der Grundeinkommensdiskussion oft als obsolet betrachtet wird. Die Rolle des öffentlichen und gemeinnützigen Sektors als Arbeitgeber, auch für vulnerable Beschäftigtengruppen, soll wieder gestärkt werden. Treffsicherere und sozial ausgewogenere Familienleistungen, die bedürftigen Familien stärker zugutekommen, leisten einen Beitrag zur Verringerung der sozialen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Neben der Verbesserung der eigenständigen Existenzsicherung von Frauen – über Erwerbsarbeit und den Sozialstaat – ist die Angleichung der Löhne von Frauen und Männern durch die Kollektivvertragspolitik der Gewerkschaften unverzichtbar, um geschlechterspezifische Ungleichheiten zu bekämpfen.
Mehr Entfaltungsmöglichkeiten durch eine Erweiterung des bestehenden Systems
Gesellschaftliche Freiheitsansprüche lassen sich deshalb am wirkungsvollsten durch eine Erweiterung des bestehenden Systems umsetzen. Dazu zählen auch das im europäischen Vergleich umfassende System branchenspezifischer Kollektivverträge und die hohe tarifliche Abdeckungsrate in Österreich. Kollektiv- und arbeitspolitische Maßnahmen ermöglichen mehr Freiheit, beispielsweise die Umgestaltung der Arbeitszeit. Instrumente wie die „Freizeitoption“, die einen Verzicht auf einen Teil der Lohnerhöhung für mehr Freizeit erlaubt, die 4-Tage-Woche für Teilzeitbeschäftigte oder ein schnellerer Anspruch auf die sechste Urlaubswoche ermöglichen für ArbeitnehmerInnen planbare und selbstgewählte Arbeitszeiten. Gleiches gilt für den Ausbau lebensphasen- und personenspezifischer Geldleistungen, z. B. Sabbaticals, Eltern- und Kinderkarenzzeiten sowie Aus- und Weiterbildungsfinanzierungen. Eine Voraussetzung, um den Freiheitsanspruch bis ins hohe Alter geltend zu machen, ist ein gut ausgebautes und hochqualitatives öffentliches Pflegesystem.
Fortschrittliche Konzepte eines bedingungslosen Grundeinkommens betonen mit Recht dessen positive Wirkungen auf die Ausweitung der Freiheit für die Individuen und die gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes. In der gegenwärtigen Sozial- und Wirtschaftspolitik muss es darum gehen, diese wichtigen Anliegen in konkrete Maßnahmen zu übersetzen:
- Die Wiedereinführung einer bedarfsorientierten Mindestsicherung als unterstes soziales Netz, das verhindert, dass in einer reichen Gesellschaft Menschen in Armut leben.
- Der Ausbau sozialer Dienstleistungen, die etwa im Fall der Pflege ermöglichen, dass Menschen unabhängig von ihrer persönlichen wirtschaftlichen Situation im Alter eine hervorragende Betreuung genießen.
- Mehr öffentliche Jobs für spezifische Gruppen, die am ersten Arbeitsmarkt keine Beschäftigung finden, etwa ältere Langzeitarbeitslose (employer of last resort).
- Innovative Formen einer Verkürzung der geleisteten Arbeitszeit, um den Produktivitätsfortschritt in stärkerem Ausmaß als bislang in Form von mehr Freizeit zu konsumieren.
- Den Sozialstaat stärker über vermögensbezogene Steuern finanzieren und so den Wohlstand der vielen erhöhen.
Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Version des in der Ausgabe 3/2019 der Quartalszeitschrift „Wirtschaft und Gesellschaft“ erschienenen Editorials.