Armutsgefährdung neu gerechnet – was ein Blick auf die Referenzbudgets zeigt

20. Dezember 2022

Der starke Anstieg der Preise in den letzten Monaten hat es für sehr viele Menschen schwer gemacht, ihr tägliches Leben zu bestreiten. Darunter sind mittlerweile auch viele, die formell nicht als armutsgefährdet gelten. Die Daten zur Armutsmessung aus der Statistik der EU über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) haben hier einen blinden Fleck: Sie zeigen in erster Linie die Verteilung der Haushaltseinkommen. Aufschluss über die Kosten der Lebenserhaltung geben sie kaum. Eine aktuelle Sonderauswertung von Statistik Austria im Auftrag der Arbeiterkammer zu den notwendigen Ausgaben laut Referenzbudgets zeigt, dass die Zahl der Armutsgefährdeten aus der Ausgabenperspektive weit höher ist, als die konventionelle Berechnung ausweist.

Armut als Mangel an Teilhabemöglichkeiten

Armut bedeutet in erster Linie nicht, weniger Einkommen als andere zu haben. Armut – vor allem relative Armut, d. h. im Verhältnis zum Rest der Bevölkerung – bedeutet, weniger Möglichkeiten zur Teilhabe an der Gesellschaft zu haben als andere. Armut ist, wenn die Freund:innen ins Kino gehen oder ins Lokal und man selbst nicht mitgeht, weil man sich das nicht leisten kann. Oder wenn das eigene Kind kein adäquates Geschenk zur Geburtstagsfeier der Freundin mitbringen kann, weil der Familie das Geld dafür fehlt. Nicht in Armut zu leben bedeutet, am (jeweiligen) gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, ohne für die anderen sichtbar weniger zu haben als der Rest der Gruppe.

Darüber geben die Daten zur Armutsgefährdung von EU-SILC nur bedingt Aufschluss. Primär zeigt diese Statistik die Verteilung der Einkommen einschließlich der Sozialleistungen, wie Pensionen, Arbeitslosengeld oder Familienbeihilfe. Jene Haushalte, die weniger als 60 Prozent des Medians (= Mitte der Verteilung) zur Verfügung haben, gelten als armutsgefährdet. Diese Zahl ist international und über mehrere Jahre vergleichbar und hat daher zweifellos ihre Berechtigung. Zur Messung von notwendigen Ausgaben trägt sie – definitionsgemäß – nicht bei. Dafür ist die Messung von Mindestausgabenniveaus notwendig, die zeigen, wie viel Geld notwendig ist, um sich das tägliche Leben leisten zu können. Das wiederum tun die Referenzbudgets der Schuldnerberatung Österreich.

Welche Rolle Referenzbudgets spielen können

Wie in diesem Blog bereits ausführlich beschrieben, haben die vom Dachverband der staatlich anerkannten Schuldnerberatung erstellten Referenzbudgets nicht die Aufgabe, die Zahl der von Armut betroffenen oder gefährdeten Menschen in Österreich zu quantifizieren. Daher sind sie in Bezug auf methodische Fragen EU-SILC zweifellos nicht ebenbürtig und können auf wissenschaftlicher Ebene kein Ersatz sein.

Was Referenzbudgets jedoch können, ist, den Blick auf die Betroffenheit von Armut zu schärfen. Wenn wir – als Gesellschaft – uns darauf verständigen, dass Armut weniger mit der Unterschreitung einer artifiziellen Einkommensgrenze zu tun hat als vielmehr mit der Verunmöglichung eines Mindestkonsums von täglichen Notwendigkeiten, dann brauchen wir die Referenzbudgets!

Wie Armutsmessung durch Referenzbudgets funktioniert

Auch die Armutsmessung durch Referenzbudgets ist auf die Einkommensmessung von EU-SILC angewiesen, da diese die einzige regelmäßige Messung der Haushaltseinkommen darstellt. Statistik Austria hat im Auftrag der Arbeiterkammer Wien diese Einkommensdaten genutzt, um mithilfe der monatlich notwendigen Haushaltsausgaben laut Referenzbudgets die Betroffenheit von Armut nach diesem Konzept zu messen. Daraus ergeben sich einige methodische Unschärfen – was nicht überrascht. Die beiden Systematiken sind nicht für eine Überschneidung konzipiert worden. So verwendet die Schuldnerberatung – anders als EU-SILC – keine eigene Gewichtungsskala, aufgrund derer z. B. für Paare von den 1,5-fachen Ausgaben von Einpersonenhaushalten ausgegangen wird oder von einem Faktor von 0,3 für Kinder. (Methodische Details zur Berechnung der Referenzbudgets finden sich auf der Website der „EU Platform on Reference budgets“.)

Notwendig ist auch zu erwähnen, dass sich die Werte, die EU-SILC 2021 ausweist, auf Einkommen im Jahr 2020 beziehen, während die Referenzbudgets bereits Preisniveaus von 2021 berücksichtigen. Da es hier aber nicht um wissenschaftliche Analyse, sondern vielmehr um den Vergleich von Instrumenten für Politikempfehlungen geht, müssen diese Unschärfen in den Hintergrund treten.

Deutlich höhere Einkommensarmut

Wie die Tabelle zeigt, sind die notwendigen Mindestausgaben laut Schuldnerberatung beträchtlich höher als die Armutsgefährdungsschwelle nach EU-SILC. So beträgt die Einkommensarmutsgrenze für einen Einpersonenhaushalt nach EU-SILC 1.371 Euro pro Monat. Laut Schuldnerberatung sind es jedoch 1.487 Euro, ein Plus von 116 Euro oder 8,5 Prozent. Bedeutend größer ist der Unterschied bei Paaren mit drei Kindern: Die Schuldnerberatung geht hier von um 1.164 Euro höheren Kosten aus, um Einkommensarmut zu vermeiden. Das ist ein um mehr als ein Drittel (35,4 Prozent) höherer Wert, als sich aus EU-SILC ergibt.

Vergleich der Armuts(gefährdungs)raten (Einkommensarmut) basierend auf EU-SILC bzw. Referenzbudgets

 Armuts(gefährdungs)rate insgesamt
EU-SILC 202114,7 %
Referenzbudgets 202220,6 %
Differenz in Prozentpunkten5,9 %
Quelle: Statistik Austria, Dachverband Schuldnerberatung, eigene Ergänzungen

Daraus folgt, dass auch der Anteil der einkommensarmen Menschen laut Referenzbudgets (20,6 Prozent) erheblich größer ist als jener der armutsgefährdeten Personen nach EU-SILC (14,7 Prozent). Wenn man statt 60 Prozent des Medianeinkommens das Mindestausgabenniveau der staatlich anerkannten Schuldnerberatung der Einkommensarmutsmessung zugrunde legt, ergibt sich also ein Unterschied von 5,9 Prozentpunkten oder etwa 40 Prozent.

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Politikempfehlungen und die Bedeutung der Teuerung

Aus den großen Unterschieden bei der Messung der Einkommensarmut zwischen EU-SILC und den Referenzbudgets der Schuldnerberatung und dem dadurch geschärften Blick auf die Größe der Betroffenengruppe ergeben sich mehrere Konsequenzen. Es ist höchste Zeit, eine neue Runde in der Debatte über sozialen Ausgleich einzuläuten, wenn mehr als jede fünfte Person in Österreich Probleme hat, sich die Güter und Dienstleistungen des täglichen Lebens zu leisten. Und das bereits vor Beginn der derzeitigen massiven Preissteigerungen und ohne Berücksichtigung diverser seither beschlossener Hilfspakete.

Denn die Einkommensarmut und die hohen Preise werden bleiben. Die freigiebige Unterstützung der öffentlichen Hand – so sie denn bisher gereicht hat – wird jedoch spätestens dann zu Ende gehen, wenn der Sparstift angesetzt wird und die öffentlichen Haushalte konsolidiert werden müssen. Ohne zusätzliche sozialpolitische Maßnahmen werden wir dann weit mehr als die aktuellen rund 20 Prozent einkommensarmen Menschen in Österreich haben.

Daher müssen dringend Schritte gesetzt werden:

  • Das immer noch unterschätzte Problem der Armut in Österreich verdient deutlich mehr Aufmerksamkeit, als das bisher der Fall war.
  • Die Forderung nach deutlicher Anhebung und jährlicher Valorisierung des Arbeitslosengelds und der Notstandshilfe muss rasch umgesetzt werden. Auch die anderen mindestsichernden Leistungen des österreichischen Sozialstaats – die Ausgleichszulage der Pensionsversicherung und damit auch die Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung – müssen angehoben werden.
  • Strukturelle Faktoren, die Armut verhindern können, müssen deutlich gestärkt werden, wie eine chancengerechte Bildungs- und eine nachhaltige Arbeitsmarktpolitik, eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf, leistbare Wohnungen und Energieversorgung, die Beseitigung von Diskriminierung am Arbeitsmarkt oder der Zugang zu kostengünstiger Mobilität.

Voraussetzung dafür ist eine fundierte Datenlage: In Zeiten der Teuerung muss auch die Ausgabenseite stärker berücksichtigt werden. Daher soll ergänzend zur einkommensbezogenen Messung der Armutsgefährdung auch die Armutsschwelle und -betroffenheit anhand von Referenzbudgets erhoben werden. Gute empirischen Grundlagen sind unverzichtbar, um faktenorientierte Armutspolitik machen zu können und in dieser und zukünftigen Krisen Unterstützungsleistungen treffsicher auszugestalten.

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