AK Sozialraum-Monitoring Wien - Damit die Adresse nicht zum Schicksal wird

18. Mai 2021

Um einen Blick auf die unterschiedlichen sozialen Lebenslagen zu bekommen, hat die AK das Institut für Soziologie der Uni Wien beauftragt, ein Sozialraum-Monitoring zu entwickeln. Dieses Instrument zeigt an, wie sich Armut, Reichtum, Bildung oder Arbeitslosigkeit im Stadtgebiet verteilen oder über die Zeit verändern.

Dazu wurde der Stadtraum in 3.000 Teilgebiete zu je 250 mal 250 Meter gegliedert. Für alle BewohnerInnen eines Quadrats wurde der durchschnittliche soziale Status berechnet: herangezogen wurden das Einkommen, der AkademikerInnenanteil, der Arbeitslosenanteil und der Anteil der Personen mit Pflichtschulabschluss. Die erzeugten Ergebnisse und Karten lassen keinen Rückschluss auf den sozialen Status einzelner Personen zu, die in so einem Teilgebiet leben, sondern zeigen den Durchschnittswert der jeweiligen BewohnerInnen an. Das Monitoring kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten wiederholt werden, so können Veränderungen im Zeitverlauf beobachtet werden. Der jetzt vorliegende Monitor zeigt Zustand und Veränderung im Zeitraum 2012 bis 2017.

Gerade für die Kommunalpolitik ist es wichtig, nicht nur die großen, generellen gesellschaftlichen Trends im Blick zu haben, sondern beobachten zu können, wie diese auf lokale, kleinräumige Prozesse durchschlagen. Das Sozialraum-Monitoring ist deshalb in vielen Städten unerlässlicher Bestandteil datengestützter Stadtentwicklungspolitik.

Die Erkenntnisse des Sozialraum-Monitors können Grundlage für die Entwicklung und den Einsatz kommunalpolitischer Instrumente sein: Programme wie „Politique de la Ville“ in Frankreich oder „Soziale Stadt“ in Deutschland haben in den letzten zwanzig Jahren dazu beigetragen, dass sozialraumorientierte Formen der Sozialberichterstattung als Bestandteil einer an Kriterien sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit orientierten, öffentlich transparenten Stadtentwicklung verstärkt eingesetzt werden.

Soziale Ungleichheit – die „Mélange“ wird dünner

Wien hat einerseits eine recht breite Zone der sozialen Durchmischung. Im Unterschied zu vielen anderen europäischen Städten hat Wien keine größeren Brennpunktgebiete, vor allem keine Problembezirke. Auch statusniedrigere Bezirke, gemessen an Einkommensniveau und Kaufkraft, sind heterogen. Segregationstendenzen sind in Wien eher kleinräumig. Andererseits nehmen Ungleichheiten unübersehbar zu: hier Wohlstandszonen, die sich mit einer zunehmenden Exklusivität teurer Wohngebiete ausweiten, dort statusniedrige Gebiete, in denen der Lebensstandard abnimmt, die Kaufkraft sinkt und Arbeitslosigkeit hoch ist. Dabei orientieren sich Spaltungslinien entlang historischer Grenzen der Inneren Stadt, des Gürtels und Großwohnsiedlungen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Eine beunruhigende Entwicklung zeigt sich im Bereich der durchschnittlichen Personeneinkommen. Während ein Großteil der Stadt mit einer Entwicklung der Einkommen unterhalb der Inflation konfrontiert ist, erhöhen sich die Einkommen in den privilegierten, statushohen Gebieten deutlich. Im Zeitraum von 2012 bis 2017 haben sich die Einkommen in den drei reichsten Bezirken der Stadt um fast ein Drittel erhöht. Eine entgegengesetzte Entwicklung ist hingegen in den ärmsten Bezirken zu erkennen. Die Einkommen der dort lebenden Menschen haben sich im selben Zeitraum sogar verringert. Der Reichtum in Wien konzentriert sich also auf einige wenige Gebiete, und die Kluft zwischen Arm und Reich wird tendenziell größer. Das ist eine Folge der Wirtschaftskrise von 2008 und zeigt auch, dass die politischen Handlungsspielräume auf kommunaler Ebene begrenzt sind. Zudem dürfte dieser Trend durch die sozialen Folgen der Corona-Pandemie noch verstärkt werden.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Ursachen von sozialräumlichen Veränderungen

Polarisierungstendenzen sind oft durch allgemeine ökonomische und gesellschaftliche Prozesse verursacht, die zuallererst globalen und auch nationalen Charakter haben und sich weitgehend dem Einfluss und der Kontrolle der Städte entziehen. Zwar werden viele Problemlagen in den Städten sichtbar, die Wurzeln reichen aber weit über die Stadt hinaus. So ist beispielsweise die Verfügbarkeit eines Arbeitsplatzes oder gegebenenfalls der Arbeitsplatzverlust nicht unbedingt im Handlungsspielraum der Stadt verankert.

Zudem gilt auch: Wer den Sozialstaat kahl schlägt, kommunalen Wohnbau verkauft und Mieten nicht reguliert, kann auch mit kleinteiligen Förderungen nichts mehr ausrichten, das zeigen die Erfahrungen aus Deutschland und Frankreich. Wer bundesweit neoliberale Politik betreibt, kann deren negative soziale Folgen auch nicht mehr mit Maßnahmen auf kommunaler Ebene in den Griff bekommen. Problemlagen in benachteiligten Gebieten verdichten sich, Mieten sind oft nicht mehr leistbar, gewisse Stadtviertel sind von Stigmatisierung betroffen und die ärmeren Teile der StadtbewohnerInnen können sich ihr Wohnviertel nicht mehr aussuchen. Die Adresse kann so zum Schicksal werden. Aus diesen Erfahrungen können wir lernen: Lebenswerte Städte sind nur im Kontext eines gut funktionierenden Sozialstaats möglich, hier muss die Grundlage für gerechte Verhältnisse geschaffen werden. Nur darauf aufbauend kann die Stadt mit gezielter Förderung weitere Ausgleichsmechanismen setzen. Dabei macht es Sinn, auf die Gießkanne zu verzichten und Stadtteile mit größeren sozialen Aufgaben gezielt zu unterstützen.

Fundament für hohe Lebensqualität

Wien hat im Verlauf der Stadtgeschichte oftmals kommunale Rezepte gefunden, um trotz eines schwierigen, nicht zu beeinflussenden Umfelds eine hohe Lebensqualität für viele zu ermöglichen. Fundament war eine Politik, die auf gerechte und ausgleichende Verhältnisse ausgerichtet war. Dazu gehörten ein umfassendes Netz an öffentlicher Daseinsvorsorge. Allem voran wurde mit dem kommunalen Wohnbau die Logik „Wer arm ist, muss schlecht wohnen und den Großteil seines Geldes für Wohnen ausgeben“ ausgehebelt. Auch wurden mittels Luxusabgaben Einnahmen zur Umverteilung generiert: So wurden Schwimmbäder gebaut, soziale Freiräume und Naherholungsgebiete geschaffen und erhalten. Besonders wichtig waren auch Bildungseinrichtungen für Klein und Groß. Die Ernte dieser beharrlichen Sozialpolitik ist die nach wie vor überdurchschnittlich hohe Lebensqualität in Wien.

Gerechte Stadt für alle

Entlang des Monitorings wird klar, dass es auch heute Lebensverhältnisse gibt, die unterschiedliche Chancen bedeuten. Gerade vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie ist davon auszugehen, dass sich bestehende Gräben weiter vertiefen. Hier braucht es als unverzichtbare Basis aber die Fortsetzung erfolgreicher, breit angelegter sozialer Politikansätze, wie den sozialen Wohnbau, aktive Arbeitsmarktpolitik, ein gerechtes Bildungssystem, MieterInnenschutz, ausreichende soziale Absicherung, ein gutes öffentliches Gesundheitswesen und vieles mehr. Ohne diese Grundlagen werden die kleinräumigen Maßnahmen wie der Tropfen auf dem heißen Stein vaporisiert. Wer glaubt, den Sozialstaat kürzen und stattdessen kleinräumige Fördermaßnahmen machen zu können, endet nicht im Paradies, sondern eher im Umfeld französischer Banlieues.

Instrumente für eine gerechtere Stadt

Der Sozialmonitor bietet, aufbauend auf dieser Grundlage, die Möglichkeit, zielgerichtete Maßnahmen für einen sozialen Ausgleich zu setzen. Viertel, in denen mehr Kinder wohnen, die von Armut betroffen sind, wo es höhere Arbeitslosenzahlen und geringeres Einkommen gibt, müssen bevorzugt behandelt werden. Hier muss Budget zielgerichtet hinfließen, es braucht Bildungs- und Kultureinrichtungen vor Ort, die Mitgestaltung des eigenen Viertels muss gefördert und lokale Ökonomie aufgebaut und gestärkt werden.

Dazu sollte auf Bundesebene, wie etwa in Deutschland schon lange Praxis, ein Programm zur sozialen Stadtentwicklung wachsende Städte unterstützen. Gebiete, die mit mehr Problemen zu kämpfen haben, sollten so unterstützt werden. Die vor Ort gesetzten Maßnahmen, sollten auf kommunaler Ebene festgelegt werden und die QuartiersbewohnerInnen und die konkreten Herausforderungen vor Ort berücksichtigen. Das können Investitionen in Infrastruktur, Förderung lokaler Ökonomie, Mehrfachnutzungskonzepte für bestehende öffentliche Institutionen, Errichtung von Stadtviertelzentren, Mitbestimmungsprozesse oder Bildungsinitiativen sein. So können Ungleichheiten im Bildungssystem beispielsweise durch den AK Chancenindex ausgeglichen werden. Jene Schulen, deren SchülerInnen mit weniger Ressourcen ausgestattet sind, sollen mehr Mittel zur Verfügung haben.

Weiters können die Stadtteile, in denen mehrfache Benachteiligungen auftreten, auch von der Stadt selbst besonders gefördert werden. Bezirksbudgets sollen nach Sozialquoten vergeben werden, Bezirke mit höherer Kinderarmut, Arbeitslosigkeit, niedrigerem Bildungsstatus sollen mehr Mittel bekommen. Auch Investitionen in Kultur, Umwelt oder Freizeit sollen gezielt in Richtung Bevorzugung benachteiligter Stadtteile gelenkt werden. Entscheidend sind auch qualitativ hochwertige Gesundheitseinrichtungen, es muss ausreichende Versorgung mit KassenärztInnen, aber auch Initiativen zur Gesundheitsförderung geben, bei denen benachteiligte Gebiete besonders im Fokus stehen.

Wünschenswert wäre auch die verstärkte Zusammenarbeit und Kooperation unterschiedlicher öffentlicher AkteurInnen und bestehender Institutionen in den Bereichen soziale Arbeit, Bildungseinrichtungen, Kinder- und Jugendbetreuung, Arbeitsmarktinitiativen und Sozial- und Gesundheitsplanung.

Investitionen in und Aufwertung von Stadtteilen bergen immer auch die Gefahr von Verdrängungsprozessen. Allem voran können steigende Mieten dazu führen, dass sich die BewohnerInnen ihr Viertel nicht mehr leisten können. Daher braucht es eine Mietrechtsreform, die befristeten Mietverträgen ein Ende setzt und private Mieten stärker reguliert. Darüber hinaus ist auch die Besteuerung von Immobilieneigentum wichtig, und auch private InvestorInnen sollen zur Durchmischung beitragen, indem sie etwa ein Drittel von Um- und Neubauten sozial vergeben. Zudem ist der Ausbau des geförderten Wohnbaus im gesamten Stadtgebiet entscheidend, um soziale Durchmischung zu ermöglichen.

Wenn nicht kontinuierlich Strategien und Maßnahmen entwickelt werden, um eine hohe Lebensqualität für alle zu ermöglichen, droht die Gefahr gespaltener Städte. Dafür sind Kooperationen auf mehreren Ebenen notwendig. Ziel muss sein, bestehende Ungleichheiten möglichst auszugleichen. Denn die Stadt der Reichen funktioniert genauso wie die Stadt der Armen – nämlich gar nicht.

Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung