Rechtsextremismus in der Normalität – Alarmismus oder notwendiger Weckruf?

15. Januar 2020

Das präsentierte Regierungsprogramm der neuen Koalition aus ÖVP und Grünen hat heftige Diskussionen entfacht: Es weckt Hoffnungen, produziert aber auch Ernüchterung. Was dabei bisher kaum thematisiert wurde: Der Erfolg der neuen Regierung wird auch daran zu messen sein, ob sie dazu beiträgt, die politische Kultur zum Positiven zu verändern. Diese hat sich in den letzten zwanzig Jahren dahingehend gewandelt, dass Versatzstücke rechtsextremer Ideologie immer stärker in der Mitte der Gesellschaft auftauchten. Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse über eine Normalisierung des Rechtsextremismus lassen Besorgnis aufkommen.

Rechtsextremismusund Normalität – ein Widerspruch?

Betreibt, wer von einer schleichendenNormalisierung des Rechtsextremismus in Österreich spricht, unverantwortliche,übertrieben alarmistische Panikmache? Oder handelt es sich vielmehr um einehöchst notwendige Intervention auf der Grundlage (sozial)wissenschaftlicherErkenntnisse, die auf bislang vernachlässigte soziale und politische Entwicklungenaufmerksam macht, die sich unter der Oberfläche vollziehen – Entwicklungen mitPotenzial zur Gefährdung einer offenen Gesellschaft?

Die Aussage, dass sich derRechtsextremismus schleichend normalisiere, scheint auf den ersten Blick eineäußerst provokante These zu sein. Das hängt aber zum einen vor allem mit demgängigen Gesellschaftsbild zusammen, das diese in zwei Teile teilt, nämlich indie Mitte und die Ränder oder Extreme. Zum anderen spielt auch der Begriff desRechtsextremismus selbst dabei eine Rolle.

Bei einer Zweiteilung der Gesellschaft inMitte und Ränder erscheinen die Begriffe Extremismus und Normalität perdefinitionem als unvereinbar, wird ersterer ja gerade dadurch charakterisiert,dass er das Anormale, das Skandalöse repräsentiert. Diese hermetischabgrenzende Perspektive verkennt aber die Durchlässigkeit der Trennwände zwischenMitte und Extremen. Ein Anwachsen des Extremismus ist meistens auch einAusdruck von Normalitätsverschiebungen, von Veränderungen in der Mitte derGesellschaft. Diesen Verbindungskanälen wird im Folgenden nachgespürt.

Der Rechtsextremismusbegriff wird einerseits im rechtsstaatlichen Diskurs mit dem Kriterium der Verfassungsfeindlichkeit, also der Ablehnung und Bekämpfung moderner demokratischer Gesellschaften, identifiziert. Darauf wird auch im politischen Diskurs Bezug genommen. Man erinnere sich, wie der ÖVP-Politiker Andreas Kohl die erste Koalition mit der FPÖ damit rechtfertigte, dass sich diese innerhalb des Verfassungsbogens befände. Im wissenschaftlichen Diskurs wird Rechtsextremismus differenzierter durch die Verbindung der Produktion von rechtsextremer Ideologie (Ungleichwertigkeit von Menschen, Konstruktion einer Volksgemeinschaft, Ethnozentrismus, Ablehnung der Demokratie, nationalisierende Geschichtsbetrachtung, …) mit Gewaltakzeptanz als Konfliktlösungsmodus auf der Handlungsebene charakterisiert (vgl. DÖW). Er zielt damit vor allem auf die Identifizierung rechtsextremer Organisationen und Bewegungen. Davon weicht ein stärker soziologisch verpflichteter Begriff ab, dem es in erster Linie um rechtsextreme Orientierungen und Einstellung und deren Verbreitung in der Gesellschaft geht. Denn dadurch geraten stärker gesellschaftliche Entwicklungen und Zusammenhänge in den Blick.

Fokusauf das schwer Wahrnehmbare

Die These von einer schleichendenNormalisierung des Rechtsextremismus bedeutet nicht, dass eine Mehrheit derBevölkerung rechtsextreme Positionen einnehmen würde. Sie weist vielmehr daraufhin, dass rechtsextremes Gedankengut in der Mitte der Gesellschaft, und damit imRahmen des öffentlich Sagbaren, angekommen ist. Dieser Umstand erhöht wiederum dieGefahr, dass sich diese Positionen weiter ausbreiten können. Insofern ist die Fragedes Umgangs der Gesellschaft mit diesen Entwicklungen von großer Bedeutung. DennNormalitätsverschiebungen gehen schleichend vor sich und sind daher in derRegel weitaus schwerer erkennbar als das offen Extreme.

Der Fokus auf eine schleichendeNormalisierung rechtsextremer Orientierungen widmet sich der Frage, wie latentvorhandene Mentalitäts- und Einstellungsmuster zu politisch relevanten undgesellschaftlich wirkmächtigen Faktoren werden und welche Rolle dabei gesellschaftlicheEntwicklungen und politische Angebote spielen. Es geht dabei um dieWechselwirkung zwischen latent vorhandenen Einstellungsmustern (autoritäre,alltagsrassistische, …) und förderlichen gesellschaftlichen Entwicklungen(Kontrollverluste, Anerkennungsdefizite, …) und wie politische Angebote, beidesgezielt nutzen.

GesellschaftlicheVoraussetzungen

Zunächst ist festzuhalten, dassOrientierungen, die zum ideologischen Bestand des Rechtsextremismus gehören,wie autoritäre oder alltagsrassistische Einstellungen, nicht vom Himmel fallen,d. h. sich nicht unvermittelt ausbreiten. Aufgrund ihrer langen und tiefen historischenVerankerung handelt es sich bei Ressentiments und abwertenden Deutungen vielmehrum Mentalitätsmuster, die (seit langem) latent im Alltagsbewusstsein einesTeils der Gesellschaft abgelagert sind und auch über die Generationen weitergegebenwerden. Die entscheidende Frage ist jedoch, warum sich zu einem bestimmtenhistorischen Zeitpunkt alltagsrassistische und autoritäre Einstellungen beiTeilen der Bevölkerung zur dominierenden Weise, die soziale Welt wahrzunehmen, verwandelnund politisch wirksam werden. Einen solchen Prozess, der sich im Auftauchen undden Wahlerfolgen rechtspopulistischer Parteien ausdrückt, beobachten wir in denletzten Jahren nicht nur in Österreich, sondern in vielen europäischen Ländern,aber auch in den USA.

Dabei spielen vor allem zwei Faktoren eine Rolle. Eine der Voraussetzungen sind ökonomische Entwicklungen. So hat die beschleunigte Globalisierung und der zunehmende Konkurrenz- und Flexibilisierungsdruck auch in den kapitalistischen Kernländern Europas soziale Spaltungslinien vertieft und soziale Abstiegsängste und Gefühle eines zunehmenden Kontrollverlustes ausgelöst. Allerdings ziehen ökonomisch verursachte Verwerfungen nicht automatisch menschenfeindliche, unsolidarische Verarbeitungsmuster nach sich, wie auch die aktuelle österreichische Studie „Umkämpfte Solidaritäten. Spaltungslinien in der Gegenwartsgesellschaft“ zeigt.

Gleichzeitig, und hier kommt der zweite Faktor ins Spiel, trafen allerdings die dadurch ausgelösten Verunsicherungsgefühle auf eine Repräsentationslücke im politischen System (siehe dazu für Österreich die Studie „Die populistische Lücke“). Rechtspopulistische Parteien konnten diese erfolgreich mit ihren politischen Angeboten füllen und sich als relevante politische Kraft etablieren. Anknüpfend an realen sozialen Verwerfungen, aber auch an gefühlten (Ängste vor zukünftigem sozialen Abstieg), gelang es ihnen, latent vorhandene Ressentiments bei Teilen der Bevölkerung zu reaktivieren und diese in einen stabilen politischen Erzählrahmen mit entsprechenden Deutungen zu integrieren. Dadurch wurde auch deren gesellschaftliche Legitimität erhöht (vgl. dazu aus gewerkschaftlicher Sicht den Beitrag von Willi Mernyi).

Das Besorgniserregende an dieserEntwicklung ist, dass dadurch offen menschenfeindliche Einstellungen imöffentlichen Diskurs von ihrer Verortung an den Rändern des politischenSpektrums gelöst werden, in die Mitte der Gesellschaft einsickern und dabeieinen Normalisierungsprozess durchlaufen. Damit werden Normalitätsgrenzenverschoben, was dazu führt, dass diese Einstellungen – einmal als neueNormalitäten des Sagbaren etabliert –  auch zeitweilige Rückschläge rechtspopulistischerParteien überdauern. Dass menschenfeindliche (bzw. rechtsextreme) Einstellungenimmer mehr als „normal“ gelten, geht aber gleichzeitig damit einher, dass der organisierteRechtsextremismus, etwa in Form der Identitären, weiterhin skandalisiert wird. Dieserlaubt es, das Destruktive in der Normalität weitgehend auszublenden.

Mechanismender Normalitätsverschiebung

Dass die Normalisierung rechtsextremer Einstellungen häufig nicht wahrgenommen wird, zeigt sich etwa auch daran, dass die Ergebnisse der Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ unter Leitung von Wilhelm Heitmeyer in der öffentlichen Debatte in Deutschland kaum aufgegriffen wurden. Seit Anfang der 2000er Jahre belegte die Untersuchung ein Potenzial gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit von über 20 Prozent – also bereits lange bevor mit der AfD eine Partei auf der politischen Bühne auftrat, die dieses auch auszuschöpfen begann.

Heitmeyer beschäftigt sich auch ausführlichmit den Mechanismen der von ihm auf Grundlage solider empirischer Datenkonstatierten Normalitätsverschiebungen. Diese sind auch für denösterreichischen Kontext relevant, existiert doch hier eine der am längsten bestehendenund erfolgreichsten rechtspopulistischen Parteien.

Einer der Mechanismen dieser Normalitätsverschiebung besteht in dem, was Heitmeyer die Herausbildung einer „rohen Bürgerlichkeit“ nennt. Er legt damit den Finger nicht auf die ModernisierungsverliererInnen und das Prekariat, die gemeinhin als Hauptwählerreservoir und damit als Wachstumstreiber des Rechtpopulismus gelten, sondern auf einen gesellschaftlich weitaus mächtigeren Faktor. Rohe Bürgerlichkeit meint „die Tatsache, dass unter einer dünnen Schicht zivilisiert-vornehmer (bürgerlicher) Umgangsformen autoritäre Haltungen verborgen sind, die immer deutlicher sichtbar werden, meist in Form rabiater Rhetorik“ (2018, S. 310). Dazu passen aktuelle Ergebnisse des österreichischen Demokratiemonitors, denen zufolge die Zustimmung zu einem starken Führer (Autokratie) im oberen Drittel der Bevölkerung am stärksten gestiegen ist (2018 bis2019 von 15 auf 23 %).

Rohe Bürgerlichkeit drückt sich in derVerachtung verwundbarer sozialer Gruppen aus, die einer streng ökonomistischenLogik folgt. Über die Betonung von Konkurrenz und Eigenverantwortung wirdsoziale Ungleichheit in Ungleichwertigkeit verwandelt. Den wenigerLeistungsfähigen und -willigen wird auf diese Weise jene soziale Anerkennungverweigert, die ein zentrales Element für gesellschaftliche Integrationdarstellt. Diese Mentalitäten einer „rohen Bürgerlichkeit“ werden von medialen,politischen und intellektuellen Eliten gespeist. Über deren Zugang zuInstitutionen und Medien wird so auch das politische Klima nachhaltig geprägtund gesellschaftliche Legitimität geschaffen.

Dies passiert vor dem Hintergrund einerübergreifenden Entwicklung, die vielfach als „Ökonomisierung des Sozialen“ bezeichnetwird, also einer Ausdehnung von Markt- und Konkurrenzmechanismen auf alleBereiche der Gesellschaft. Diese kann als Voraussetzung dafür gelten, dassgruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und autoritäre Einstellungen in derBevölkerung geweckt und verbreitet werden. In einem solchen sozialen Klima wirddie Grenze des öffentlich Sagbaren sukzessive in Richtung Verrohung ausgeweitet,gleichzeitig aber in anderen Bereichen auch eingeschränkt. Denn während dieSpaltung der Gesellschaft voranschreitet, wiederholt der Mainstream-Diskursgebetsmühlenartig das Mantra „Es ist uns noch nie so gut gegangen“.

Das Leid und die Ängste, die viele Menschenin der Arbeitswelt empfinden, kann in einer Gesellschaft der dereguliertenMärkte, der globalisierten Konkurrenz und der forcierten Rationalisierung nichtmehr legitim ausgedrückt werden. Das heißt, Arbeitsleid kann keinegesellschaftliche Legitimität mehr beanspruchen und soziale Sicherung wirdzunehmend unter Effizienzgesichtspunkten und nach ethnischen Kriterien (Vorrangfür seit langem Ansässige) organisiert. Instrumentelle Kriterien (Nützlichkeit,Leistungsfähigkeit, …) verdrängen Grundprinzipien einer integrationsfähigenGesellschaft und bestimmen damit zunehmend die (neue) Normalität. In einemsolchen Szenario ist die Umleitung sozialen Leids und sozialer Ängste auf Flüchtlingeund Fremde und die politisch wirksame Reaktivierung latent vorhandenerRessentiments durch den Rechtspopulismus nicht allzu schwer.

Als weitere für die Verschiebung vonNormalitätsgrenzen förderliche Mechanismen identifiziert Heitmeyer etwa dieAusbreitung von Hasskommunikation über soziale Medien wie Facebook – durch dieDominanz wirtschaftlicher über alle anderen Erwägungen wird dagegen nichtkonsequent vorgegangen. Darüber hinaus trägt demnach auch die starkeVerbreitung von Verschwörungstheorien, die ebenso wie rechtspopulistischeParteien die Welt in „Gut“ und „Böse“ einteilen, zu einer verschobenenNormalität bei.

Dass sich traditionell konservative Politikhäufig an rechtspopulistische Diskurse anpasst, ist zudem ein weiteresEinfallstor dafür, autoritäre, entmenschlichende Orientierungen zunormalisieren. Konservative Parteien stellen sich gewissermaßen als sanfte,politisch korrekte Alternative zum Rechtspopulismus dar, was der Normalisierungund Legitimierung seiner Inhalte einen enormen Schub verleiht. Dieser Aspektist für Österreich besonders relevant.

Wenn Bundeskanzler Sebastian Kurz in seinerersten Periode als Regierungschef Einschnitte bei den Ärmsten der Gesellschaftdamit rechtfertigte, dass in Familien von Arbeitslosen nur mehr die Kinder am Morgen aufstehen,um zur Schule zu gehen, oder wenn die Rettung von Menschenleben im Mittelmeerals „NGO-Wahnsinn“verunglimpft wird, „bei dem mehr Menschen sterben als gerettet werden“, dannist das Ausdruck „roher Bürgerlichkeit“. Hier sind die inhaltlichenBerührungspunkte zwischen neoliberalen, neokonservativen und rechtsextremenIdeologieelementen am deutlichsten.

Mit rabiater Rhetorik werden so die Grenzendes Sagbaren sukzessive ausgeweitet und inhaltliche Elemente aus einerIdeologie, die bisher für den Rechtsextremismus reserviert war, in der Mitteder Gesellschaft verankert. Im Kern besteht diese darin, dass die Legitimierungvon sozialer Ungleichheit in Richtung Ungleichwertigkeit von Menschenverschoben wird, die mit autoritär-aggressiven Äußerungen einhergeht. Und wenn selbstin einer Regierung mit grüner Beteiligung Migrationspolitik durch das Prinzip „Integrationdurch Leistung“ charakterisiert wird, dann ist damit ein weitererNormalisierungsschritt getan. Dies manifestiert sich auch darin, dass dieseDominanz des Nützlichkeitsaspekts in der Öffentlichkeit kaum mehr kritisiertwird.

Ein anderes Beispiel für Normalisierung istdie Islamfeindlichkeit im Sinne einer pauschalen und kategorischen Abwertungund Benachteiligung von MuslimInnen. Von der FPÖ seit langem propagiert hat sieallerdings von 2017 bis 2019 sogar Eingang in die Regierung gefunden und wurde vonihren RepräsentantInnen in der (vorigen) Regierung forciert (vgl. BerichtSOS-Mitmensch). In Form von Kopftuchverboten an den Schulen bleibt diese allerdingsBestandteil der Regierungspolitik auch ohne Beteiligung der FPÖ und ihrerrabiaten Rhetorik.

DerNormalisierung Einhalt gebieten

Insofern muss unabhängig von selbstzerstörerischen Handlungen und Stimmenanteilen rechtspopulistischer Parteien bei Wahlen der schleichenden Normalisierung im Kern rechtsextremer Inhalte und Orientierungen im öffentlichen Diskurs der Kampf angesagt werden. Das darf aber nicht bedeuten, die gesellschaftliche Verachtung für Personen, die dn rechtspopulistischen Erklärungen zustimmen, durch deren Ächtung – etwa durch ihre Denunzierung als von Ressentiments getriebene RassistInnen – zu verdoppeln. Auch dabei kann an sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen angeknüpft werden. Arlie Hochschild zeigt in ihrer ethnografischen „Reise ins Herz der amerikanischen Rechten“ auf überzeugende Weise, dass die durch einen zunehmend verrohten Kapitalismus sich vertiefenden gesellschaftlichen Spaltungen nur überwunden werden können, indem an den Alltagserfahrungen der Menschen angesetzt wird und ein ehrlicher, offener und respektvoller Dialogs aufgenommen wird. Das könnte auch ein möglicher Zugang sein, sich mit der schleichenden Normalisierung menschenverachtender Orientierungen in der Mitte der Gesellschaft produktiv auseinanderzusetzen und ihre politische Wirksamkeit zurückzudrängen.

Informationen zu den Aktivitäten von „Diskurs. Das Wissenschaftsnetz“ finden sich hier.

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