Die österreichische Wirtschaft befindet sich im Abschwung. Die Arbeitslosigkeit könnte bald wieder zu steigen beginnen. Die geldpolitischen Handlungsspielräume sind beschränkt – gerade im bestehenden Niedrigzinsumfeld sollte die Budgetpolitik eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung des Abschwungs spielen. Die Budgetpolitik wird jedoch durch ein hochproblematisches Modell der EU-Kommission beeinträchtigt, das im Rahmen von EU-Fiskalregeln und österreichischer Schuldenbremse zur Berechnung des „strukturellen“ Budgetsaldos verwendet wird. Die Folgen des „Output-Lücken-Nonsens“ bekommt nun auch Österreich zu spüren: Die von der Kommission zuletzt veröffentlichten prozyklischen Schätzungen reduzieren den fiskalpolitischen Handlungsspielraum hierzulande allein für das Jahr 2020 um rund 2,5 Milliarden Euro.
Eine expansivere Ausrichtung der Budgetpolitik?
Die Erfahrungen mit der letzten Krise zeigen, dass es wichtig ist, möglichst rasch Maßnahmen zu ergreifen, . Denn steigende Arbeitslosigkeit zeitigt negative langfristige Folgewirkungen – insbesondere durch Einkommensrückgänge für die von Langzeitarbeitslosigkeit Betroffenen sowie durch Verluste an Qualifikationen, die auch das langfristige Wachstumspotenzial reduzieren. Außerdem belastet ein konjunktureller Abschwung aufgrund von sinkenden Steuereinnahmen und höheren Sozialausgaben den Staatshaushalt; auch das spricht für die Umsetzung antizyklischer Budgetpolitik, welche die Gesamtwirtschaft rechtzeitig unterstützt. Eine wohldurchdachte defizitfinanzierte expansive Budgetpolitik könnte in der aktuellen Situation jedenfalls dazu beitragen, dass die Staatsschuldenquote mittel- und langfristig weiter sinkt (im Vergleich zu einem Szenario ohne expansivere Budgetpolitik). Die wissenschaftliche Forschung widerlegt jedenfalls die oftmals geäußerte Behauptung, wonach expansive Budgetpolitik lediglich zu höheren Schulden führe.
Vor diesem Hintergrund fordern prominente internationale ÖkonomInnen sowie Institutionen wie die OECD im Rahmen der Wachstumsabschwächung, dass insbesondere jene Länder, die in den letzten Jahren Leistungsbilanzüberschüsse und sinkende Staatsschuldenquoten aufzuweisen hatten, ihre Budgetpolitik expansiver ausrichten sollten. Sowohl der scheidende EZB-Präsident Mario Draghi als auch die neue EZB-Präsidentin Christine Lagarde wiesen in den letzten Monaten mehrmals auf die wichtige Rolle der Budgetpolitik als wirtschaftliches Stabilisierungsinstrument hin, dessen Bedeutung auch vor dem Hintergrund bestehender Beschränkungen geldpolitischer Handlungsmöglichkeiten an der Nulluntergrenze für Nominalzinsen aufgewertet werden sollte. Länder wie Deutschland, Österreich und die Niederlande könnten aktuell durch eine expansivere Ausrichtung ihrer nationalen Budgetpolitik nicht nur ihre inländische wirtschaftliche Entwicklung fördern, sondern den Euroraum als Ganzen stabilisieren helfen.
Wie viel Spielraum hätte die Bundesregierung überhaupt für eine expansivere Budgetpolitik?
In den Koalitionsverhandlungen stellt sich die drängende Frage, ob die neue Regierung den politischen Willen aufbringen wird, um mit dem Fokus auf das „Nulldefizit“ zu brechen, um dem Wirtschaftsabschwung entgegenzuwirken und langfristig wichtige Investitionen anzustoßen. Angesichts des wirtschaftlichen Abschwungs wäre es kontraproduktiv, die wirtschaftspolitische Priorität weiterhin darauf zu legen, einen Budgetüberschuss zu erzielen.
Sowohl die EU-Fiskalregeln als auch die österreichische Schuldenbremse beschränken jedoch den fiskalpolitischen Spielraum. Der zentrale Kontrollindikator ist in diesem Zusammenhang der „strukturelle“ Budgetsaldo. Der Kern des EU-Fiskalpakts sieht ein maximales jährliches „strukturelles“ Budgetdefizit von 0,5 Prozent des BIP vor (bei einigen Ausnahmen und Zusatzbestimmungen). Die österreichische Schuldenbremse begrenzt die Kreditaufnahme auf Bundesebene auf ein strukturelles Defizit von jährlich maximal 0,35 Prozent des BIP (mit mehreren Zusatzbestimmungen, die in Sondersituationen relevant werden können) bzw. von 0,1 Prozent des BIP auf Landesebene (inkl. Gemeinden).
Theoretisch betrachtet, handelt es sich bei dem strukturellen Saldo um jenen Teil des tatsächlichen Budgetsaldos, der nicht auf konjunkturelle Schwankungen zurückzuführen ist und somit die langfristige Schuldentragfähigkeit belastet. Die grundsätzliche Idee dabei ist: Konjunkturelle Auf- und Abschwünge wirken sich auf Staatseinnahmen und Staatsausgaben aus – diese Effekte sind jedoch nur temporär und deshalb aus dem Budgetdefizit herauszurechnen, um einen klareren – „strukturellen“ – Blick auf die Staatsfinanzen zu bekommen.
Aus praktischer Sicht ist dieser Anteil aber alles andere als einfach zu bestimmen. Die Berechnung des „strukturellen“ Defizits wird dabei mit dem gängigen Modell der Europäischen Kommission vorgenommen, das auch für die anderen EU-Mitgliedstaaten zur Einschätzung bzgl. der Einhaltung der relevanten EU-Fiskalregeln herangezogen wird. Dieses Modell ist damit ein essenzieller Bestandteil des politischen Prozesses, da es herangezogen wird, um die entscheidende Frage zu beantworten: „Wie hoch ist der ,strukturelle‘ Budgetsaldo tatsächlich?“
„Output-Lücken-Nonsens“ in den Fiskalregeln
Dieses Modell kam zuletzt unter zunehmende Kritik. Das liegt daran, dass das „strukturelle“ Defizit eben nicht direkt beobachtbar ist, sondern erst anhand eines Modells berechnet werden muss. Sieht man also von möglichen Ausnahmen ab, bestimmt eben dieses Modell den fiskalpolitischen Handlungsspielraum – es liegt damit auf der Hand, dass die Qualität der fiskalpolitischen Entscheidungen mit der Brauchbarkeit des verwendeten Modells steht und fällt.
Im Kern versucht das Modell zu bestimmen, wie weit das reale Bruttoinlandsprodukt über oder unter dem Produktionspotenzial liegt, das bei „Normalauslastung“ der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital – und damit ausbleibendem Aufwärtsdruck auf die Inflation – erreichbar wäre. Aus der Differenz zwischen dem realen BIP und diesem „Potenzial-Output“ ergibt sich die sogenannte „Output-Lücke“. Die Output-Lücke ist also ein ökonomisches Konzept, das – theoretisch – Auskunft darüber gibt, wo sich eine Volkswirtschaft im Konjunkturzyklus befindet.
Es liegen jedoch mittlerweile mehrere Studien zu dem Kommissionsmodell vor, die eine Reihe von schwerwiegenden Problemen feststellen. Die von Jakob Kapeller und mir vorgebrachte zentrale Kritik an den geschätzten Output-Lücken lautet, dass diese Schätzungen prozyklisch sind: Im wirtschaftlichen Abschwung rechnen sie systematisch das Ausmaß der wirtschaftlichen Unterauslastung klein – was sich in einer prozyklischen Budgetpolitik niederschlägt: Wenn das Modell einen zyklischen Wirtschaftsabschwung als „strukturell“ interpretiert – und das Ausmaß der Unterauslastung der Produktionsfaktoren in der Folge zu klein schätzt – dann erzeugt dies einen pessimistischen Blick auf die „strukturelle“ Situation der öffentlichen Haushalte, der den Handlungsspielraum der jeweils betroffenen Regierungen beschneidet und diese letztlich dazu bringt, dem wirtschaftlichen Abschwung hinterherzusparen. Die zusätzlichen Budgetkonsolidierungsmaßnahmen verstärken dann die gesamtwirtschaftliche Talfahrt. Adam Tooze prägte für die Verzerrung budgetpolitischer Entscheidungen durch technische Fehleinschätzungen der Output-Lücke den Begriff des „Output-Lücken-Nonsens“.
„Output-Lücken-Nonsens“ nun auch in Österreich relevant
Von den negativen Auswirkungen dieses „Output-Lücken-Nonsens“ waren in den letzten zehn Jahren vor allem die stärker krisengeplagten EU-Länder negativ betroffen (siehe insbesondere den Fall Italiens). Länder wie Deutschland und Österreich waren hingegen bislang eher verschont geblieben, weil sich ihre Wirtschaft rascher als die anderer EU-Länder von der Finanz- und Wirtschaftskrise erholt und in den letzten Jahren einen kräftigeren Aufschwung erlebt hatte.
Doch mit dem aktuellen Wirtschaftsabschwung steht eine echte Bewährungsprobe der Anwendung von EU-Fiskalregeln und der Schuldenbremse im Hinblick auf die Möglichkeiten einer auf die konjunkturelle Lage abgestimmten Budgetpolitik an. Und aktuelle Daten zeigen, dass nun auch Österreich vom „Output-Lücken-Nonsens“ negativ betroffen ist, was zu einem Kleinrechnen der fiskalpolitischen Handlungsspielräume im sich bereits in Gang befindlichen Wirtschaftsabschwung führt: Vergleicht man die aktuellste Schätzung des Produktionspotenzials von Anfang November mit jener aus dem Vorjahr, so zeigt sich eine deutliche Abwärtsrevision. Obwohl konjunkturelle Änderungen konzeptionell eigentlich egal sein sollten und sich das verwendete Modell nicht geändert hat, geht im Kommissionsmodell die Verschlechterung der konjunkturellen Situation mit einer substanziellen Abwärtsrevision im Potenzial-Output einher: Für das Jahr 2020 revidierte die EU-Kommission diesen um rund 4 Milliarden Euro nach unten. Mit anderen Worten: Trotz des Wirtschaftsabschwungs suggeriert die EK-Prognose, dass es sich fast ausschließlich um eine „strukturelle“ Verschlechterung handelt bzw. die österreichische Wirtschaft im kommenden Jahr noch leicht „überhitzt“ sein würde. Offen bleibt die Frage, welche strukturellen Verschlechterungen sich innerhalb nur eines Jahres in der österreichischen Wirtschaft ergeben haben sollten, die eine derart deutliche Abwärtskorrektur des Produktionspotenzials rechtfertigen könnten.