„Vom Mut Mileis“ könne man lernen, intervenierte der Chef der Friedrich-Naumann-Stiftung in den deutschen Wahlkampf. Die Naumann-Stiftung ist die Parteistiftung der liberalen Freien Demokratischen Partei (FDP) Deutschlands. Und Christian Lindner, der mittlerweile zurückgetretene Vorsitzende eben jener FDP, behauptete wenig später, dass eine Prise mileischer „Disruption, Reformfreude und Innovationskraft“ durchaus zu gebrauchen wäre. Und auch hierzulande lobte jüngst Franz Schellhorn das beherzte Anpacken Mileis. Doch taugt der argentinische Präsident als Vorbild für diese Tugenden?
Liberaler Autoritarismus
Zunächst eine kleine Einordnung: Lindner und andere liberale Parteigänger:innen betonen gerne, dass sie die liberalen wirtschaftlichen Ansichten, nicht aber die autoritären und rechtsextremen politischen Ansichten von Milei oder Figuren wie Elon Musk teilen. Wirtschaftliches und Politisches müsse man trennen. Ganz geht diese Trennung aber nicht auf, denn der „liberale Autoritarismus“ ist schon immer Bestandteil der eigenen Tradition. Die liberalen Säulenheiligen Hayek, Mises oder Friedman machten keinen Hehl daraus, dass sie zugunsten der wirtschaftlichen Freiheit auch bereit waren, die politische Freiheit einzuschränken. Mileis Tiraden gegen den „Kollektivismus“ hat er eins zu eins von Hayek übernommen. Der Blick auf aktuelle Allianzen und Netzwerke zeigt diese Verquickungen. In Thinktanks wie dem Wiener Hayek-Institut oder der Hayek-Gesellschaft in Deutschland – sie ehrte Milei im Juni 2024 mit der Hayek-Medaille – finden Rechtsextreme und Wirtschaftsliberale ihre Schnittmengen. Unbestritten: Nicht die gesamte liberale Parteifamilie teilt diese Ansichten, aber das Kokettieren mit Figuren wie Milei und Musk appelliert genau an diese autoritäre Traditionslinie.
Ministerium für Deregulierung
Doch wie sieht es aus mit der wirtschaftlichen Reformfreude nach etwas mehr als einem Jahr unter Milei? Motor der Reformen ist das eigens geschaffene Ministerium für Deregulierung und Staatsumbau, das von Federico Sturzenegger geleitet wird. Er ist der geistige Vater hinter dem Megagesetzpaket, das Mitte 2024 beschlossen wurde. Mit Hilfe einer Notstandserklärung für die Bereiche Wirtschaft, Verwaltung, Finanz und Energie wurden damit etwa staatliche Unternehmen privatisiert und Arbeitsrechte eingeschränkt. So wurde beispielsweise die Probezeit auf acht Monate ausgeweitet. Rechtliche Möglichkeiten, gegen die in Argentinien weit verbreitete Scheinselbstständigkeit vorzugehen, wurden abgeschafft. Das Streikrecht wird für zahlreiche Sektoren begrenzt. Das Gesetz geht so weit, dass die Teilnahme an Streikaktivitäten zu einem Kündigungsgrund wird, wenn andere Mitarbeiter:innen in ihrer Arbeit eingeschränkt sind. Ob das der Fall ist, liegt im Ermessen des Arbeitgebers. Gleichzeitig wurden die Ausgaben im staatlichen Haushalt radikal gekürzt, um im Jahr 2024 ein Nulldefizit zu erreichen. In den kommenden Tagen soll ein weiteres Gesetzespaket per Dekret implementiert werden. Reformeifer kann man Milei also durchaus bescheinigen. Doch wie wirken sich die Maßnahmen aus?
Billiger Urlaub, unbezahlbarer Supermarkt
Tatsächlich konnte Milei Anfang 2025 ein Nulldefizit verkünden. Auch die Inflation wurde erfolgreich gesenkt und das makroökonomische Ungleichgewicht im Bereich des Staatshaushaltes stabilisiert. Allerdings lohnt ein Blick auf die Gründe. Die Wirtschaft schrumpfte im letzten Jahr, und die wirtschaftliche Aktivität ging zurück. Das Nulldefizit wurde durch radikale Ausgabenkürzungen etwa bei Infrastrukturinvestitionen und Renten erreicht – ohne jedoch Einnahmen zu generieren. Wo diese herkommen sollen, bleibt bisher unklar. Die Regierung setzt auf den Rohstoffsektor. Eines der wichtigsten neue Gesetze ist das sogenannte Anreizsystem für Großinvestitionen, kurz RIGI (Régimen de Incentivo para Grandes Inversiones), das für Großinvestitionen (+200 Mio. US-Dollar) im Rohstoffsektor in den nächsten 30 Jahren Steuer-, Wechselkurs- und Regulierungsvergünstigungen vorsieht. Außerdem werden Rechtsstreitigkeiten in Bezug auf die Investitionen im Rahmen des RIGI nicht mehr von nationalen Gerichten, sondern dem Ständigen Schiedshof, der Internationalen Handelskammer oder dem Schiedsverfahren des ICSID verhandelt.
Insgesamt beruht der Erfolg Mileis auf einer brutalen Notbremsung der Wirtschaft. Die ist aus Sicht der Regierung erfolgreich. Allerdings ist zu bezweifeln, dass der Kurs nachhaltig ist. Mileis Blick richtet sich ausschließlich auf die Inflation. Dafür hat er die Wirtschaft in eine Art künstliches Koma versetzt. Springen Ökonomie und Nachfrage wieder an, wie für 2025 prognostiziert, werden auch die Preise wieder steigen. 2024 profitierte die Regierung außerdem von einmaligen Sondereffekten, die es ihr ermöglichten, die Inflation mit einem günstigen Dollarkurs niedrig zu halten. Das senkt die Kosten für Importe, belastet aber die Produktion im Land, die mit den billig eingeführten Gütern konkurrieren muss. Das führt zur absurden Situation, dass der alltägliche Einkauf auch für die Mittelklasse extrem teuer geworden ist, sie aber gleichzeitig nach Brasilien in den Urlaub fliegt.
Die „Kaste“ sind die Pensionist:innen
Die Folgen des absichtlichen Austeritätsschocks sind im Alltag sichtbar. Genauso wie die Inflation gesunken ist, ist auch die Kaufkraft gesunken. Im Oktober 2024 lag der reale Durchschnittslohn 5,5 Prozent unter dem Wert von November 2023. Allerdings waren die Reallöhne zum Zeitpunkt der Wahl von Milei schon radikal gesunken. So verloren die Lohnabhängigen seit Ende 2015 im Privatsektor 23 Prozent und im öffentlichen Sektor sogar 38,2 Prozent an Kaufkraft. Im informellen Sektor ist die Entwicklung noch dramatischer. Der große Brocken in der mileischen Austeritätspolitik sind aber die Renten. Im September legte Milei ein Veto gegen die Inflationsanpassung der Pensionen ein. Als Ergebnis liegt deren Kaufkraft nun bei der Hälfte von 2015, was dem Niveau von 2001 entspricht.
Seit Kurzem erholen sich die Löhne im Privatsektor ein wenig, nicht jedoch im öffentlichen Sektor. Im Konsum spiegelt sich das nicht wider: Die Verkaufszahlen von Grundnahrungsmitteln sind weiterhin rückläufig. Das alltägliche Leben ist für einen Großteil der Bevölkerung zu teuer. Weil der Lohn nicht mehr bis zum Ende des Monats reicht, steigt die Zahl derjenigen, die mehr als einer Beschäftigung nachgehen.
Sorge um den Arbeitsplatz
Trotz der harten Einschnitte ist Milei weiterhin sehr beliebt und die Eindämmung der Inflation wird verständlicherweise als große Erleichterung empfunden. Gleichwohl verändern sich die Sorgen der Bevölkerung. Nicht mehr die Inflation, sondern der Arbeitsplatz steht im Mittelpunkt: Im ersten Jahr seit Amtsantritt von Javier Milei sind circa 187.000 Stellen verloren gegangen. Der Löwenanteil davon im Privatsektor (124.000), wobei die Baubranche am stärksten betroffen war. In diesen Zahlen nicht enthalten sind der in Argentinien bedeutsame informelle Sektor. Für den öffentlichen Sektor geht man von einem Rückgang von circa 43.000 Stellen, vorwiegend in der nationalen Verwaltung, aus. Die Regierung veröffentlicht keine detaillierten Zahlen und der Stellenrückgang ist nicht nur auf Entlassungen, sondern auch auf Kündigungen und nicht nachbesetzte Stellen zurückzuführen. Laut einer internen Studie der Gewerkschaft für Staatsangestellte ATE (Asociación Trabajadores del Estado) sind die mit Abstand größten Rückgänge im Justizministerium, der Präsidentschaft der Nation und dem Ministerium für Humankapital (vormals Soziales, Arbeit und Bildung) zu verzeichnen. Letzteres führt dazu, dass unter anderem wichtige Sozialprogramme, die Medikamentenversorgung, aber auch der Alltagsbetrieb öffentlicher Krankenhäuser eingeschränkt ist.
„Kürzungs- und Kündigungsspektakel“
Doch es sind nicht nur die Kürzungen im öffentlichen Sektor an sich, die aufhorchen lassen: Das medial inszenierte „Kürzungs- und Kündigungsspektakel“ folgt keinen Bedarfserhebungen, an manchen Punkten steht es sogar im Widerspruch zu den Behauptungen Mileis. Milei geht es darum, „Mut“ und Disruption öffentlich zu inszenieren und die Ressentiments der eigenen Basis zu bedienen. All das kann wenig verwundern, bei einem Präsidenten, der im Staat einen Feind der Gesellschaft und „Pädophilen“ sieht. Mileis heterogene Wähler:innenschaft verbindet die Ablehnung des Staates bzw. derjenigen, die als faul und mit staatlichen Privilegien ausgestattet angesehen werden, wie eben öffentliche Angestellte oder Gewerkschafter. So weigerte sich das Ministerium für Humankapital Mitte letzten Jahres trotz richterlicher Anordnung, dafür vorgesehene Lebensmittel an Suppenküchen auszuliefern; Staatsangestellte erhalten Kündigungen per WhatsApp oder stehen einfach vor verschlossenen Türen; wieder andere werden mit Drohungen zur Frühpension gedrängt oder warten seit Monaten auf Zahlungen.
Disruption als Selbstzweck
Entbürokratisierung ist ein beliebter Topos rechter und konservativer Kräfte. Schon Mauricio Macri trieb diese Sau durchs Dorf, obwohl sich die nationale Verwaltung in seiner Amtszeit zwischen 2015 und 2019 vergrößerte wie nie zuvor. Wenig verwunderlich endet Mileis „Mut“ zur Disruption, Reform und Wirtschaftsliberalismus auch dort, wo das Geldbörsel seiner Unterstützer:innen anfängt: Die Wechselkursbeschränkungen, aber auch Absprachen mit der Pharmaindustrie wurden nicht aufgehoben.
Ineffizienz und Bürokratisierung der öffentlichen Verwaltung sind etwas, das auch linke und progressive Kräfte diskutieren sollten: Das Aufbrechen von verkrusteten Strukturen (in Argentinien) ist notwendig. Mit „Mut“ und „Innovationsfreude“, wie Lindner oder Schellhorn meinen, haben die Reform von Milei aber recht wenig zu tun. Im Bereich der Forschung oder ganz basaler staatlicher Infrastruktur wie Straßenbau und -instandhaltungen hat die Regierung radikal gekürzt. Viele der Begriffe sind Euphemismen für alte Leier von notwendigem Sozialabbau, Kürzung bei den Pensionen und Vorteile für Unternehmer:innen. Das Gleiche gilt für die aktuell viel beschworene „Disruption“. Oft ist damit nichts anderes gemeint als der (autoritäre) Wunsch, alten wirtschaftsliberale Forderungen endlich – ohne anstrengende politische Aushandlungsprozesse – durchsetzen zu können. Insofern finden hier wirtschaftspolitische und gesellschaftspolitische Ansichten dann doch wieder zusammen.