Wenn die Freiheit des Marktes mehr wiegt als das Wohlergehen der Massen, dann ist ein Hauptziel des radikalen Wirtschaftsliberalismus verwirklicht. Genau dies war eine Kernforderung der Österreichischen Schule der Nationalökonomie und ihrer wichtigsten Vertreter Ludwig Mises und Friedrich Hayek – und zwar bereits im Österreich der 1920er-Jahre. Da sich neoliberale PolitikerInnen der Gegenwart häufig auf diese Tradition berufen, ist ein Blick auf die Ideengeschichte auch für die Analyse wirtschafts- und sozialpolitischer Gegenwartsentwicklung relevant.
Ursprünge der Österreichischen Schule der Nationalökonomie
Die Österreichische Schule der Nationalökonomie (ÖSN) entstand bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit ihr sind zunächst Namen wie Carl Menger oder Eugen Böhm-Bawerk verbunden. Oft wird ihr Beitrag zur Etablierung der Ökonomie hervorgehoben. Auch die erste einflussreiche Diskussion der subjektiven Werttheorie gilt als ihr Verdienst. Lange Zeit interessierten sich jedoch nur spezialisierte WissenschaftshistorikerInnen für die ÖSN. In den letzten Jahren änderte sich diese Sicht allerdings grundlegend: Die kritische historische Forschung zum Neoliberalismus macht immer deutlicher, dass nicht – wie meist angenommen – das Jahr 1947 und die Gründung der legendären Mont-Pèlerin-Gesellschaft als Geburtsmoment des Neoliberalismus gelten muss, sondern Wien in den 1920er-Jahren.
Der Schock von 1918
Wie eine explorative, von der AK beauftragte Studie zu diesem Thema deutlich macht, gruppierte sich die ÖSN in einer „dritten Generation“ ab 1920 um und „erfand sich neu“. Vorrangig verbunden ist diese Neugruppierung mit den Namen Ludwig Mises und Friedrich Hayek. Sie umfasste aber einen ganzen Kreis von „Neuliberalen“. Die Beifügung „neu“ erklärt sich aus einer tiefen Krisenerfahrung der Involvierten, aber auch aus einem geänderten Selbstverständnis als politische Intellektuelle. 1918, im Gründungsjahr der Ersten Republik, sah sich die ÖSN mit einer Erschütterung ihres Weltbildes konfrontiert. Dazu zählten der Zusammenbruch der Monarchie, der starke Rückgang der bis 1914 dynamischen Expansion von Freihandel und Erster Globalisierung, das Erstarken der Nationalstaats- und Unabhängigkeitsidee, das Hereinbrechen von Revolution und sozialen Gleichheitsforderungen, das generelle Erstarken der Arbeiterbewegungen sowie die Durchsetzung von allgemeinem Wahlrecht und Massendemokratie.
Die Liberalen erfinden sich neu
Im Roten Wien konnte man diese Veränderungen zugespitzt erleben. An kaum einem anderen Ort (außerhalb der prekären jungen Sowjetunion) wurde ein derartig umfassendes Projekt der sozialen und kulturellen Umgestaltung umgesetzt. An kaum einem anderen Ort gab es zugleich einen solch starken intellektuellen Aufbruch. HistorikerInnen sprechen mittlerweile von einer Zweiten Wiener Moderne. Diese stand der verkitschten ersten Moderne des Fin de Siècle in ihrer Wirkungskraft um nichts nach und muss umfassend verstanden werden, unter Einschluss auch ihrer intellektuellen und politischen GegnerInnen. Und was für GegnerInnen die „Neuliberalen“ waren! Ludwig Mises – zu diesem Zeitpunkt hoher Funktionär der Wiener Handelskammer – schrieb gleich zu Beginn in „Die Gemeinwirtschaft“, seiner polemischen Abrechnung mit der Sozialismusidee (1922): Das Problem sei nicht nur die Verstaatlichungs-, sondern auch die „Verstadtlichungsbewegung“.
In autoritärem Gewande
Die Gegnerschaft zum Roten Wien bezog sich zuallererst auf wirtschaftspolitische und sozialpolitische Maßnahmen. Gegen diese wurden, vor allem nach Anbruch der Weltwirtschaftskrise, Forderungen in Stellung gebracht, die heute zum neoliberalen Standardrepertoire gehören: Freihandelsbeschränkungen aufheben, Steuern für die Industrie senken, Löhne senken, Sozialleistungen kürzen (insbesondere die Arbeitslosenversicherung) sowie Konsumsubventionen einstellen. Die Reaktion der Neuliberalen um Mises und Hayek ging indes noch weiter. Sie antworteten auf die seit 1918 umfassende Ausweitung demokratischer Teilhabe mit einer autoritären Haltung. Misesʼ immer wieder zitiertes „Entzücken“ angesichts des gescheiterten Generalstreiks im Juli 1927 und seine Zustimmung für die Niederschlagung der Revolte sind ebenso in diesem Zusammenhang zu sehen wie seine im Exil formulierte Einschätzung, dass nur „der Terror, den die Sozialdemokratie ausübte“, für die folgenden Diktaturen verantwortlich gewesen sei.
Faschismus galt Mises lange als bloße Reaktion auf das Unwesen des Sozialismus, für Hayek waren die beiden überhaupt weitgehend wesensgleich. Das oft widersprüchliche, voltenreiche Verhältnis der frühen Neoliberalen zur Demokratie – aus dem Hayeks schulterklopfender Besuch beim chilenischen Diktator Pinochet als globalgeschichtliche Pointe herausragt – wird gern mit der Metapher der „Schock-Strategie“ gefasst: Die Heilsbotschaft des freien Marktes könne sich am besten entfalten, wenn alle politischen Störelemente vorher (wenn nötig, durchaus gewaltsam) beseitigt worden seien.
Kampf um die Vorherrschaft im Denken
Die Neuliberalen um Mises und Hayek suchten neue Wege des intellektuellen und publizistischen Intervenierens. Dies hatte auch, aber nicht nur mit der politischen Dringlichkeit der Auseinandersetzung zu tun – die versperrten Wege zu prestigeträchtigen Professuren und der Wegfall staatlicher Karriereoptionen im abgeschlankten postimperialen Staat spielten ebenfalls eine Rolle. Die heute von vielen mit dem Schlagwort „Neoliberalismus“ assoziierten Praktiken öffentlicher Beeinflussung durch Wissenschafter – Think-Tanks, Medienpräsenz, das Formulieren eines „positiven“ Programms – wurden bereits im Wien der 1920er-Jahre erprobt.
In der Zwischenkriegszeit, als Sozialdemokratie und Christlichsoziale als Massenparteien Propagandaschlachten führten, versuchten sich auch die beiden ÖSN-Ökonomen Mises und Hayek an breitenwirksamen Medien außerhalb der akademischen Welt und machtpolitischer Einflusszentren. Sie entwickelten eine einfache ökonomische Sprache und eine eingängige historische Ideologie, um ein breites Publikum zu erreichen und in wichtigen Fragen wie Preispolitik oder Mieterschutz zu intervenieren. Diesen Schwenk hin zur Publizistik vollzogen sie in Pamphleten und Aufsätzen in populärwissenschaftlichen Reihen und Zeitschriften wie dem „Österreichischen Volkswirt“.
Geburtsort: Wien, Stubenring 8–10
Der Historiker Quinn Slobodian schreibt in seinem vielbeachteten Buch „Die Globalisten“ (2019), dass der Geburtsort des organisierten Neoliberalismus am Stubenring 8–10 in Wien zu finden sei (dem damaligen Sitz der Wiener Handelskammer). Ihm ist zuzustimmen: Dort wurden viele bis heute gängige wirtschaftspolitische Positionen des Neoliberalismus formuliert. Dort wurde eine im 20. Jahrhundert immer wieder fatale Neigung zur autoritären Eindämmung demokratischer und sozialer Teilhabeforderungen gedanklich vorweggenommen. Und dort wurden die grundlegenden Formen öffentlicher Intervention im Sinne der liberalen Sache erprobt.
Während die Rolle der Neoliberalen im Wien der 1920er-Jahre im Groben mittlerweile bekannt ist, bleibt für die Kenntnis ihrer vielfältigen Netzwerke und Interaktionen noch viel historische Forschungsarbeit zu leisten. Bis dahin freilich scheint schon die Beobachtung hilfreich, dass sowohl ideell als auch geografisch der Weg zwischen dem historischen Stubenring 8–10 und dem heute im 9. Wiener Gemeindebezirk angesiedelten wirtschaftsliberalen Think-Tank Agenda Austria ein überraschend kurzer ist.
Dieser Beitrag fußt auf den Ergebnissen der Studie „Die Österreichische Schule der Nationalökonomie als politische Strömung“.