Ist die öster­reich­ische Abgaben­quote im inter­natio­nalen Ver­gleich „zu hoch“?

12. September 2024

Die Abgabenquote ist ein Dauergast in der wirtschaftspolitischen Debatte. Egal, wo über Steuern geredet wird, überall hört man, man brauche gar nicht über neue Steuern nachzudenken, denn kaum ein Land verlange von seinen Bürger:innen derart hohe Abgaben wie Österreich. Das zeige der internationale Vergleich der Abgabenquoten. Man müsse daher bei den Ausgaben ansetzen. Aber stimmt es, dass die Abgabenquote in Österreich überbordend hoch ist? Welche Daten liegen der Aussage zugrunde und werden sie richtig interpretiert? 

Die Tücken der Abgabenquote 

Berechnet wird die Abgabenquote durch eine Division des gesamten Steuer- und Abgabenaufkommens durch das Bruttoinlandsprodukt eines Staates. Der entscheidende Punkt: Steuern und Abgaben werden nur erfasst, wenn sie an staatliche Einheiten gezahlt werden. Während das bei den Steuern auf der Hand liegt, ist das bei den Sozialversicherungsbeiträgen weniger klar. Zum Beispiel führen die Erwerbstätigen in Österreich jährlich 1,53 % des Entgelts an die Betrieblichen Vorsorgekassen ab. Eine verpflichtende Abgabe, die mit den anderen Sozialversicherungsbeiträgen verrechnet, aber nicht in die Abgabenquote eingerechnet wird, weil die Kassen nicht staatlich, sondern privat sind. 

Wenn nun einige Staaten die soziale Sicherheit stärker über private Träger organisieren – z. B. private Krankenversicherungen oder Pensionskassen – dann schaut es in der Abgabenquotenstatistik so aus, als ob die „Abgabenbelastung“ in diesen Ländern geringer wäre, obwohl die Beiträge natürlich trotzdem zu zahlen sind. Oder anders formuliert: Die Daten sind verzerrt und internationale Vergleiche können in die Irre führen. 

Ein klassisches Beispiel dafür ist die Schweiz, wo anstelle der Pflichtversicherung in einer (quasi-)staatlichen Krankenversicherung wie in Österreich eine Versicherungspflicht bei privaten Krankenversicherungen gilt. Auch im Pensionsbereich setzt die Schweiz – abgesehen von einer staatlichen Mindestpension – auf eine Versicherungspflicht bei privaten Akteuren, den Pensionskassen. Kein Cent dieser Beiträge wird in der offiziellen Abgabenquote erfasst. Wenn nun die Schweizer Pensionist:innen in der Pension ein ähnlich gutes Auskommen haben wie in Österreich, dann muss bei Beobachter:innen, welche die Abgabenquote der beiden Länder vergleichen, der Eindruck entstehen, dass die Schweiz etwas richtig macht bzw. wir etwas falsch machen, weil dort soziale Sicherheit offenbar günstiger „organisiert“ wird. In Wahrheit liegt aber eine Falschinterpretation der Statistiken vor, weil die offizielle Abgabenquote wesentliche Beiträge der Schweizer:innen für die soziale Sicherheit schlicht nicht erfasst und wir deshalb nicht wissen, wie hoch die volkswirtschaftlichen Kosten tatsächlich sind. 

Das Problem ist keineswegs ein Schweizer Spezifikum, sondern ein Thema in vielen europäischen Staaten. So übernehmen insbesondere auch in den Niederlanden und Island, teilweise aber auch in den skandinavischen Staaten, insbesondere private Pensionskassen wichtige Aufgaben im „welfare mix“ der Staaten. Mit der Konsequenz, dass wesentliche Beiträge zur Finanzierung der sozialen Sicherheit bei Ermittlung der offiziellen Abgabenquoten unter den Tisch fallen. 

Eine einfache Methode, um Abgabenquoten besser vergleichbar zu machen 

Eine einfache Methode zur Vermeidung der Verzerrungen beim internationalen Vergleich der Abgabenquoten bieten die nichtfinanziellen Sektorkonten im System der Europäischen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Sie stellen die Einnahmen und Ausgaben der wesentlichen volkswirtschaftlichen Sektoren (Haushalte, Unternehmen, Staat, Ausland) dar. Unter anderem sind Informationen zu den Sozialversicherungsbeiträgen (Variable D61) verfügbar. Sie erlauben einen Vergleich der von den Haushalten gezahlten und der vom Staat erhaltenen Sozialversicherungsbeiträge. Auf Ebene der Haushalte werden alle Beiträge erfasst, egal ob sie an staatliche oder private Träger bezahlt werden. Wenn man diese Gesamtbeiträge den vom Staat erhaltenen Beiträgen gegenüberstellt, kann man ermitteln, was an private Träger geflossen ist und die Abgabenquote um diesen Betrag bereinigen. Die OECD bezeichnet die Gesamtbetrachtung aus Abgabenquote und verpflichtenden Sozialbeiträgen an private Träger als "verpflichtende Zahlungen". Hier wird vereinfachend von bereinigter Abgabenquote gesprochen.

Im Mittelfeld: Österreichs Abgabenquote im europäischen Vergleich 

Tabelle 1 vergleicht die bereinigte Abgabenquote für die EWR-Länder im Durchschnitt über 2014-22. Nachdem die Abgabenquote immer auch Ausdruck des jeweiligen Wohlstandsniveaus ist, also mit steigendem Wohlstand ansteigt, werden nur europäische Staaten mit vergleichbarem Wohlstandsniveau dargestellt (BIP/Kopf) zu Kaukraftparitäten mind. 90 % des EU-Durchschnitts). Es hätte wenig Aussagekraft, die Abgabenquote Österreichs z. B. an Ungarn zu messen. Die Referenz für uns sind Deutschland, die Niederlande, die Schweiz oder die skandinavischen Staaten. 

© A&W Blog


Die statistischen Auswertungen zeigen zweierlei: Durch die Berücksichtigung der privaten Sozialbeiträge steigt die (bereinigte) Abgabenquote in fast allen Ländern (Ausnahme: Luxemburg) und liegt zwischen ca. 25 % (Irland) und über 50 % (Dänemark). Besonders klar ersichtlich ist der Anstieg bei der Schweiz, den Niederlanden, Schweden und Dänemark. In diesen Ländern nehmen die Beiträge an private Pensionskassen (und teilweise Krankenversicherungen) einen erheblichen Anteil ein, was sich in der bereinigten Abgabenquote entsprechend bemerkbar macht. In Österreich sind die Beiträge an private Träger mit rund 1 % des BIP sehr gering. Damit liegt die bereinigte Abgabenquote Österreichs im Durchschnitt über 2014-22 mit 44 % kaum über jener der Schweiz (43,5 %).

In Summe zeigt sich, dass die Ausgaben für „den Staat“ und die soziale Sicherheit viel ähnlicher sind als in der steuerpolitischen Debatte oft dargestellt wird. Österreich liegt praktisch gleichauf mit der – oft als Vorbild für ein günstiges System vorgebrachten – Schweiz und niedriger als die skandinavischen „Vorbildländer“. 

Was heißt das für die aktuelle budgetpolitische Debatte? 

Unternehmerfreundliche Parteien nutzen die offizielle Abgabenquote als Argument für Steuersenkungen und Ausgabenkürzungen. Der internationale Vergleich zeige, man habe ein Ausgaben-, kein Einnahmenproblem, so die Begründung. Eine Abgabenquote von 40 % sei das Ziel, wurde in den vergangenen Wochen sowohl von Kickl als auch von Meinl-Reisinger gefordert. Auch die ÖVP spricht sich immer wieder für eine generelle Senkung der Abgabenquote aus. Ein internationaler Vergleich der bereinigten Abgabenquoten zeigt freilich, dass die österreichische Abgabenquote dem Vergleich mit Ländern wie der Schweiz oder Skandinavien durchaus standhält. Der fast schon religiöse Fokus auf die „hohe“ Abgabenquote in Teilen des politischen Spektrums in Österreich ist nicht durch Fakten gedeckt. 

Die Gefahr ist nun, dass durch die Fehlinterpretation von offiziellen Statistiken falsche wirtschaftspolitische Schlüsse gezogen werden. Wer versucht, auf Grundlage von Vergleichen der offiziellen Abgabenquoten die öffentlichen Systeme kaputtzusparen und Leistungen zu kürzen, kann erheblichen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten. Eine funktionierende staatliche Verwaltung, Bildung, Infrastruktur und soziale Sicherheit sind – gerade in Zeiten der Klimatransformation – zentrale Standortfaktoren, die nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden dürfen. Es ist klar, dass die österreichischen Haushalte und Unternehmen für die geleisteten Abgaben funktionierende staatliche Leistungen erwarten und dass das Angebot in einigen Bereichen deutlich besser werden muss. Es ist aber auch klar, dass uns ein Kahlschlag in der Finanzierung hier nicht weiterbringen wird. Im Gegenteil, in manchen Bereichen wird es sogar zusätzliche Mittel brauchen, um die Effektivität zu steigern. 

Ein realistischer Blick auf die Abgabenquote macht auch den Weg frei für die Strukturfragen im Steuersystem. Ein Hauptproblem ist der wachstumsfeindliche Steuermix. Während die Steuern auf Arbeit im internationalen Vergleich sehr hoch sind, sind die Steuern auf Vermögen und Gewinne vergleichsweise niedrig. Dazu kommt, dass das Steuersystem an gewissen Stellen unnötig kompliziert geworden ist, was es den Steuerehrlichen unnötig schwer und den Steuertricksern unnötig leicht macht. Die steuerpolitische Debatte muss diese Strukturfragen wieder stärker ins Blickfeld nehmen. 

Insoweit kann das anstehende Konsolidierungspaket auch als Chance begriffen werden. Nämlich dann, wenn es (auch) dazu genutzt wird, das Steuersystem in seiner Struktur zu verbessern. Dazu kommt: Einnahmenseitige Konsolidierungen haben auch konjunkturpolitische Vorteile. Der Steuermultiplikator ist im Vergleich zu den Multiplikatoren für öffentliche Investitionen und Konsum niedriger, die negativen BIP-Effekte von Steuererhöhungen also niedriger als von Ausgabenkürzungen. Das gilt insbesondere für vermögensbezogene Steuern. Eine einnahmenseitige Konsolidierung in Richtung vermögensbezogene Steuern wäre somit ein wichtiger Beitrag, um die negativen konjunkturellen Effekte eines Konsolidierungspakets zu reduzieren. 

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