Im „Jahr der Schlange“ läuft Chinas Fünfjahresplan (2021–2025) aus, Zielvorgaben müssen erfüllt werden. Historisch betrachtet, haftet diesen der dumpfe Geruch von etlichen gescheiterten realsozialistischen Systemen an. Doch der gegenwärtige 14. Fünfjahresplan (2021–2025) ist ein grundlegendes Instrument in der Umsetzung von Chinas Modernisierungsstrategie – mit weitreichenden Folgen für Arbeitsmarkt und Gesellschaft.
Innovation und neue Produktivkräfte
Welche Punkte sind nun bei Chinas jüngster Modernisierungspolitik hervorzuheben? Zum einen wird „Innovation“ sehr häufig als tragende Säule für Entwicklung genannt, zum anderen ist technologische Innovation auf ideologischer Ebene in den Dienst der sogenannten „neuen Produktivkräfte“ gestellt. Anders als die traditionellen Produktionsmittel Arbeit und Kapital basieren sie auf technologischen Innovationen. Sie finden sich in Big Data, Blockchain-Technologie, Plattform-Ökonomie sowie in der industriellen Anwendung von Künstlicher Intelligenz widergespiegelt. Es geht also um umfassende Digitalisierung und KI-Entwicklung. Hier möchte China in den kommenden Jahrzehnten eine Führungsrolle einnehmen. Was heißt dies in der jetzigen Endphase des 14. Fünfjahresplans? Bereits im Dezember 2024 haben Chinas Wirtschaftsexpert:innen damit begonnen, Schlüsselpunkte für den 15. Fünfjahresplan (2026–2030) auszuformulieren. Auch hat das Parteigremium der Zentralen Arbeitskonferenz zu Wirtschaftsfragen gegen Jahresende 2024 aktuelle Richtlinien für 2025 ausgegeben. Darin wurden für das kommende Jahr technologische Großprojekte angekündigt sowie mehr industrielle Anwendungsoptionen für neue Technologien; des Weiteren sollen Zukunftsindustrien insbesondere im privaten Sektor gestärkt werden.
Wie sieht es nun auf der internationalen Ebene aus? Hier zeigt sich, dass die Volksrepublik zwar in ihren Plänen auch weiterhin ziemlich unverhohlen eine globale Führungsrolle in den neuen Technologien anstrebt, doch zugleich internationale Kooperationsbereitschaft demonstriert. So etwa unterzeichnete am rezenten AI Action Summit (10./11. Februar 2025) – dieser wurde auf französische Initiative in Paris abgehalten – China gemeinsam mit der EU und 59 weiteren Staaten eine von europäischer Seite als historisch bewertete Absichtserklärung für eine zukünftige globale Regulierung von KI-Technologie.
Die europäische Sichtweise
Apropos Europa: In heimischen Regionen wächst die Befürchtung, in einigen Wirtschaftsbranchen angesichts der staatlich forcierten und staatlich gelenkten Innovationspolitik Chinas die Wettbewerbsfähigkeit auf Drittmärkten zu verlieren. Mit Blick auf Österreich sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass bei einer kürzlich vom Gemeindebund und der Stadt Wien initiierten Podiumsdiskussion die dringende Notwendigkeit einer innovations-getriebenen europäischen Industriepolitik betont wurde. Die Argumentation der Expert:innen lautete: „Der rechtliche Rahmen für industrielle Digitalisierung und KI-Anwendung innerhalb der EU ist bereits bereitgestellt, doch jetzt muss möglichst rasch eine gesteuerte Kommerzialisierung der neuen Technologien in Form von innovativen Produkten und Dienstleistungen stattfinden.“ Dieser Situationsbefund zeigt eines deutlich auf: Auch in der heimischen Wirtschaft und Arbeitswelt geht es um die Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse, allerdings unter Einhaltung europäischer Werte.
Technologische Spitzenleistungen – „Arbeitstier“ Mensch
Werfen wir also einen Blick auf die chinesische Gesellschaft mit der Frage, ob die technologischen Innovationen der letzten Jahre die allgemeine Lage auf den diversen Arbeitsmärkten verbessert haben. Hier sind es vor allem die Online-Plattformen, wo Kritik an sozialen oder ökonomischen Verhältnissen zu finden ist. Dabei fällt auf, wie häufig chinesische Online-Nutzer:innen bei ihren Chats den Begriff „Niu-ma“ benutzen. Die wörtliche Übersetzung aus dem Chinesischen lautet „Rind-Pferd“, im übertragenen Sinn ist jedoch ein schwer arbeitendes, erschöpftes „Nutztier“ gemeint. Allein aus der jüngsten Popularität des Wortes „Arbeitstier“ lässt sich ableiten, dass der gegenwärtige staatlich gelenkte Innovationskurs auch verschärfte Arbeitsbedingungen nach sich zieht.
Die allgemein bekannte Realität bei führenden Technologieriesen in der Volksrepublik ist die sogenannte „9-9-6“ Arbeitswoche; also 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, 6 Arbeitstage pro Woche. Gerade in den innovativen Hochtechnologie-Branchen hat sich diese Arbeitspraxis durchgesetzt und sorgt immer wieder für kritische öffentliche Debatten in China. Es sind vor allem die forschungs- und entwicklungsorientierten Unternehmen, einschließlich der Internetfirmen, die für ihre ausbeuterische Überstundenkultur berüchtigt sind.
Arbeitsrecht versus Technologie-Marathon
Das chinesische Arbeitsrecht schreibt vor, dass Arbeitsschichten nicht länger als acht Stunden täglich oder pro Woche durchschnittlich 44 Arbeitsstunden andauern dürfen. In keinem Fall, so das Gesetz, dürfen Arbeitnehmer:innen mehr als 36 Überstunden im Monat leisten. Chinas Ministerium für Humanressourcen und Soziale Sicherheit wendet sich gemeinsam mit dem Obersten Volksgerichtshof in regelmäßigen Abständen an die Öffentlichkeit, um die rechtlichen Standards für Arbeitszeiten und Überstundenvergütungen zu klären, die den lokalen Schlichtungsinstitutionen und Gerichten bei arbeitsrechtlichen Fällen als Referenz dienen sollen. In den Hochtechnologie-Unternehmen sind allerdings wenig Änderungen in der Arbeitskultur zu sehen. Diese Unternehmen ziehen es vor, fallweise arbeitsrechtliche Verwaltungsstrafen zu zahlen, ändern jedoch nicht ihre Leistungsstandards. Die 9-9-6-Arbeitwoche bleibt und wird aller Voraussicht auch weiterhin bleiben. Zwar entsprechen die Arbeitsverträge den rechtlichen Vorgaben, doch ein strenges Leistungsportfolio zwingt weiterhin indirekt zu Überstunden.
Insbesondere junge Arbeitnehmer:innen in den innovativen Industriesektoren beugen sich diesem Regime, denn die Arbeitsmarktlage für die jüngere Generation hat sich seit der Covid-19-Pandemie in China deutlich verschlechtert. Nicht zuletzt ist die sinkende Geburtenrate in China auch auf die Lebensumstände im Rahmen einer 9-9-6-Arbeitswoche zurückzuführen. Dennoch hat die chinesische Regierung bei den geburtenfördernden Maßnahmen der letzten Jahre den Schwerpunkt auf finanzielle Zuwendungen und Steuererleichterungen gelegt, anstelle von großzügigeren Arbeitskarenz-Regelungen. In der VR China beträgt der landesweite Mutterschaftsurlaub für Mütter 98 Kalendertage (15 Tage vor der Entbindung und 83 Tage danach). Einzelne Provinzen haben den Karenzanspruch für Mütter um einige Tage erweitert.
Fazit
Dieser Beitrag wirft einige Schlaglichter auf die gesellschaftlichen Folgen einer exzessiven Innovationspolitik mit staatlicher Förderung in der VR China. Sicherlich, die systemischen Grundlagen einer sozialistischen Volksrepublik sind mit unserer Verfassung keinesfalls zu vergleichen. Aber dennoch sollten wir uns die Frage stellen, welche Lehren wir in Europa beziehungsweise in Österreich aus der dargestellten Faktenlage in China ziehen können. Es steht außer Zweifel, dass unsere heimische Unternehmenslandschaft unter immensem Druck steht. Europa befindet sich zurzeit in einem Konkurrenz-Marathon bei der Entwicklung und Vermarktung neuer Technologien. Doch wenn es um eine zukünftige „innovationsgetriebene“, europäische Industriepolitik geht, führt ein Blick nach China immer wieder warnend vor Augen, welche Bürden hiesigen Arbeitnehmer:innen aufgelastet werden könnten.