Was hat Chinas Normungs­politik mit unserer Arbeits­welt zu tun?

05. August 2024

China liegt per Luftlinie etliche tausend Kilometer von uns entfernt und die arbeitsrechtlichen Bestimmungen in einer kommunistisch geführten Volksrepublik lassen sich nur schlecht mit den hiesigen Arbeitswelten vergleichen. Auch erscheint das Thema Normung auf den ersten Blick nicht ansprechend. Nichtsdestotrotz sollten wir uns hierzulande Gedanken machen, warum die gegenwärtige Normungspolitik der Volksrepublik China unser Wirtschaftsgeschehen – und damit auch sozialpolitische Faktoren – beeinflusst und auch weiterhin beeinflussen wird. Allerdings sollte es nicht beim bloßen Räsonieren bleiben, zeitgerechte politische Aktion als Reaktion wäre angesagt.

Normung auf gewerkschaftspolitische Agenda setzen

Normen sind aus unterschiedlichen Gründen für Beschäftigte von Bedeutung: Zunächst müssen wir uns eingestehen, dass China hinsichtlich „grüner Technologie“ im Vergleich zu Europa die Nase vorne hat. Ebenso verhält es sich bei Digitalisierung im Industrie- und Servicesektor. Diese Führungsposition hat China nicht zuletzt durch radikale Reformen im Normungswesen während des letzten Jahrzehnts errungen. So wurde zum Beispiel ein sehr dezentral angelegtes, nationales Normungswesen innerhalb weniger Jahre straff zentralisiert. Die staatliche Förderung innovativer Industriezweige soll effizienter gehandhabt werden. Hier zeigt sich deutlich, dass staatliche Intervention nicht in jedem Fall mit der Entschleunigung oder Blockade ökonomischen Fortschritts gleichzusetzen ist. Die offizielle chinesische Devise lautet „Wirtschaft 4.0 wird von der Regierung vorangetrieben und vom Markt angeleitet“. Vorrangig treibende Kraft ist also der Staat, nicht die Dynamik des Marktes.

Kostenloser Zugang zum Normungsinhalt

Ein weiteres Beispiel für eine radikale Intervention des chinesischen Staates war die Gründung einer Online-Plattform, die detaillierte Angaben zu Normen jedweder Branche kostenlos zugänglich machte. Diese Maßnahme wurde im Ausland als revolutionär wahrgenommen und bewirkte im chinesischen Inland insofern einen Push-Effekt, als Unternehmen oder auch Einzelpersonen keine Gebühren mehr für den Zugriff auf Normen zahlen mussten. Für chinesische Start-ups oder für solche, die es werden wollen, sowie für den gesamten Ausbildungs- und Bildungsbereich war sie eine erhebliche finanzielle Erleichterung.

Im EU-Raum hingegen sind Normen kostenpflichtig, zumal sich die europäischen Normungsorganisationen – wie das deutsche DIN oder das österreichische ASI – weitgehend durch diese Zugangsgebühren in Form von Lizenzentgelten finanzieren. Der Verkauf von Normen wird im europäischen Raum aus dem Urheberrecht abgeleitet. Ein begünstigter Zugang für Bildungseinrichtungen wie in Österreich beispielsweise für die Höheren Technischen Lehranstalten wird zwar angeboten, bedeutet aber dennoch eine finanzielle Hürde. Dies bekommt in erster Linie die junge Generation, die sich in Ausbildung befindet, zu spüren. Arbeitnehmervertreter:innen, die den Normungsinhalt und seine Umsetzung im betrieblichen Bereich prüfen wollen, scheitern mangels entgeltfreien Zugangs.

Dass die Finanzierung der europäischen Normungsinstitute in der derzeitigen Form zu reformieren ist, ergibt sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes. Danach ist aufgrund der EU-Transparenzverordnung freier Zugang zur Normung – im konkreten Fall betreffend Spielzeug – zu gewährleisten. Die EU-Kommission ist gerade dabei, die Reichweite des Urteils und dessen Implikationen zu prüfen. Es ist zu hoffen, dass dieser Impuls genutzt wird, inspiriert von der chinesischen Normungsstrategie eine neue Herangehensweise zur Entwicklung, Offenlegung und Finanzierung von Normen zu erarbeiten.

Globalisierte Wirtschaft und Arbeitswelt

Auf der internationalen Ebene nützt Peking die Beziehungen mit den Partnerländern des globalen Seidenstraßen-Projekts, in China als „Belt and Road Initiative“ (BRI) bezeichnet. Im chinesischen Strategiedokument für Normungswesen vom Oktober 2021 wird sehr deutlich ausgesprochen, dass die Kooperation und Zusammenarbeit mit BRI-Partnerländern im Normungswesen aktiver als zuvor gefördert werden soll.

Doch zurück zu unserer Arbeitswelt, wo laufend Arbeitsplätze durch schrumpfende Exportmärkte und sinkende Konkurrenzfähigkeit verloren gehen. Europäische Wirtschaftstreibende wie auch Arbeitnehmer:innen leiden gleichermaßen darunter, dass sich chinesische Unternehmen mit ihren Produkten, die weitgehend chinesisch genormt sind, just in den ökonomisch aufstrebenden Weltregionen zunehmend durchsetzen. Wir sprechen hier nicht von Plastikspielzeug oder T-Shirts, sondern von hochwertiger digitaler Technologie mit KI-Elementen, die in den Bereichen intelligente Mobilität, Satellitenfunk, Big Data Management, Blockchain, Metaversum etc. eingesetzt wird. Die von der AK in Auftrag gegebene Studie zu Chinas Digital Economy zeigt: Ein keineswegs unwahrscheinlicher Zukunftstrend in Richtung Dominanz im internationalen Normungswesen würde den Großteil innovativer, digitalisierter Schlüsselindustrien betreffen. Denn normative Vorteile im digitalen Wettbewerb zu erzielen – insbesondere in den zukunftsträchtigen Bereichen wie Künstliche Intelligenz, Internet of Things, Netzsicherheit und Quantentechnologie –, gewährleistet letztlich auch systemische Sicherheit.

Gleichgültig welcher Markt, egal welches Land – sobald sich chinesische Normungskriterien durchgesetzt haben, gestaltet sich ein Umstieg auf Produkte, die mit europäischen Normen konform sind, schwierig. Und dieser Umstand schafft eine gewisse Dringlichkeit nicht nur für die heimische Privatwirtschaft, sondern auch für die heimische Politik. Und damit kommen wir zurück zur voranstehenden Aussage in der Einleitung: „Politische Aktion als Reaktion ist angesagt.“

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