Die vom Baukonzern Carillion errichteten Bauwerke, wie Schulen, Gefängnisse und Straßen wurden auch gleich von diesem betrieben. Eine praktische Symbiose aus Sicht der britischen Regierung: Bau und Betrieb von Infrastruktur und Dienstleistungen im öffentlichen Interesse konnten ausgelagert werden, somit auch die Verantwortung dafür. So sieht zumindest das Grundmodell der englischen Private Finance Initiative aus, die von den Regierungen beider Couleurs seit 1992 getragen wurde. Doch nun ist der Konzern insolvent.
Carillion war die zweitgrößte englische Baufirma mit weltweit 43.000 Beschäftigten, 20.000 davon in Großbritannien. Neben ihrer Bautätigkeit betrieb sie im staatlichen Auftrag Gefängnisse, die Abhörzentrale GCHQ (Government Communications Headquarters), stellte rund 11.500 Krankenhausbetten zur Verfügung und war für die tägliche Versorgung zehntausender Schulkinder verantwortlich. Während für Unternehmen der Privatwirtschaft klar ist, wie bei Zahlungsunfähigkeit vorzugehen ist, sieht das bei Unternehmen, die Dienste im allgemeinen Interesse anbieten, anders aus. Die sonst neoliberal agierende konservative britische Regierung sicherte sofort zu, für die ausstehenden Zahlungen einzuspringen.
PPP: Staatshaftung statt unternehmerischem Risiko
Das Konzept für die Privatwirtschaft ist klar: Es genügt, Betreiberschaft für öffentliche Infrastruktur zu akquirieren, und das unternehmerische Risiko reduziert sich auf null. Es ist durch die stillschweigende staatliche Ausfallshaftung gesichert. Die unsichtbare Hand des Marktes ergänzt durch die schützende Hand des Staates. Das ist „unternehmerisches Risiko“ der neuen Generation.
Es funktioniert aber nicht nur in Großbritannien, sondern es hat sich in Kontinentaleuropa breit und gesellschaftsfähig gemacht. Public Private Partnerships, bei denen der Gewinn privatisiert, der Verlust sozialisiert wird, liegen voll im Trend. Aus unternehmerischer Sicht ein lukratives Geschäftsmodell: Auch der sogenannte Juncker-Plan (European Fund for Strategic Investment) ist so konzipiert.
Dieses Modell ist aus ArbeitnehmerInnensicht inakzeptabel. Nicht nur, dass der Faktor Arbeit nach wie vor in der EU am stärksten besteuert ist, Beschäftigte tragen auch die Hauptlast beim Bankrott von Unternehmen, die Dienstleistungen im öffentlichen Interesse erbringen. Die SteuerzahlerInnen sind es auch, die bei jeder Privatisierung von vormals staatlicher Infrastruktur enteignet werden. Lukrative Monopol- und Oligopolunternehmen (Betrieb von Autobahnen, Stromerzeugung, Stromleitungen, Wasserver- und -entsorgung, Ölraffinerien, Gaspipelines) werden privatisiert, die Dividenden fließen in die Taschen der AktionärInnen und nicht mehr in die Staatskasse.
Der Verlust staatlicher Gestaltungsmacht
Privatisierung von staatlichem Eigentum ist aber gleichbedeutend mit Privatisierung von gesellschaftlich relevanten Entscheidungen. Je stärker Schlüssel- und Versorgungsindustrien von Privaten dominiert werden, desto stärker werden auch wirtschaftspolitische Entscheidungen aus demokratisch legitimierten Prozessen herausgenommen und von Privaten unter Maßgabe der Profitmaximierungslogik getroffen.
Während in Europa der Streit um die Sinnhaftigkeit der „schwarzen Null“ schwelt und gleichzeitig das Tafelsilber verkauft wird, profitieren Staatsfonds, u.a. von Saudi Arabien, Vereinigten Arabische Emiraten, Quatar, Singapur, China und Norwegen, aber auch große Konzerne. Sie erwerben ungehindert strategisches Eigentum an wichtigen europäischen Schlüsselunternehmen und Schlüsseltechnologien. Regierungen von Drittstaaten treffen ihre Entscheidungen betreffend öffentliche Infrastruktur aus rein wirtschaftspolitisch-strategischen Überlegungen.
Innerhalb der EU ist das nicht möglich. Die Bekanntmachung der EU-Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe (2016/C 262/01) weitet den Beihilfenbegriff ohne Einbeziehung des EU-Parlaments weit über seine ursprüngliche Intention im Vertrag zur Arbeitsweise der EU (AEUV) aus. Danach sind praktisch alle Tätigkeiten des Staates, die nicht unmittelbar der hoheitlichen Befehls- und Zwangsgewalt zuzurechnen sind, als wirtschaftlich anzusehen. Ambitionierte Infrastrukturprojekte der öffentlichen Hand werden dadurch immer mehr erschwert. Hier prüft eine autokratische Behörde, ob sozial- und gesellschaftspolitische Überlegungen die Errichtung, Verbesserung und Restrukturierung öffentlicher Infrastruktur rechtfertigen, oder ob eine verbotene Beihilfe vorliegt.
Bis heute ist es nicht gelungen, auf europäischer Ebene eine Bereichsausnahme für „Dienste im allgemeinen (wirtschaftlichen) Interesse“ zu schaffen. Der diesbezüglich kleinste gemeinsame Nenner für das Beihilfenrecht findet sich im sogenannten „Almunia-Paket“. Die „Verwirtschaftlichung“ sämtlicher Bereiche, die ehemals der hoheitlichen Gewalt oder dem allgemeinen Interesse zugeordnet wurden, führt zum Verlust staatlicher Gestaltungsmacht.
Die zerstörerische Wettbewerbsfiktion
Komplementär dazu hebelt das Sekundärrecht Art. 345 AEUV aus, der normiert, dass die Eigentumsordnung in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbleibt. So greifen das Energiebinnenmarktpaket sowie das Eisenbahnpaket in die eigentumsrechtliche Struktur der Mitgliedstaaten ein, indem Entflechtung und Verpflichtung zur öffentlichen Auftragsvergabe normiert werden. Die juristische Rechtfertigung wird in der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit dieser Sektoren gesehen. Wettbewerb bei netzgebundenen Dienstleistungen, wie Eisenbahn, Post, Strom, aber auch Linienverkehr ist aber eine organisatorische Herausforderung. Der Ausbau zweier oder mehrerer parallel verlaufender Netze ist ökonomisch meist unsinnig. Daher wird versucht, Wettbewerb durch Netzöffnung zu simulieren.
Stehen aber einmal öffentlich-rechtliche Betreiber, wie bei Schiene, Strom und Post mit privaten Unternehmen im Wettbewerb, so sind die EU-Wettbewerbsregeln anzuwenden. Das logische Ergebnis ist unter anderem, dass Privatunternehmen nur dort ihre Dienste anbieten, wo Gewinn zu erwarten ist: Rosinenpicken statt flächendeckendem Angebot. Dadurch werden bestehende, gut funktionierende Systeme für die Erbringung von Daseinsvorsorgeaufgaben zerstört oder bedroht. Die Kosten – wie Investitionen in den Erhalt der Infrastruktur – werden sozialisiert, der Gewinn aus dem Betrieb lukrativer Dienste privatisiert.
Sozialisierung des Wettbewerbsrechts
Großbritannien als Vorreiter der Privatisierung vormals typischer Staatsaufgaben ist zum „worst practice“-Fall geworden. Der Konkurs des Unternehmens Carillion steht nicht nur für einen gescheiterten Konzern, sondern ist Symbol für unsoziale Geschäftsmodelle und den Niedergang der öffentlichen Infrastruktur. Dennoch wird es von vielen Mitgliedstaaten der EU als praktisches Geschäftsmodell gesehen, die „Schuldenbremse zu ziehen“ und die sogenannten „Stabilitätskriterien“ einzuhalten und sich damit gleichzeitig aus der politischen Verantwortung für die Qualität von Dienstleistungen im öffentlichen Interesse zu stehlen. Labour-Oppositionsführer Corbyn hat darauf eine klare Antwort: „Die Politik der Abzockerei-Privatisierung muss ein Ende haben.“
Die EU-„Wirtschaftsregierung“ und das EU-Wettbewerbsrecht greifen ohne weiteren Legitimationsbedarf in die rechtlichen Strukturen der Mitgliedstaaten ein. Dieser Verlust an Gestaltungskraft wird als Verlust demokratischer Teilhabe der BürgerInnen wahrgenommen. Um den sozialen Charakter, die demokratischen Prinzipien der EU und die europäische Integration zu verteidigen, muss dem systematischen Abbau staatlicher Leistungen entgegengewirkt werden. Es bedarf einer „Sozialisierung“ des Wettbewerbsrechts. Dienste der Daseinsvorsorge müssen aus den Fesseln des Beihilferechts befreit werden:
- Der DGB hat mit seinem Marshall-Plan für Europa ein Gegenkonzept vorgelegt, das geeignet ist, die dringend notwendigen Infrastrukturinitiativen in Europa einzuleiten. Anders als der Juncker-Plan sieht er aber die Beteiligung von Privatkapital und Unternehmen nicht als Voraussetzung an. Eben gerade um zu vermeiden, dass die Profite privatisiert und die Verluste sozialisiert werden.
- Das Wettbewerbsrecht muss sozialisiert und demokratisiert werden. Dazu müssen die Prüfkriterien des EU-Wettbewerbsrechts um die Auswirkungen auf die Beschäftigten ergänzt werden. Aufgaben im allgemeinen (wirtschaftlichen) Interesse müssen von der Beihilfenkontrolle ausgenommen werden.
- Die Neuausrichtung europäischer Wirtschaftspolitik muss auf der Gründung von strategischem Eigentum statt dem Slogan der „schwarzen Null“ basieren. Nicht die Schuldenbremse muss in den Verfassungsrang, sondern strategisches Eigentum Die Zwangsprivatisierung ist EU-verfassungswidrig, sie widerspricht Art. 345 AEUV und kommt einer Enteignung der BürgerInnen gleich.