Angehörigenpflege und Berufs­tätigkeit in Öster­reich

13. November 2024

Bis zu einer Million Menschen in Österreich – mehrheitlich Frauen – vereinen derzeit Angehörigenpflege und Erwerbstätigkeit, zeigt eine aktuelle Studie. „Man rennt einen Marathon und weiß nie, wann er aufhört“ – so könnte der Befund lauten. Zur Bewältigung dieser Aufgaben brauchen sie viel mehr Unterstützung und eine höhere politische Aufmerksamkeit.

Pflegende Angehörige sind Personen, die Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf in ihrem Umfeld unterstützen und/oder pflegen. Dies können z. B. ältere Menschen mit altersbedingten Beeinträchtigungen sowie Menschen mit Beeinträchtigungen oder schweren Erkrankungen aller Altersgruppen sein. Personen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf brauchen z. B. Hilfe bei der Bewältigung grundlegender alltäglicher Aktivitäten (z. B. Körperpflege), instrumenteller alltäglicher Aktivitäten (z. B. Einkaufen) und/oder hinsichtlich sozialer Teilhabe. Die betreuten Personen, um die sich pflegende Angehörige kümmern, können mit diesen zusammenwohnen, in einem anderen Haushalt oder auch in einer Einrichtung (z. B. einem Pflegeheim) leben. Die Lebenssituationen von pflegenden Angehörigen sind sehr unterschiedlich.

Die Wissenschafter:innen Nagl-Cupal/Kolland, Zartler/Mayer/Bittner/Koller/Parisot/Stöhr beschreiben in ihrer Studie (2018) die Situation von pflegenden Angehörigen. Seit 2023 gibt es eine umfassende Darstellung der Situation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in der Familie pflegen (sogenannte „Young Carer“ und „Young Adult Carer“). Ein detaillierter Einblick in die Vereinbarkeitsproblematik von Erwerbsarbeit und Angehörigenpflege fehlte bis dato. Nun geben die Expert:innen Kadi/Pot/Simmons/Leichsenring (Europäisches Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung) und Staflinger (Arbeiterkammer Oberösterreich) in ihrer aktuellen Studie Einblicke in die Lebens- und Arbeitswelt von pflegenden Angehörigen und zeigen Handlungsfelder auf.

Angehörigenpflege oft mit hohem Zeitausmaß verbunden

Angehörigenpflege beginnt häufig schleichend: anfangs mit der Übernahme einzelner Tätigkeiten wie Einkauf, Begleitung bei Arztbesuchen oder Haushaltführung, endet diese häufig in einer zeitintensiven Übernahme vieler Aufgaben rund um die Pflege von nahen Angehörigen.

Werden viele Stunden der Angehörigenpflege und -betreuung übernommen, hat dies oft Auswirkungen auf die Erwerbsarbeitszeit. Die Folgen reichen von einer Arbeitszeitreduktion bis hin zum (zeitweisen) völligen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben für die Pflege. Verbunden mit dem teilweisen Ausstieg aus dem Arbeitsleben sind mangelnde soziale Teilhabe, geringeres Einkommen bis hin zu einer geringen Pension und drohender Altersarmut für Frauen.

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Unterstützung für pflegende Angehörige greift zu kurz

Pflegende Angehörige beschreiben ihre Situation sehr unterschiedlich. Sie erleben häufig sehr viel Sinnstiftung in der Begleitung ihrer Angehörigen. „Da ist so viel Herzblut dabei“, wie eine Betroffene schildert. Gleichzeitig fühlen sie sich aber häufig, vor allem bei langen Phasen der Pflege, belastet: „Ich habe mich ständig zerrissen gefühlt“, wie eine andere Studienteilnehmerin anmerkt. Belastungen ergeben sich oftmals dadurch, dass Angehörigenpflege und Beruf schwer zu vereinbaren sind, weil die Arbeit fordernd ist oder die Arbeitgeber:innen noch zu wenig sensibilisiert sind für die Doppelbelastung pflegender Angehöriger. In Österreich werden zahlreiche Leistungen zur Entlastung in Pflegesituationen angeboten. In der letzten Zeit zeigt sich aber immer mehr, dass die professionellen Strukturen, wie z. B. Senioreneinrichtungen, aber auch mobile Dienste, viel zu wenig ausgebaut sind bzw. teils auch aufgrund der knappen Personalsituation Heimplätze gesperrt wurden und Leistungsstopps in der mobilen Pflege auf der Tagesordnung stehen. Sichtbar wird auch, dass das Angebot nicht überall gleich gut ausgebaut ist. Vor allem im ländlichen Bereich gibt es hier noch starken Aufholbedarf: „Ein Tageszentrum oder eine Demenzservicestelle ist oft 30 Kilometer entfernt“, wie eine Community Nurse in der Studie betont.

Auch im Zugang zu bereits vorhandenen Unterstützungsangeboten gibt es für pflegende Angehörige viele Barrieren. Dies betrifft beispielsweise die Pensionsweiterversicherung für pflegende Angehörige oder finanzielle Unterstützungen für Ersatzpflege.

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Betroffene schildern, dass die Informationen teils schwer zugänglich sind und somit auch kaum Überblick vorhanden ist, welche Angebote es derzeit schon geben würde. Darüber hinaus sind Zugangskriterien oft zu eng definiert, das Stellen von Anträgen ist kompliziert und die finanzielle Unterstützung reicht oftmals nicht aus, um die tatsächlichen Kosten in Zusammenhang mit der Pflege zu decken: „Ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Auch beim Zugang zum Pflegegeld erleben die Befragten viele Hürden. Die derzeitige Gutachtenspraxis führt zudem häufig dazu, dass Menschen eine zu niedrige Pflegegeldstufe zuerkannt wird. Der Weg zum eigentlich zustehenden Anspruch führt dann häufig über das Gericht.

Pflegende Angehörige kämpfen mit vielen Problemen

Zu wenig bekannte oder überhaupt fehlende Angebote führen dazu, dass pflegende Angehörige tagtäglich vor großen Herausforderungen stehen. „Man geht ja durch die Hölle und gewöhnt sich an die Temperatur. Irgendwann wird das alles halt so normal“, wie eine Betroffene es ausdrückt. Diese Herausforderungen wirken sich häufig auch auf ihr Erwerbsleben aus. Pflegende Angehörige schildern Probleme in der Vereinbarkeit, aber auch, dass sie die Erwerbsarbeit für die Angehörigenpflege unterbrechen mussten.

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Auch der Arbeitsklima Index zeigt, dass Erwerbstätige, die Angehörige pflegen, sich durch Zeitdruck in der Arbeit häufiger, nämlich zu rund 24 Prozent, „sehr stark“ belastet fühlen als erwerbstätige Personen, die keine Angehörigen pflegen (8,9 Prozent der Männer, 9,9 Prozent der Frauen). Die ständige Belastung wirkt sich häufig auch auf die Gesundheit aus. Männer und Frauen, die Angehörige betreuen, schätzen laut Arbeitsklima Index ihren Gesundheitszustand als schlechter ein als jene, die dies nicht tun (müssen). Über einen sehr guten Gesundheitszustand berichten 24,4 Prozent der Männer, die nicht pflegen, aber nur 19 Prozent der Männer, die pflegen, sowie 25,1 Prozent der Frauen, die nicht pflegen, gegenüber lediglich 16,4 Prozent der Frauen, die neben der Erwerbsarbeit auch Angehörige pflegen und betreuen.

Beruf und Angehörigenpflege besser vereinbar machen

Pflegende Angehörige gelten derzeit als der größte Pflegedienst in Österreich; rund 80 Prozent der pflegebedürftigen Personen werden durch ihre Angehörigen gepflegt. Sie besser zu unterstützen wäre ein Gewinn für alle: für sie selbst, für Menschen mit Pflegebedarf, aber auch für Arbeitgeber:innen. Eine Verbesserung ist auf vielen Ebenen nötig. Umzusetzen sind unter anderem folgende Maßnahmen:

  • Umsetzung der Europäischen Care-Strategie auf Bundesebene und Ausarbeitung eines nationalen Aktionsplans für pflegende Angehörige.
  • Weitere Verbesserungen im Arbeitsrecht, wie z. B. Recht auf Wechsel zwischen Voll- und Teilzeit, Ausdehnung der Pflegefreistellung, durchgehender Rechtsanspruch auf Pflegekarenz.
  • Bessere Anrechnung von Pflegezeiten auf dem Pensionskonto.
  • Verbesserungen beim Pflegegeld.
  • Ausbau der Unterstützungsangebote und professionellen Dienste in der Beratung, Pflege und Schule.
  • Besserer Zugang zu Gesundheitsleistungen.
  • Ausbau der Angebote für Jugendliche, die in der Familie pflegen (Young Adult Carer).
  • Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit in den Betrieben.
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