Im Superwahljahr 2024 sind alle Augen auf die Demokratie gerichtet. Dabei zeigt sich eine Schieflage: Nicht alle, die von den Ergebnissen staatlicher Entscheidungen betroffen sind, dürfen auch mitbestimmen. Ein guter Zeitpunkt, um sich daran zu erinnern, dass Demokratie immer erst erstritten und jedes Recht auf Mitbestimmung hart erkämpft werden muss.
Allein in Österreich finden heuer sieben Wahlen statt, darunter die Nationalratswahl, die Europawahl und die Arbeiterkammer-Wahl. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Demokratie und soziale Gerechtigkeit maßgeblich von der Arbeiter:innenbewegung erkämpft wurden. Im frühen 20. Jahrhundert wurde in Österreich eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung über Wirtschaftsdemokratie geführt. Folgerichtig war 1934 das Verbot der freien Gewerkschaften nach den Februaraufständen ein wichtiger Eckpfeiler der Diktatur. Heute ist die Demokratie mit der Mitbestimmung durch Betriebsräte und Personalvertretungen auch in den Betrieben institutionell verankert.
Die aktuellen Krisen stellen auch die Demokratie vor Herausforderungen. Gesellschaftliche Ungleichheit, Zugangsbeschränkungen zu formeller Mitbestimmung und Machtverschiebungen von den Beschäftigten hin zu Unternehmen erschweren echte demokratische Teilhabe. Gerade die unteren Einkommensgruppen fühlen sich zunehmend von Entscheidungen ausgeschlossen. Dabei sollte eigentlich gelten: Was alle betrifft, sollte von allen entschieden werden.
Die Demokratie ist in Gefahr
Dass die Demokratie gegenwärtig hinter diesen Anspruch zurückfällt, lässt sich besonders klar an der Klimakrise beobachten. Die Klimakrise wirkt sich am stärksten auf jene Menschen aus, die weder besonders zu ihrer Verursachung beigetragen haben noch bei klimapolitischen Maßnahmen mitentscheiden können. Das trifft innerhalb von Österreich zu, aber besonders auf globaler Ebene. Laut Prognosen des Weltklimarats IPCC macht jedes Zehntelgrad Erderhitzung einen Unterschied darin, wie viel Fläche des Planeten unbewohnbar wird. Millionen Menschen werden infolge der Klimakrise und der möglicherweise daraus resultierenden geopolitischen Konflikte vertrieben werden.
Aktuell ist ein erstarkender Rechtsextremismus zu beobachten, der davon profitiert, dass Migration unaufhörlich als politisches Thema befeuert wird. Gerade erst deckten Investigativ-Journalist:innen von „Correctiv“ auf, wie ein einflussreiches rechtsextremes Netzwerk die Säuberung Europas von Menschen nach völkisch-rassistischen Kriterien plant. Parteien, die diesem Spektrum angehören, gewinnen laut Umfragen an Zustimmung. Mit Hinblick auf die EU-Wahlen und Nationalratswahlen ist dies ein dringender Handlungsauftrag an fortschrittliche Akteur:innen.
Schließlich wird auch die Klimapolitik zunehmend in rechte Erzählmuster einbezogen, wenn der Verschwörungsmythos einer „grünen Elite“ als Feindbild konstruiert wird. Erschreckend ist auch die zunehmende Kriminalisierung von Klimaaktivismus. Schließlich ist ziviler Ungehorsam elementar für Demokratie und Fortschritt. Klimapolitik ist auf der politischen Bühne angekommen, dadurch ist sie aber auch politisch umstrittener geworden.
Warum braucht Klimapolitik Demokratie?
Dass gerade auch die Klimapolitik einen Backlash erfährt, verdeutlicht eine wichtige Erkenntnis: Das Bewusstsein für die Klimakrise und die Dringlichkeit des Handelns ist da. Um die Unterstützung der Vielen für Klimapolitik zu sichern, müssen bessere Antworten auf ihre Fragen gefunden werden.
Es ist wichtig, das Problem korrekt zu benennen. Es fehlt nicht demokratische Unterstützung für jegliche Klimapolitik, sondern für die gegenwärtige: für eine Klimapolitik des moralischen Zeigefingers; für die Preismechanismen, bei denen die Reichsten für ihre Umweltverschmutzung einfach bezahlen können; für die Verbote, für die keine Alternativen bereitgestellt werden; für die Anreize für neue Geschäftsmodelle, ohne dabei an die Arbeitsplätze zu denken, die an die alten Modelle gebunden sind.
Warum ist das relevant? Erstens besteht eine große Unsicherheit unter den Beschäftigten darüber, wie sich die Dekarbonisierung der Wirtschaft auswirken wird. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass die Mehrheit der Befragten ein hohes Bewusstsein für die Klimakrise und die Dringlichkeit des Handelns hat. Wie der Wandel aussehen wird, ist jedoch sehr unklar. Jedenfalls erwarten die Befragten eher nur einen ökologischen, nicht aber einen sozialen Wandel. Das ist gefährlich, denn Menschen, die in hohem Ausmaß unsicher über ihre materielle Lage und sozialen Perspektiven sind, neigen dazu, das Vertrauen in die Demokratie zu verlieren, und wenden sich mitunter rechtsextremen Akteur:innen zu. Zweitens ist ein sozialer und ökologischer Umbau ohne Unterstützung der Einkommensabhängigen nicht durchsetzbar. Es braucht gerade die Arbeiter:innenbewegung, um soziale und politische Rechte für die Vielen zu erkämpfen.
Vier zentrale Gründe, warum Demokratie schwächelt
1) Für viele Menschen, insbesondere jene mit geringen Einkommen, kann die Demokratie ihre zentralen Versprechen nicht mehr einlösen. Die Mehrheit im unteren Einkommensdrittel fühlt sich von der Politik wie Menschen zweiter Klasse behandelt und sieht sich im Parlament nicht vertreten. Nur mehr jede:r Vierte ist überzeugt, mit einer Wahlteilnahme etwas bewirken zu können.
2) In Österreich sind 40 Prozent aller Arbeiter:innen – in Wien sind es sogar fast 60 Prozent – von den Nationalratswahlen ausgeschlossen. Eine demokratische Schieflage, die sich immer weiter verschärft. Im Zuge von Wahlkampagnen können jene, deren Stimme scheinbar nicht zählt, als Sündenböcke für Krisen herhalten, auf ihre Steuerbeiträge möchte man aber nicht verzichten. Neben der langen Anwartszeit von grundsätzlich zehn Jahren stellen in der Praxis vor allem die hohen Einkommenserfordernisse eine große Hürde für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft dar.
3) Ungleichheit ist eine Gefahr für die Demokratie. Dies thematisiert die Arbeiterkammer seit Jahren. Forschungsergebnisse zeigen, dass auch in Demokratien politische Entscheidungen zugunsten der Wohlhabenden verzerrt werden. Die Anliegen von Menschen mit geringerem Einkommen haben eine viel geringere Chance, umgesetzt zu werden, als jene Wohlhabender. Die immense Vermögensungleichheit schadet somit auch der politischen Gleichheit. Wirtschaftliche Ressourcen können in politischen Einfluss umgewandelt werden: Über Parteispenden, Think-Tanks oder Medien können Reiche, Industrielle und Wirtschaftsverbände die Klimapolitik und -berichterstattung beeinflussen.
4) Ein weiteres Problem für die Demokratie sind technokratische Strukturen, die vor allem auf EU-Ebene zunehmend eingerichtet werden. Gerade im Bereich der Klimapolitik wird – auch mit Verweis auf die Dringlichkeit – zu wenig auf politische Debatte und Aushandlung, insbesondere unter Einbeziehung der Gewerkschaften, gesetzt, während viel Macht bei nicht gewählten Expert:innen liegt. Beispielsweise konnte die Europäische Kommission ihre Kompetenzen im Rahmen der Rohstoffstrategie oder der Beschaffung von Energieträgern ausweiten. Außerdem können bereits mächtige Akteur:innen in der Gestaltung solcher politischer Maßnahmen Einfluss nehmen, um ihre Interessen durchzusetzen. Eine Studie in den USA hat gezeigt, dass das Lobbying-Verhältnis bei Klimamaßnahmen zwischen Unternehmen und Zivilgesellschaft 21 zu 1 beträgt. Die Interventionen rund um TTIP und CETA sind ebenso gut dokumentiert wie jene der fossilen Lobby bei der Wasserstoffstrategie. Umso wichtiger ist es, das Wahlrecht bei den Wahlen zum EU-Parlament zu nutzen.
Mitbestimmung in der Produktion statt moralischer Verzichtsdebatte
Wie bereits ausgeführt, sind es gerade auch Arbeitskämpfe, die Mitbestimmung und soziale Rechte für die Vielen sichern. Die Arbeiterkammer warnt davor, in der Klimapolitik mit individuellen Konsumentscheidungen abzulenken. Zentrale Auseinandersetzungen über die Eindämmung der Klimakrise müssen im Bereich der Produktion geführt werden: Was und wie produziert wird, ist die wichtigste Frage. Daher ist die Mitbestimmung im Betrieb, dem Ort der Produktion, ein zentrales Feld der Auseinandersetzung.
Bei Umstrukturierungen, die im Rahmen der Dekarbonisierung zahlreich stattfinden müssen, sind die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Arbeitenden und ihrer Betriebsräte jedoch relativ schwach ausgeprägt. Eine gleichberechtigte Mitbestimmung fehlt gänzlich. Argumentiert wird dies meist mit Grundrechten zum Schutz der Eigentümer:innen. Gerade im Rahmen der grünen Modernisierung wird von Seiten der Unternehmensvertretung häufig der Standortwettbewerb vorgeschoben, um soziale Rechte zurückzudrängen. Beschäftigte werden dabei als bloße Objekte der Krisenlösungsstrategien gesehen. Dies trägt zum Vertrauensverlust in die Demokratie bei.
So sind Beschäftigte in Unternehmen mit starken Mitbestimmungsrechten und gelebter Demokratie am Arbeitsplatz bei politischen Wahlen deutlich weniger affin für rechtsnationale, demokratie- und europafeindliche Parteien. Wer einen engagierten Betriebsrat hat, steht dem politischen System insgesamt positiver gegenüber und beteiligt sich auch häufiger außerhalb der Arbeit.
Um zu verhindern, dass eine ökologische Modernisierung zu einem Abbau von Beschäftigtenrechten, zu Sozialabbau, letztlich zu einer Gefährdung des sozialen Zusammenhalts und zu einem Rückgang von Zustimmung für die Klimapolitik führt, muss die betriebliche Mitbestimmung dringend ausgebaut und gestärkt werden. Demokratie darf nicht vor Werkstoren und Konzernen enden.
Demokratie braucht Repolitisierung
Das Recht auf Mitbestimmung allein reicht jedoch nicht aus. Es ist schließlich nicht gesagt, dass Menschen, sobald sie mitentscheiden können, automatisch die besten Entscheidungen für die Gesellschaft als Ganzes treffen. Zu tief sind kapitalistische Logiken in alle Lebens- und Arbeitsbereiche eingeschrieben. Wer es in Ordnung finden soll, acht Stunden oder mehr am Tag nicht selbstbestimmt zu arbeiten, kann schwer ein durchgängig demokratisches Denken und Handeln entwickeln.
Demokratie braucht die konkrete Erfahrung, dass sich etwas verändern lässt, wenn man sich solidarisch zusammenschließt. Menschen müssen konkrete Erfahrungen ihrer eigenen Wirkmächtigkeit in politischen Ausverhandlungen machen. Dazu braucht es auch ein gesellschaftliches Projekt, das die Vielen überzeugt und eine Orientierung für konkretes politisches Handeln gibt.
AK-Wahlen: Alle bestimmen mit, egal woher sie kommen
Ein umfassender sozialer und ökologischer Umbau kann dies leisten. Eine Säule dieses Umbaus ist echte Wirtschaftsdemokratie, auf europäischer, nationaler, regionaler und betrieblicher Ebene. Um die Klimakrise abzuwenden, braucht es Demokratie bei allen Entscheidungen, insbesondere darüber, was und wie produziert wird.
Die Arbeiterkammer vertritt die sozialen, wirtschaftlichen, beruflichen und kulturellen Interessen von vier Millionen Arbeitnehmer:innen in Österreich. Alle Mitglieder der AK sind, unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit, berechtigt, bei den Wahlen der Arbeiterkammer ihre Stimme abzugeben, die dieses Jahr österreichweit stattfindet. Dass die Beschäftigten ihr selbstverwaltetes Parlament wählen können, ist in Hinblick auf Demokratie und Umbau eine zentrale Errungenschaft.
Dieser Artikel wurde in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Wirtschaft und Umwelt“ zum Schwerpunkt „Demokratie“ veröffentlicht.