Dass das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht im europäischen Vergleich überaus restriktiv ist, ist notorisch bekannt. Anlässlich eines Vorabentscheidungsverfahrens – dabei handelt es sich um ein Verfahren, in dem nationale Gerichte dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) Fragen zur Auslegung und Gültigkeit von Europarecht vorlegen können – bekam der EuGH nun Gelegenheit, sich zu zwei rechtlichen Fragen im österreichischen Staatsbürgerschaftsrecht zu äußern: dem Kriterium der Unbescholtenheit und dem Zusammenspiel zwischen Einbürgerung und Staatenlosigkeit. Ein Urteil der Großen Kammer des EuGH wirft ein Schlaglicht auf die problematische österreichische Rechtslage im Einbürgerungsverfahren.
Wie kann es sein, dass Übertretungen der Straßenverkehrsordnung zu Staatenlosigkeit führen können?
Im konkreten Fall (JY gegen die Wiener Landesregierung [C-118/20]) ging es um die Einbürgerung einer ursprünglich estnischen Staatsangehörigen. Diese suchte 2008 um die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an, welche ihr 2014 mit Bescheid gemäß § 20 StGB vorläufig zugesichert wurde. Aufgrund des Exklusivitätskriteriums im österreichischen Recht müssen grundsätzlich alle Einbürgerungswerbenden ihre bisherige Staatsbürgerschaft binnen zwei Jahren zurücklegen, erst dann kriegen sie endgültig die österreichische verliehen.
Die Antragstellerin legte die estnische Staatsangehörigkeit im Jahr 2015 zurück und zog – nunmehr staatenlos – nach Wien. Die durch den Umzug zuständig gewordene Wiener Landesregierung wiederrief jedoch den Zusicherungsbescheid der niederösterreichischen Landesregierung gemäß § 20 Abs 2 Staatsbürgerschaftsgesetz (StbG) und wies das Ansuchen um Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 10 Abs 1 Z 6 StbG ab.
Was war das Problem?
Unter anderem ist im Rahmen eines Einbürgerungsverfahrens zu prüfen, ob die Antragstellerin straf- oder finanzstrafrechtlich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Ist das nicht der Fall, hat die Behörde aber weiter zu prüfen, ob sie zur Republik bejahend eingestellt ist und weder eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit darstellt noch andere in Art. 8 Abs. 2 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) genannte öffentliche Interessen gefährdet. Diese Bestimmung gibt der Behörde somit einen sehr weiten Beurteilungsspielraum, sie kann auch Verwaltungsübertretungen oder sogar weit zurückliegende Straftaten (auch solche, die nicht mehr im Strafregisterauszug aufscheinen dürfen) berücksichtigen und aus diesen eine Verhaltensprognose für die Zukunft erstellen. Im Anlassfall gab es mehrere amtsbekannte Verwaltungsübertretungen, die aber keinen Hinderungsgrund für die ursprüngliche Zusicherung der Verleihung darstellten.
Nach der Zusicherung der Verleihung beging die Antragstellerin aber zwei weitere Verwaltungsübertretungen (Unterlassen der Anbringung einer Begutachtungsplakette an ihrem Fahrzeug und Lenken eines Kraftfahrzeugs in alkoholisiertem Zustand). Diese Übertretungen hatten Geldstrafen in Höhe von 115 Euro bzw. 300 Euro zur Folge. Die (nunmehr zuständig gewordene) Wiener Behörde beurteilte daraufhin die Frage der Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit erneut und kam zu dem Schluss, dass die in § 10 Abs 1 Z 6 StbG vorgesehenen Voraussetzungen nicht mehr vorliegen würden. Eine positive Zukunftsprognose sei nicht mehr möglich, sie widerrief daher die Zusicherung der Verleihung. Dies hatte zur Folge, dass die Antragstellerin nunmehr nicht nur staatenlos war, sondern auch keinen Aufenthaltstitel in Österreich mehr hatte. Eine Wiedereinbürgerung in Estland war allerdings ebenfalls nicht möglich, zum einen, weil ihr Lebensmittelpunkt der letzten Jahre in Österreich lag, und zum anderen, weil das estnische Recht kein „Rückgängigmachen“ einer einmal erfolgten Ausbürgerung vorsah.
So weit, so gut – Rechtsschutz durch das Verwaltungsgericht?
Nein, die Beschwerde blieb erfolglos. Auch das Verwaltungsgericht kam zu dem Schluss, dass eine positive Zukunftsprognose angesichts der begangenen Verwaltungsübertretungen nicht möglich sei, und berief sich dabei auf die ständige Rechtsprechung des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs. Den Einwand der Antragstellerin, dass sie ja in Erwartung der österreichischen Staatsbürgerschaft ihre estnische Unionsbürgerschaft zurückgelegt habe und somit staatenlos sei, erachtete das Gericht für nicht relevant.
Was hat der gegenständliche Fall mit dem Unionsrecht zu tun?
Das Gericht kam zu dem Schluss, dass im gegenständlichen Fall Unionsrecht nicht anwendbar ist. Die Frage, warum Unionsrecht anwendbar sein sollte, ist berechtigt: Unionsrechtlich liegt die Zuständigkeit für den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit allein bei den Mitgliedstaaten. Damit gibt es eigentlich keinen Raum dafür, dass der EuGH Fragen des nationalen Staatsbürgerschaftsrechts prüft. Dennoch kommt der EuGH mittlerweile in ständiger Rechtsprechung zu dem Schluss, dass Unionsrecht dann anwendbar ist, wenn ein*e Unionsbürger*in durch eine mitgliedstaatliche Entscheidung im Begriff ist, die Unionsbürgerschaft zu verlieren. In den Entscheidungen Rottmann (C-135/08) und Tjebbes (C-221/17) hat der EuGH festgehalten, dass hinsichtlich dieser Auswirkung (Verlust der Unionsbürgerschaft und der damit verbundenen Rechte) stets der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden muss und jedenfalls eine Einzelfallprüfung erforderlich ist. Das Verwaltungsgericht und auch der in der Folge damit befasste Verwaltungsgerichtshof (VwGH) waren aber der Meinung, dass dies im gegenständlichen Fall nicht zu gelten habe. Die Antragstellerin habe ja ihre Unionsbürgerschaft freiwillig aufgegeben, weswegen hier auch keine Verpflichtungen Österreichs bestünden.
Freiwillig staatenlos?
Anders als die österreichischen Gerichte war der EuGH – der vom VwGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens um die Beantwortung dieser Rechtsfrage gebeten wurde – nicht der Meinung, dass es sich um einen Fall der freiwilligen Staatenlosigkeit handle. Die Rücklegung der estnischen Staatsangehörigkeit sei einzig und allein in Erwartung der Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft erfolgt, weswegen der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet sei. Darüber hinaus sprach er unmissverständlich aus, dass sich – in einem solchen Fall – die österreichischen Behörden und Gerichte jedenfalls auch mit der Verhältnismäßigkeit ihrer Entscheidung auseinandersetzen müssen. Zu berücksichtigen ist etwa, welche Folgen die Antragstellerin nun im Hinblick auf ihr berufliches Fortkommen oder ihren Verbleib in Österreich als nunmehr Staatenlose zu erwarten hätte. Ausdrücklich nahm der EuGH auf den zugrundeliegenden Sachverhalt Bezug und führte aus, dass derartige Verwaltungsübertretungen, die für sich gesehen noch nicht einmal den Verlust des Führerscheins rechtfertigen würden, nicht dafür herangezogen werden können, die Verweigerung der Staatsbürgerschaft zu begründen.
Was bedeutet die Entscheidung?
Das Urteil des EuGH wirft ein Schlaglicht auf einen der vielen Wertungswidersprüche im österreichischen Einbürgerungsrecht. Die Kritik an Gesetzgebung und Rechtsprechung zielt nicht darauf ab, Verwaltungsübertretungen und schon gar nicht das Fahren unter Alkoholeinfluss zu bagatellisieren. Aber sie zeigt, wie problematisch es ist, wenn Personen unter Umständen dauerhaft von der Einbürgerung ausgeschlossen sind, nur weil sie der Idealvorstellung einer/eines unbescholtenen Bürger*in nicht entsprechen. Zudem zeigt der Ausgangssachverhalt, wie problematisch ein Einbürgerungssystem ist, welches den Behörden zwar großzügig Spielräume für die Versagung der Einbürgerung offen lässt, umgekehrt aber kaum Ermessenspielräume öffnet, um die Einbürgerung langfristig aufhältiger fremder Staatsbürger*innen zu ermöglichen. Nach der österreichischen Konzeption, die Staatsangehörigkeit als Endpunkt eines gelungenen Integrationsprozesses zu verleihen, wird von fremden Staatsangehörigen verlangt, in Erwartung rechtlicher Gleichstellung in Vorleistung zu gehen.
Wie Franjo Markovic festgehalten hat, ist es vor allem das Wahlrecht, das fremden Staatsangehörigen vorenthalten wird. Wie unrealistisch und demokratiepolitisch problematisch der Maßstab ist, wird deutlich, wenn man die Kriterien der Einbürgerung als Wahlrechtsvoraussetzungen versteht. Dass man nur wählen darf, wenn man ein bestimmtes Einkommen oder ein bestimmtes Vermögen besitzt, wäre heute unvorstellbar. Ebenso wie eine wahlrechtliche Bestimmung, die Frauen aufgrund ihres geringeren Einkommens den Zugang zum Wahlrecht erschwert. Im gleichen Licht muss auch das Kriterium des Wohlverhaltens gesehen werden. Eine Person, die sich nicht rechtzeitig um ihr Kfz-Pickerl bemüht hat und mit einem geringen Atemluftalkoholgehalt am Steuer saß, sollte sich nicht um den Verlust ihrer politischen Rechte sorgen. Die Verweigerung der Einbürgerung im Anlassfall steht – wie auch der EuGH festgehalten hat – in keinem angemessenen Verhältnis zur Schwere der von der Antragstellerin begangenen Verstöße.
Fazit und Ausblick
Der VwGH, der die Frage dem EuGH vorgelegt hatte, hob die verwaltungsgerichtliche Entscheidung in Folge auf. Das Gericht muss nunmehr neu beurteilen, ob der Widerruf der Zusicherung der beantragten Staatsbürgerschaft, durch den der Verlust des Unionsbürgerstatus endgültig wird, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation der ehemalig estnischen Staatsbürgerin mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Ob die Entscheidung schon ergangen ist, war zum Zeitpunkt dieses Blogbeitrags noch nicht bekannt, angesichts der klaren Positionierung des EuGH ist jedoch zu erwarten, dass zumindest dieser Fall gut ausgeht.
Dennoch zeigt der Fall auf, wie gefährlich ein unrealistischer Maßstab an das Wohlverhalten fremder Staatsangehöriger ist. Staatenlosigkeit nimmt – um es in den Worten Hannah Arendts zu sagen – dem Menschen das „Recht, Rechte zu haben“. Der leichtfertige Umgang mit dieser sollte uns zu denken geben. Nicht Mehrstaatigkeit stellt eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar, sondern die unverhältnismäßig hohen Hürden für die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft.
Es hätte nicht den EuGH gebraucht, um die österreichischen Akteure daran zu erinnern, dass Fragen der Verhältnismäßigkeit natürlich auch im Einbürgerungsrecht eine Rolle spielen. Allerdings darf die Bedeutung der Entscheidung des EuGH aber auch nicht überschätzt werden, für Drittstaatsangehörige hat diese keine Bedeutung. Die Anwendung der vom EuGH aufgestellten Anforderungen birgt somit die Gefahr, dass Unionsbürger*innen und Drittstaatsangehörige im Einbürgerungswesen an unterschiedlichen Maßstäben gemessen werden. Eine derartige Ausdifferenzierung stellt jedoch die Sachlichkeit der Einbürgerungsvoraussetzungen weiter infrage.
Zusammengefasst lässt sich festhalten: Durch die Judikatur des EuGH ist es zu einer Verdichtung der Maßstäbe im Einbürgerungsrecht gekommen. Droht im Einbürgerungsverfahren der Verlust der Unionsbürgerschaft, so hat die Behörde nach dem EuGH-Urteil nunmehr eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, auch wenn eine solche im österreichischen Staatsbürgerschaftsrecht nicht vorgesehen ist. Die Entscheidung ist angesichts des voraussetzungsvollen Einbürgerungssystems zu begrüßen, sie kann jedoch nicht von den strukturellen Problemen des österreichischen Rechts ablenken.