Im Europäischen Parlament wird mitunter hitzig diskutiert – und natürlich abgestimmt. In der letzten Plenumswoche (15. bis 18. April 2019) der nun endenden Wahlperiode gab es nicht weniger als 81 Dossiers zur Abstimmung. Das Abstimmungsverhalten der einzelnen Abgeordneten wird jedoch nicht vollständig dokumentiert.
Das Stimmverhalten der einzelnen Abgeordneten ist nur bei wenigen politisch brisanten Dossiers ein Thema in der medialen Berichterstattung. Vor dem Plenum gibt es eine Vielzahl von Abänderungsanträgen, über die bereits entschieden wurde. Normalerweise erfolgen diese Abstimmungen per Handzeichen, wobei die Zustimmung oder Ablehnung eines einzelnen Abgeordneten nicht aufgezeichnet wird.
Dokumentation von Abstimmungen im Europäischen Parlament
Elektronische Stimmabgaben erfolgen, wenn bei der Abstimmung im Plenum oder in einem Ausschuss des Europäischen Parlaments die Mehrheit per Hand nicht eindeutig erkennbar ist oder eine Fraktion diese im Vorhinein beantragt. Aufgezeichnet wird das elektronische Abstimmungsverhalten bei einer – ebenfalls im Vorhinein durch eine Fraktion zu beantragenden – namentlichen Abstimmung sowie bei Schlussabstimmungen. Diese Abstimmungsergebnisse sind in weiterer Folge aber auf der Homepage des Europäischen Parlaments abrufbar und geben damit Aufschluss über das konkrete Abstimmungsverhalten – inklusive der Möglichkeit, die Stimmabgabe im Nachhinein zu korrigieren. Nachträgliche Korrekturen haben aber keinen Einfluss auf das ursprüngliche Abstimmungsergebnis.
Sechs Abstimmungen zum Mobilitätspaket
Zu den am stärksten umstrittenen Dossiers, die im Europäischen Parlament in der nun endenden Wahlperiode zur Abstimmung kamen, sind jene über die Sozialvorschriften für Lkw- und BusfahrerInnen sowie zum Marktzugang für Transportunternehmen im Rahmen des ersten Mobilitätspakets, das die Europäische Kommission am 31. Mai 2017 vorgestellt hat.
Hauptbestandteil dieses Pakets ist die Frage, ob und wann die Entsenderichtlinie auch auf Beschäftigte im Straßenverkehr – also die Bus- und Lkw-FahrerInnen – anzuwenden ist („Lex specialis“). Die Anwendung der Entsenderichtlinie ist die entscheidende gesetzliche Regelung, um dem Prinzip „Gleicher Lohn für die gleiche Arbeit am gleichen Ort“ gerecht zu werden und damit Lohn- und Sozialdumping über die nationalen Grenzen hinweg zu vermeiden. Außerdem wurden Änderungen zu den Lenk- und Ruhezeiten für BerufskraftfahrerInnen sowie zum Marktzugang für Transportunternehmen (inklusive Regelungen gegen Briefkastenfirmen und für Kabotagedienstleistungen) vorgeschlagen.
Nicht weniger als sechs Mal stimmte das Plenum über diese drei Dossiers ab, die die Arbeits- und Sozialbedingungen der Beschäftigten im Transportgewerbe maßgeblich beeinflussen. Viele VertreterInnen Ost- und Südeuropas stellten dabei nicht den Kampf gegen Sozialdumping, sondern die wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen in den Vordergrund. So werden Wettbewerbsvorteile auf Basis niedrigerer Personalkosten geschaffen. Die Abstimmungen dazu waren stets umstritten und fielen äußerst knapp aus.
Die folgende Analyse konzentriert sich auf das Stimmverhalten der österreichischen Abgeordneten zum Europäischen Parlament mit Schwerpunkt auf die „Lex specialis“.
Positive Position des Beschäftigungsausschusses
Die erste Abstimmung zu diesen Dossiers erfolgte am 25. April 2018 im Beschäftigungsausschuss (EMPL), der zu diesen Dossiers die Möglichkeit einer Stellungnahme nutzte. Die drei Berichte stellten aus Sicht der betroffenen ArbeitnehmerInnen wichtige positive Elemente dar, beispielsweise die Forderung, die Entsenderichtlinie auch für BerufskraftfahrerInnen anzuwenden. Von den beiden österreichischen Abgeordneten des Beschäftigungsausschusses stimmte Evelyn Regner (SPÖ) für die Stellungnahme zur Lex specialis, Heinz Becker (ÖVP) enthielt sich der Stimme.
Verkehrsausschuss ohne soziales Gewissen
Völlig gegenteilig war die Meinung des federführenden Verkehrsausschusses (TRAN) am 4. Juni 2018. Er stellte die Marktfreiheit der Transportunternehmen auf Kosten der betroffenen Beschäftigten in den Vordergrund. So sollte beispielsweise die Entsenderichtlinie im internationalen Verkehr niemals angewendet werden. Claudia Schmidt (ÖVP) stimmte dafür, Barbara Kappel (FPÖ) dagegen. Diese beiden waren die einzigen stimmberechtigten österreichischen Abgeordneten.
Plenum im ersten Anlauf ohne Position
Aufgrund dieser konträren Positionen der beiden Ausschüsse wurde gespannt auf die Abstimmung im Plenum gewartet, die am 4. Juli 2018 stattfand und zu der zahlreiche Abänderungsanträge eingereicht wurden. Als erster substanzieller Änderungsantrag kam zur Abstimmung, ob BerufskraftfahrerInnen im internationalen Straßenverkehr gänzlich vom Anwendungsbereich der Entsenderichtlinie ausgenommen werden sollen. Für diesen Antrag stimmten die fünf Abgeordneten der ÖVP (Heinz Becker, Othmar Karas, Lukas Mandl, Paul Rübig, Claudia Schmidt) und sprachen sich damit ganz klar gegen Verbesserungen für die Beschäftigten aus. Dagegen stimmten die fünf Abgeordneten der SPÖ (Eugen Freund, Karoline Graswander-Hainz, Karin Kadenbach, Evelyn Regner, Josef Weidenholzer), die vier Abgeordneten der FPÖ (Barbara Kappel, Georg Mayer, Franz Obermayr, Harald Vilimsky) sowie die beiden Grünen Michel Reimon und Monika Vana. Nicht anwesend waren Thomas Weitz (Grüne) und Angelika Mlinar (NEOS). Schlussendlich wurde dieser Antrag mit 332 Ja- und 333 Nein-Stimmen denkbar knapp abgelehnt.
Der Vorschlag, die Entsenderichtlinie bei grenzüberschreitenden Verkehren erst nach 10 Tagen anzuwenden, kam als nächster Antrag zur Abstimmung. Wiederum waren die fünf Abgeordneten der ÖVP dafür, die fünf Abgeordneten der SPÖ sowie die beiden Grünen dagegen. Die vier Abgeordneten der FPÖ stimmten diesmal jedoch dafür, und so wurde der Antrag mit 335 Ja- zu 333 Nein-Stimmen äußerst knapp angenommen. Da änderte es auch nichts, dass die drei freiheitlichen Abgeordneten Georg Mayer, Franz Obermayer und Harald Vilimsky nachträglich ihr Stimmverhalten korrigierten. Ursprünglich hatten die vier Abgeordneten der FPÖ einen Antrag eingebracht, die Entsenderichtlinie von Beginn an anzuwenden. Dieser Antrag wäre direkt im Anschluss zur Abstimmung gekommen, wenn der vorhergehende ebenfalls keine Mehrheit erhalten hätte.
Nachdem über alle Abänderungsanträge abgestimmt wurde, kam es zur finalen Abstimmung des neu formulierten Berichts zur Lex specialis. Dieser wurde mit 256 Ja-Stimmen zu 390 Nein-Stimmen abgelehnt. Für ihn stimmten wiederum die fünf Abgeordneten der ÖVP. Dagegen stimmten die fünf Mandatare von SPÖ, die vier von der FPÖ sowie die drei von den Grünen.
Keine Mehrheit im Verkehrsausschuss
Mit der Ablehnung der jeweiligen Berichte wurden die drei Dossiers zurück an den Verkehrsausschuss verwiesen. Am 10. Januar 2019 stimmten die Ausschussmitglieder über verschiedene Berichtsvarianten ab. Doch weder zu den Entsendebestimmungen noch zu den Lenk- und Ruhezeiten gab es eine Mehrheit. Lediglich der Bericht zum Marktzugang wurde angenommen. Da kein Antrag auf namentliche Abstimmung beantragt war, ist das Stimmverhalten bei dieser Abstimmung nicht dokumentiert.
Europäisches Parlament findet Kompromiss
Im April 2019 wurde der letzte Anlauf unternommen, eine Mehrheit im Parlament zu finden. Mehr als 1.700 eingereichte Abänderungsanträge machten eine Sondersitzung des Verkehrsausschusses am 2. April 2019 notwendig. Dabei erhielt der überwiegende Teil der Anträge die erforderliche Mehrheit, um so wiederum im Plenum am 4. April zur Abstimmung zu kommen.
Die Abstimmung im Plenum brachte schlussendlich ein Ergebnis: Die Fraktionen der Sozialdemokraten und Liberalen verständigten sich mit weiteren Abgeordneten anderer Parteifamilien auf einen Kompromiss. Dieser sah Berichte zu den Dossiers vor und orientierte sich stark an der generellen Ausrichtung des Rats, wie z. B. betreffend die Anwendung der Entsenderichtlinie auf grenzüberschreitende Fahrten inklusive von zwei Be- und Entladungen. Diesem Bericht stimmten zwei Abgeordnete der SPÖ (Eugen Freund und Karoline Graswander-Hainz), NEOS-Abgeordnete Angelika Mlinar sowie die vier Abgeordneten der FPÖ zu. Gegen diesen Kompromiss waren die übrigen Abgeordneten der SPÖ, jene der Grünen und auch vier von der ÖVP. Lukas Mandl (ÖVP) war nicht anwesend. Die Gründe für die Ablehnung des Kompromisses sind sehr unterschiedlich, wie am Stimmverhalten zu anderen Anträgen des Dossiers ersichtlich wird:
Die vier Abgeordneten der ÖVP waren die einzigen österreichischen Abgeordneten, die unmittelbar zuvor auch für andere Anträge abgestimmt hatten, die aber keine Mehrheit im Plenum gefunden haben. Dies betrifft beispielsweise den Antrag, grenzüberschreitende Fahrten mit bis zu acht Zwischenhalten auf der Hin- und Rückfahrt von der Entsenderichtlinie auszunehmen, sowie die generelle Ausnahme des internationalen Verkehrs von der Entsenderichtlinie. Zum Kompromiss zu den Lenk- und Ruhezeiten, der neben den Fraktionen von Sozialdemokraten und Liberalen auch von den Grünen gezeichnet wurde, stimmten fast alle österreichischen Abgeordneten zu. Nur die drei ÖVP-Abgeordneten Heinz Becker, Paul Rübig und Claudia Schmidt stimmten so wie viele andere Abgeordnete der EVP aus neueren EU-Mitgliedstaaten gegen diesen Kompromiss.
Jede Stimme zählt
Das Europäische Parlament dokumentiert zwar nicht das Stimmverhalten jeder Abstimmung zu einzelnen Änderungsanträgen, wohl aber zu allen Schlussabstimmungen sowie zentralen Einzelabstimmungen. Gerade in Hinblick auf den bevorstehenden Wahlkampf für die EU-Wahlen lohnt sich ein Blick auf das einzelne Abstimmungsverhalten, um das Handeln der Abgeordneten in Straßburg und Brüssel besser nachvollziehen zu können.
Die Abstimmungen zum Mobilitätspaket sind ein gutes Beispiel, wie knapp Abstimmungen im Europäischen Parlament ausfallen können. Und dass jede einzelne Stimme zählt. Es handelt sich hierbei auch nicht um das einzige Politikfeld, dessen Kompetenz in erster Linie auf europäischer Ebene und somit vor allem auch beim Europäischen Parlament liegt. Für Mitgliedstaaten gibt es häufig nur mehr einen kleinen Gestaltungsspielraum für die nationale Umsetzung, weshalb die große realpolitische Bedeutung der EU-Wahl offenkundig wird.
Markt vor Arbeitsbedingungen
Das Stimmverhalten der österreichischen Abgeordneten zeigt auf, dass es beim Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ im Straßenverkehr neben den unterschiedlichen Haltungen zwischen den Abgeordneten Zentraleuropas und jenen aus den ost- und südeuropäischen Ländern gerade auch die Abgeordneten der ÖVP waren, die den freien Markt für den Lkw- und Busverkehr vor die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten stellten.