„1000 Euro Monatslohn, null Tage Urlaub, zwei Jahre von der Familie getrennt – schon die nackten Zahlen sind empörend“, schreibt der „Stern“ in einer Reportage über Lkw-Fahrer von den Philippinen, die den Wilden Westen auf Europas Straßen als von polnischen Firmen entsandte Lkw-Fahrer am eigenen Leib erlebten – zu zweit mussten sie in einer Fahrerkabine arbeiten, schlafen, kochen – darf man überhaupt sagen: leben? Dringender Handlungsbedarf auf europäischer Ebene ist offensichtlich, um das grenzüberschreitende Tagelöhnertum zu bekämpfen. Als wichtigsten Schritt sieht der DGB: grenzüberschreitende, zwischen der Exekutive der Mitgliedstaaten koordinierte Kontrollen.
Doch davon scheint sich Europa zu entfernen. Denn das Ringen um die Verabschiedung neuer Regeln für den europäischen Straßentransport vor den Europawahlen im Mai 2019 ging wieder ohne Ergebnis aus. Was dem einen EU-Parlamentsabgeordneten zu viel an Liberalisierung war, war den anderen zu wenig – und damit gab es auf europäischer Ebene weder eine Einigung zu den Entsenderegeln noch zu den Lenk- und Ruhezeiten. Zwar hatte die deutsche Presse die Kompromisse der europäischen Verkehrsminister zum Gesetzesvorschlag der EU-Kommission, dem sogenannten EU-Mobilitätspaket, am 4. Dezember 2018 noch positiv bewertet: „Mehr Rechte“, „EU will Fernfahrer schützen“, ihnen „soll es besser gehen“, lauteten die Überschriften. Selbst als „Nomaden“ erschienen sie zwar „müde“, aber „modern“. Wieder wurde das Bild vom Abenteuer Autobahn bedient. Aus Sicht der Gewerkschaften war dieses positive Echo jedoch von Anfang an fragwürdig: Mehr auf dem Papier heißt nicht mehr in der Realität.
DGB-Projekt „Faire Mobilität“
So wie die Vorschläge der EU-Kommission im Mobilitätspaket aussehen, das derzeit im EU-Ministerrat und Parlament verhandelt wird, ist für die Gewerkschaften nicht erkennbar, dass sich die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der Lkw- und Busfahrer grundsätzlich verbessern würden. Denn leben möchte man in einer menschenwürdigen Unterkunft. Außerhalb des Lkw. Doch ein normales Bett haben zum Beispiel die philippinischen Lkw-Fahrer in
Europa nicht gesehen, bis die niederländische Gewerkschaft FNV und das DGB-Projekt „Faire Mobilität“ auf sie aufmerksam wurden. Seitdem betreuen die Gewerkschafter die Männer in Deutschland. Insgesamt haben knapp 200 Lkw-Fahrer von den Philippinen unter ausbeuterischen Verhältnissen den europäischen Arbeitsmarkt von seiner hässlichsten Seite kennengelernt.
Was unmenschlich und außergewöhnlich klingt, ist dreckiger europäischer Alltag: Auf Europas Straßen sind Zigtausende Menschen wochen- und monatelang unter sehr ähnlichen Bedingungen unterwegs. Das bestätigen über 3.000 Fahrer, mit denen sich die Mitarbeiter von „Faire Mobilität“ seit Mitte 2017 auf deutschen und grenznahen Parkplätzen in deren Muttersprachen unterhalten haben. Täglich werden die Grundrechte von Fernfahrern gebrochen. Für den Erhalt der Mindestlöhne, also des Wenigsten vom Mindesten, müssten fast alle Fahrer ihren Job riskieren – denn den Mindestlohn kriegen sie nur, wenn sie ihn rückwirkend einfordern.
Das Spesenmodell
In aller Regel werden Fahrer für Fahrten im Auftrag westeuropäischer Unternehmer mit osteuropäischen Arbeitsverträgen und nur mit einem osteuropäischen Mindestlohn abgespeist – etwa 500 Euro. Zudem haben sie Anspruch auf Spesenerstattung: um auf die Toilette zu gehen und nicht auf den Seitenstreifen zu urinieren, um auf einem Autohof abseits der Autobahn einigermaßen erholt zu schlafen – das kostet Geld, im Gegensatz zu kostenlosen Parkplätzen 5 bis 10 Meter neben der Autobahn, wo kein Mensch schlafen will. Fahrer sollten sich aber für den nächsten Tag mit 40 Tonnen im Rücken ausruhen. Die Erstattung der Spesen brauchen sie auch, um zu duschen oder um das Kabinenschlafverbot am Wochenende nicht zu missachten: Dann sollten sie sich eigentlich ein Hotel leisten können. Doch all diese Kosten sparen sich die Fahrer lieber. Denn die Unternehmer rechnen die Spesen auf den Lohn an. So erfüllen sie vermeintlich die Pflicht, den westeuropäischen Mindestlohn zu zahlen, wenn sie die Fahrer im Auftrag eines westeuropäischen Unternehmens durch Europa schicken. Sogar für die EU-Kommission ist unstrittig, dass die Auftragsbeziehung zu einem westeuropäischen Auftraggeber rechtlich einer Entsendung entspricht und damit auch zu einem Lohnanspruch im tatsächlichen Arbeitsland führt. Warum also ist das „Spesenmodell“ so verbreitet? Wieso wird es akzeptiert? Weder in der EU-Kommission noch im Europäischen Rat oder im EU-Parlament wird diese Frage diskutiert, geschweige denn beantwortet.
Dass Fernfahrer nicht wie entsandte Beschäftigte behandelt werden, ist das eine. Doch ein Blick in die Statistiken zur Entsendung verrät: Auch auf dem Papier existieren die Lkw-Fahrer nicht als entsandte Beschäftigte. Die Statistiken orientieren sich an ausgestellten A1 Bescheinigungen (die Bestätigung der zuständigen Behörde des Entsendestaates, dass der Beschäftigte im Entsendeland sozialversichert ist). Für Lkw-Fahrer werden solche Bescheinigungen so gut wie nie ausgestellt.
Modernes Tagelöhnertum
Das bedeutet: Lkw-Fahrer sind ohne eigene Krankenversicherung mit 40 Tonnen quer durch Europa unterwegs; oft übermüdet, weil ihre Schichten 13 bis 15 Stunden pro Tag dauern; übermüdet, weil sie maximal 10 Meter vom Autobahnlärm entfernt schlafen müssen; übermüdet, weil sie in ihren Ruhepausen Ladetätigkeiten erledigen. Warum sie sich darauf einlassen? „Weil alle das machen“, lautet die häufigste Antwort. Kein Wunder also, dass viele EU-Länder über einen massiven Fahrermangel klagen. Offensichtlich ist der Beruf so unattraktiv geworden, dass Arbeitgeber im eigenen Land keine Fahrer mehr finden. Sie müssen dafür Menschen anwerben, die in ihren Herkunftsländern nicht mal die Chance haben, das mickrige Geld zu verdienen, für das EU-Bürger in keinen Lkw einsteigen wollen. Womit die Fahrer von den Philippinen ins Spiel kommen:
Auch die 200 Philippiner haben nie eine A1 Bescheinigung gesehen. Sie haben dauerhaft in Deutschland gearbeitet, waren aber nie krankenversichert. Und sie wurden um das Wenigste betrogen: um ihre Mindestlöhne an ihrem Arbeitsort.
Die acht Männer, die in Betreuung von FNV und DGB sind, fuhren ständig vom Gelände eines deutschen Auftraggebers aus. Der ließ sich vom dänischen Auftragnehmer zwar bescheinigen, dass der deutsche Mindestlohn gezahlt werde. Doch der Däne hat nicht nur seine Fahrer, sondern auch seine Geschäftspartner betrogen: Den Fahrern zahlte er über eine eigens dafür gegründete Briefkastenfirma in Polen etwa 400 Euro Lohn und 600 Euro Spesen – obwohl die Fahrer für Arbeits- und Bereitschaftszeiten im Auftrag des deutschen Unternehmers unterwegs waren. Durch die Auftragsbeziehung waren sie entsandte Beschäftigte und hätten nach deutschem Recht einen Mindestlohnanspruch von etwa 2.300 Euro gehabt – plus Spesen.
Fast drei Monate später haben die Fahrer mit gewerkschaftlicher Hilfe die Mindestlöhne zwar eingefordert, bis jetzt hat der Arbeitgeber aber nichts gezahlt. So absurd es klingt: Die Männer freuen sich stattdessen, dass sie dank der Gewerkschaftsinitiative seit zwei Monaten in einer miserablen Unterkunft für Geflüchtete in einem temporären Bett schlafen dürfen und eine Küche haben statt des Gaskochers neben der Autobahn.
Die EU ist gefordert – aber anders
Während die Philippiner also darauf warten, dass ein Betrüger doch noch bezahlt, soll in Brüssel darüber verhandelt werden, wie man Menschen in dieser Branche zukünftig in faire Arbeitsbedingungen bringt. Im Hier und Jetzt wollen FNV und DGB den Fahrern ermöglichen, ein vorliegendes Arbeitsangebot eines deutschen Arbeitgebers zu einigermaßen fairen Bedingungen anzunehmen. Diese Bemühungen sind bisher gescheitert. Denn eine Aufenthaltsgenehmigung ist in Deutschland nicht so einfach zu bekommen wie die Lizenz für eine Briefkastenfirma in Polen, die einen Vertrag unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen anbietet. Einen Job unter ähnlich ausbeuterischen Bedingungen bei einer anderen Firma zu bekommen wäre kein Problem: Angebote aus Polen mit Bezahlung nach dem Spesenmodell und Arbeit im Auftrag großer westeuropäischer Auftraggeber liegen vor.
Besteht die Aussicht, dass gute Bezahlung und faire Arbeitsbedingungen endlich Realität werden? Können sich die Bürger zukünftig auf die Sicherheit auf Europas Straßen verlassen?
Statt an einem Straßenverkehrspaket zur Überarbeitung von Regeln herumzudoktern, die jetzt schon nicht eingehalten werden, muss die illegale Praxis von Lohndumping-Unternehmen beendet werden. Obwohl die Straßenverkehrssicherheit schon jetzt gefährdet ist, sind sich Europäischer Rat und EU-Parlament bisher darin einig, dass die reguläre Ruhezeit von mindestens 45 Stunden erst nach 20 Tagen, in denen die Fahrer ununterbrochen fahren und in der Kabine übernachten müssen, genommen werden muss. Damit würde das legale Nomadendasein ausgeweitet – aus Sicht der europäischen Gewerkschaften hoch gefährlich für die Fahrer und alle anderen am Verkehr Teilnehmenden. Dazu passt auch, dass die Fahrzeuge nicht regelmäßig an den Niederlassungsort des Unternehmens zurückkehren müssen, dort also keine Parkplätze vorgehalten werden müssen – ideal für Briefkastenfirmen. Die Überlastung der öffentlichen Parkplätze dürfte uns also erhalten bleiben.
Letztlich ist entscheidend, dass die Kontrollpraxis gravierend verbessert wird. Voraussetzung dafür ist neben der frühestmöglichen Einführung digitaler Tachografen auch der elektronische Frachtbrief. Gesetze und Verordnungen helfen jedoch wenig, wenn nicht genügend Personal für Kontrollen eingestellt wird. Zumal der Kontrollaufwand zunimmt, weil immer häufiger leichte Nutzfahrzeuge ab 2,4 Tonnen eingesetzt werden. Auch hier müssen die Regelungen zu Lenk- und Ruhezeiten und die obligatorische Ausstattung mit digitalen Tachografen gelten. Fair hergestellte Waren sind den VerbraucherInnen wichtig – faire Bedingungen für den Transport gehören dazu!