Die italienische Regierung steht weiterhin in einem offenen Konflikt mit der Europäischen Kommission rund um den italienischen Staatshaushalt. Die einseitige Fokussierung auf Defizit- und Schuldenabbau im Rahmen des europäischen Regelwerks hat jedoch in den letzten Jahren eine Lösung der wirtschaftlichen Probleme in Italien erschwert und die reale Schuldenlast paradoxerweise weiter erhöht. Um die Krise nachhaltig überwinden zu können und das Land in der Eurozone zu halten, benötigt Italien mehr wirtschaftspolitischen Spielraum.
Der Ausgangspunkt: Italiens Staatshaushalt
Die italienische Regierung und die EU-Kommission haben in ihrem bereits seit Sommer 2018 bestehenden Konflikt über den italienischen Staatshaushalt ein neues Kapitel aufgeschlagen. Am 5. Juni empfahl die Kommission angesichts italienischer Verfehlungen in Bezug auf die EU-Fiskalregeln die Einleitung eines Defizitverfahrens, weil im Jahr 2018 die Staatsschuldenquote bereits höher ausfiel, als die EU-Kommission zu akzeptieren bereit ist. Die EU-Kommission erwartet zudem, dass das Budgetdefizit Italiens sich im Jahr 2020 auf 3,5 Prozent des BIP erhöhen wird. Dies wäre deutlich höher als noch vor ein paar Monaten prognostiziert und auch höher, als das Defizitkriterium von maximal 3 Prozent im Stabilitäts- und Wachstumspakt erlaubt.
Die grundlegende Frage ist also: Sollen die EU-Finanzminister penibel auf eine strenge Auslegung der bestehenden Defizitregeln beharren – oder die Regeln flexibler auslegen und der italienischen Regierung mehr Spielraum geben, um über expansive fiskalpolitische Maßnahmen (das heißt: höhere Staatsausgaben und/oder Steuersenkungen) die italienische Wirtschaft ankurbeln zu können? In der jüngeren Vergangenheit wurden Spanien und Portugal trotz temporärer Verletzung der EU-Budgetregeln nicht sanktioniert. In der aktuellen Situation, in der es um Italiens Staatshaushalt geht, wäre es ebenso wenig sinnvoll, die finanziellen Sanktionsmöglichkeiten des EU-Budgetregelwerks auszureizen.
Denn Verschlechterungen in den italienischen Budgetdaten sind in erster Linie durch anhaltende wirtschaftliche Probleme verursacht: Die anhaltend niedrigen Wirtschaftswachstumsraten führen zu geringen Steuereinnahmen; und die weiterhin bei mehr als 10 Prozent stehende Arbeitslosenquote treibt die arbeitslosigkeitsbezogenen Sozialausgaben in die Höhe. Sinkende Steuereinnahmen und steigende Sozialausgaben verursachen eine automatische, konjunkturbedingte Erhöhung des Budgetdefizits. Um die langfristige Schuldentragfähigkeit der italienischen Staatsschulden sicherzustellen und die Zinsaufschläge für italienische Staatsanleihen zu reduzieren, braucht es in erster Linie eine überzeugende Perspektive der wirtschaftlichen Erholung, doch eine strikte Auslegung von Defizit- und Schuldenregeln steht einer solchen Erholung im Wege, wie die Erfahrungen der letzten Jahre in Italien und anderen europäischen Ländern gezeigt haben.
Staatsschulden und Strukturprobleme in Italien
Die hohen italienischen Staatsschulden sind auf Altlasten aus den 1980er- und 1990er-Jahren zurückzuführen. Die unterschiedlichen italienischen Regierungen haben seit Mitte der 1990er-Jahre jedoch große Anstrengungen unternommen, um die Schuldenlast zu reduzieren: Der italienische Staat weist seither quasi durchgehend einen substanziellen Primärüberschuss aus, das heißt: Abzüglich der Zinsausgaben übersteigen die Staatseinnahmen die Staatsausgaben. Aufgrund der Budgetkonsolidierungen seit der Finanz- und Wirtschaftskrise erzielte Italien auch in den vergangenen Jahren trotz schwachen Wachstums und sinkender Steuereinnahmen Primärüberschüsse. Doch trotz dieser Primärüberschüsse konnte die Staatsschuldenquote nur bei etwa 130 Prozent des BIP stabilisiert werden, wie die folgende Abbildung zeigt.