Italien vs. EU-Kommission: Warum ein Defizitverfahren kontraproduktiv wäre

03. Juli 2019

Die italienische Regierung steht weiterhin in einem offenen Konflikt mit der Europäischen Kommission rund um den italienischen Staatshaushalt. Die einseitige Fokussierung auf Defizit- und Schuldenabbau im Rahmen des europäischen Regelwerks hat jedoch in den letzten Jahren eine Lösung der wirtschaftlichen Probleme in Italien erschwert und die reale Schuldenlast paradoxerweise weiter erhöht. Um die Krise nachhaltig überwinden zu können und das Land in der Eurozone zu halten, benötigt Italien mehr wirtschaftspolitischen Spielraum.

Der Ausgangspunkt: Italiens Staatshaushalt

Die italienische Regierung und die EU-Kommission haben in ihrem bereits seit Sommer 2018 bestehenden Konflikt über den italienischen Staatshaushalt ein neues Kapitel aufgeschlagen. Am 5. Juni empfahl die Kommission angesichts italienischer Verfehlungen in Bezug auf die EU-Fiskalregeln die Einleitung eines Defizitverfahrens, weil im Jahr 2018 die Staatsschuldenquote bereits höher ausfiel, als die EU-Kommission zu akzeptieren bereit ist. Die EU-Kommission erwartet zudem, dass das Budgetdefizit Italiens sich im Jahr 2020 auf 3,5 Prozent des BIP erhöhen wird. Dies wäre deutlich höher als noch vor ein paar Monaten prognostiziert und auch höher, als das Defizitkriterium von maximal 3 Prozent im Stabilitäts- und Wachstumspakt erlaubt.

Die grundlegende Frage ist also: Sollen die EU-Finanzminister penibel auf eine strenge Auslegung der bestehenden Defizitregeln beharren – oder die Regeln flexibler auslegen und der italienischen Regierung mehr Spielraum geben, um über expansive fiskalpolitische Maßnahmen (das heißt: höhere Staatsausgaben und/oder Steuersenkungen) die italienische Wirtschaft ankurbeln zu können? In der jüngeren Vergangenheit wurden Spanien und Portugal trotz temporärer Verletzung der EU-Budgetregeln nicht sanktioniert. In der aktuellen Situation, in der es um Italiens Staatshaushalt geht, wäre es ebenso wenig sinnvoll, die finanziellen Sanktionsmöglichkeiten des EU-Budgetregelwerks auszureizen.

Denn Verschlechterungen in den italienischen Budgetdaten sind in erster Linie durch anhaltende wirtschaftliche Probleme verursacht: Die anhaltend niedrigen Wirtschaftswachstumsraten führen zu geringen Steuereinnahmen; und die weiterhin bei mehr als 10 Prozent stehende Arbeitslosenquote treibt die arbeitslosigkeitsbezogenen Sozialausgaben in die Höhe. Sinkende Steuereinnahmen und steigende Sozialausgaben verursachen eine automatische, konjunkturbedingte Erhöhung des Budgetdefizits. Um die langfristige Schuldentragfähigkeit der italienischen Staatsschulden sicherzustellen und die Zinsaufschläge für italienische Staatsanleihen zu reduzieren, braucht es in erster Linie eine überzeugende Perspektive der wirtschaftlichen Erholung, doch eine strikte Auslegung von Defizit- und Schuldenregeln steht einer solchen Erholung im Wege, wie die Erfahrungen der letzten Jahre in Italien und anderen europäischen Ländern gezeigt haben.

Staatsschulden und Strukturprobleme in Italien

Die hohen italienischen Staatsschulden sind auf Altlasten aus den 1980er- und 1990er-Jahren zurückzuführen. Die unterschiedlichen italienischen Regierungen haben seit Mitte der 1990er-Jahre jedoch große Anstrengungen unternommen, um die Schuldenlast zu reduzieren: Der italienische Staat weist seither quasi durchgehend einen substanziellen Primärüberschuss aus, das heißt: Abzüglich der Zinsausgaben übersteigen die Staatseinnahmen die Staatsausgaben. Aufgrund der Budgetkonsolidierungen seit der Finanz- und Wirtschaftskrise erzielte Italien auch in den vergangenen Jahren trotz schwachen Wachstums und sinkender Steuereinnahmen Primärüberschüsse. Doch trotz dieser Primärüberschüsse konnte die Staatsschuldenquote nur bei etwa 130 Prozent des BIP stabilisiert werden, wie die folgende Abbildung zeigt.

Staatsschuldenquote und Primärsaldo in Italien © A&W Blog
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Natürlich gibt es in Italien neben der hohen Staatsschuldenquote auch erhebliche strukturelle Probleme: den angeschlagenen, viel zu großen Bankensektor, der viele faule Kredite hält und die SteuerzahlerInnen in den letzten Jahren durch wiederholte staatliche Rettungsaktionen mehr als 20 Milliarden Euro gekostet hat; die schwache Produktivitätsentwicklung der letzten Jahrzehnte; offensichtlich dysfunktionale Elemente des politischen Systems; die wirtschaftliche Polarisierung zwischen Nord- und Süditalien; problematische Entwicklungen im italienischen Industriesektor etc.

Eine kritische Diskussion über die Steuersenkungs- und Ausgabenerhöhungspläne der italienischen Regierung ist grundsätzlich notwendig, denn Regierende müssen ihre Wirtschaftspolitik stets öffentlich rechtfertigen und erklären. Die rechte italienische Regierung sucht die Konfrontation mit den europäischen EntscheidungsträgerInnen. So kritisieren Politiker der rechtsextremen Lega die „gescheiterten europäischen Budgetregeln“, die der Regierung zu wenig Spielraum ließen, um die italienische Wirtschaft durch expansive Maßnahmen zu beleben. Aber gerade die von der Lega forcierten Steuersenkungspläne wären relativ ineffektiv, wenn es darum geht, die italienische Wirtschaft zu beleben; bei einer Ankurbelung der öffentlichen Investitionen wären hingegen stärkere Wachstumseffekte zu erwarten. Zudem würden permanent wirkende Steuersenkungen die langfristige Steuereinnahmenbasis des italienischen Staates schwächen und könnten damit auch zum Problem hinsichtlich der Schuldentragfähigkeit werden. Aber statt eine evidenzbasierte Diskussion zu sinnvollen und weniger sinnvollen fiskalpolitischen Maßnahmen zu führen, vertritt die EU-Kommission eine Grundhaltung, die keine Lösung für eine bessere Entwicklung der italienischen Gesamtwirtschaft bietet.

Italien hat zu wenig wirtschaftspolitischen Spielraum

Aus makroökonomischer Sicht sind die europäischen Fiskalregeln wenig sinnvoll und sollten kritisch hinterfragt werden. Jene, die nicht zuletzt in aktuell wirtschaftlich besser gestellten Ländern wie Deutschland und Österreich alle bestehenden Probleme Italiens mit italienischem Eigenversagen erklären, ignorieren oftmals grundlegende makroökonomische Zusammenhänge: Die anhaltende Nachfrage- und Produktivitätsmisere Italiens ist auch eine Folge der Mängel der Institutionen und Regeln in der Eurozone. Während Italien keine maßgeschneiderte eigenständige Währungs- und Geldpolitik betreiben kann, um eine wirtschaftliche Erholung zu unterstützen, haben die restriktiven europäischen Fiskalregeln und Sparvorgaben von EU-Kommission (und EZB) auch der nationalen Fiskalpolitik in den letzten Jahren systematisch die Hände gebunden, wobei dies auf umstrittenen technokratischen Einschätzungen beruht.

Die verschiedenen italienischen Regierungen versuchten in den letzten Jahren ebenso wie Regierungen anderer Eurozonenländer, durch Abwärtsdruck auf das Lohnniveau und fiskalpolitische Sparmaßnahmen eine „interne Abwertung“ zur Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit zu erzielen. Die OECD zeigt in ihren Analysen, dass seit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise nur wenige andere europäische Länder derart diszipliniert sogenannte „Strukturreformen“ umgesetzt haben wie Italien. Die Behauptung, Italien habe die von den europäischen Institutionen gestellten „Reformhausaufgaben“ nicht erfüllt, ist so nicht haltbar.

Lohnabwärtsdruck und Budgetkonsolidierung verschärften die italienische Krise

Die aus einem Mix von Lohnabwärtsdruck und Budgetkonsolidierung resultierende negative Nachfrageentwicklung beförderte die italienische Wirtschaft in eine quasi permanent schwelende Rezession: Während die deutsche Wirtschaft in den Jahren 2010 bis 2018 durchschnittlich real um 2,1 Prozent wuchs und die Eurozone jährlich um 1,4 Prozent zulegte, betrug das reale BIP-Wachstum im selben Zeitraum in Italien nur 0,3 Prozent. Wie die Abbildung unten zeigt, war der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinen längerfristigen Prognosen zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in Italien systematisch zu optimistisch. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass wissenschaftliche Forschung klar herausgearbeitet hat, dass die negativen Wachstumseffekte von fiskalischen Konsolidierungsmaßnahmen systematisch unterschätzt wurden. Die Arbeitslosenquote wird in Italien laut aktuellen Prognosen der Kommission im Jahr 2019 bei 10,9 Prozent liegen – weiterhin ungefähr 5 Prozentpunkte über dem Vorkrisen-Ausgangsniveau des Jahres 2007.

Der IWF schätzte die wirtschaftliche Erholung Italiens systematisch zu optimistisch ein © A&W Blog
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Im Zusammenhang mit viel zu optimistischen Einschätzungen zur wirtschaftlichen Erholung Italiens prognostizierten internationale Organisationen wie die EU-Kommission und der IWF auch die Entwicklung der italienischen Staatsschuldenquote – gemessen als die öffentliche Bruttoverschuldung in Relation zum BIP – systematisch falsch. Die Abbildung unten zeigt die längerfristigen Prognosen des IWF zur Entwicklung der italienischen Staatsschuldenquote. Es ist klar zu erkennen, dass der IWF in den seit 2011 vorgelegten Prognosen den Pfad des Abbaus der Staatsschuldenquote systematisch zu positiv einschätzte: Aufgrund der geringer als erwartet ausfallenden italienischen Wachstumsraten, die maßgeblich auf den restriktiven wirtschaftspolitischen Mix zurückzuführen sind, stieg die Bruttoverschuldung in Relation zur Wirtschaftsleistung weiter an. Es sollte klar sein, dass die Priorität der Wirtschaftspolitik auf einer Ankurbelung der aktuell viel zu geringen Wirtschaftswachstumsraten liegen müsste, wenn die Staatsschuldenquote in den nächsten Jahren fallen und nicht steigen soll.

Prognosen des IWF zur Entwicklung der Staatsschuldenquote Italiens © A&W Blog
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Die potenziell verheerenden Folgen eines „Italexit“

Die verheerende wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre bereitete in Italien den politischen Nährboden, der den Rechtspopulisten rund um Matteo Salvini die Instrumentalisierung von Unzufriedenheit in der italienischen Bevölkerung erleichterte. In Italien wird mittlerweile verstärkt über die Option eines Austritts aus der Eurozone („Italexit“) diskutiert. Je länger die quasi permanente Wirtschaftskrise weitergeht, desto eher wird dies den Stimmen für einen „Italexit“ in die Karten spielen.

Ein „Italexit“ hätte jedoch nicht nur für Italien erhebliche Folgen: Die wiedereingeführte Lira würde zunächst stark abwerten, was die Importgüter teurer werden und die Arbeitslosigkeit weiter ansteigen ließe. Ein italienischer Staatsbankrott wäre bei Wiedereinführung der nationalen Währung kaum vermeidbar, weil die in Euro denominierten Schulden bei einer starken Währungsabwertung erdrückend hoch wären. Die italienische Bruttostaatsverschuldung beträgt aktuell rund 2.400 Milliarden Euro, ein Vielfaches der Verschuldung Griechenlands in Höhe von 335 Milliarden Euro. Italien hat Europas drittgrößten Bankensektor, der einen hohen Anteil der italienischen Staatsanleihen hält.

Italien ist systemrelevant, und italienische Turbulenzen würden durch Ansteckungseffekte zu Verwerfungen in den europäischen und globalen Finanzsystemen führen, die auch eine Talfahrt der ohnehin äußerst fragilen Eurozonen-Wirtschaft einleiten könnten. Daran sollten auch Eurozonen-Länder wie Deutschland und Österreich eigentlich kein Interesse haben.

Wenn Italien seine Krise überwinden und die Schuldenlast reduzieren soll, braucht das Land mehr wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum. Die aktuellen Fiskalregeln wirken prozyklisch; sie verlängern und vertiefen wirtschaftliche Krisen auf kontraproduktive Art. Die EU-Kommission und die EU-Finanzminister sollten sich darauf besinnen, dass eine temporäre Verletzung der Defizitziele im Stabilitäts- und Wachstumspakt verkraftbar ist, wenn der zusätzliche Spielraum genützt wird, um die Erholung der italienischen Wirtschaft zu fördern. Es wäre genügend Flexibilität für eine gelassene Auslegung der italienischen Budget-Performance vorhanden – wie zuletzt die Nicht-Sanktionierung Spaniens und Portugals im Jahr 2016 gezeigt hat. Keynesianische Akzente könnten von fiskalpolitischer Seite kurzfristig dazu beitragen, das Wirtschaftswachstum zu erhöhen, was mittelfristig auch zu einer Erhöhung der viel zu geringen Inflation und damit zu einer Reduktion der realen Schuldenlast beitragen würde.

Schlussfolgerungen

Durch einen wohldosierten fiskalischen Stimulus, der auch die privaten Investitionen ankurbelt, ließen sich zwar erste Schritte zur Verbesserung des wirtschaftlichen Ausblicks und der öffentlichen Schuldentragfähigkeit Italiens machen. Konjunkturpolitik allein wird die tiefgreifenden Probleme Italiens, die durch die Austeritätspolitik und Teile der Arbeitsmarktreformen in den letzten Jahren noch verschärft wurden, jedoch nicht lösen können. Der zu große Bankensektor, der viele „faule“ Wertpapiere hält, müsste auf neue Beine gestellt werden. Und die große Aufgabe für die italienische und europäische Industriepolitik besteht darin, die Produktionsstrukturen und technologischen Kapazitäten der italienischen Wirtschaft zu verbessern, sodass italienische Firmen internationale Wettbewerbsfähigkeit gewinnen und ihre Produktivität steigern können.

Ungeachtet der kurz- und mittelfristigen Konjunkturentwicklung wird sich der Prozess der ökonomischen Polarisierung zwischen Italien und einigen anderen südlichen Eurozonen-Ländern auf der einen Seite sowie Deutschland, Österreich und einigen anderen nördlichen Eurozonen-Ländern fortsetzen – wenn nicht koordinierte wirtschaftspolitische Gegenmaßnahmen in der Fiskal-, Lohn- und Industriepolitik ergriffen werden. Über die erforderlichen Maßnahmen sollte eine breite öffentliche Debatte geführt werden, die auch neue Denkansätze aufgreift. Eine Fortsetzung der Strategie der letzten Jahre, basierend auf einer einseitigen Fokussierung auf Budgetkonsolidierung und Arbeitsmarktderegulierung, erscheint jedenfalls wenig aussichtsreich; die makroökonomische Forschung der letzten Jahre verweist auf ihre kontraproduktiven Effekte. Dies sollte auch im aktuellen Konflikt rund um den italienischen Staatshaushalt berücksichtigt werden, dessen Ausgang für die wirtschaftspolitische Ausrichtung und Zukunft des gesamten Euroraums bedeutsam ist.