EU-Mercosur: Mehr Handel um welchen Preis?

20. Oktober 2023

Die EU will noch dieses Jahr das Handelsabkommen mit dem südamerikanischen Mercosur-Wirtschaftsblock abschließen. Als Vertreter einer zivilgesellschaftlichen Organisation im Mercosur-Raum muss man sich über so manche Aussage seitens europäischer Politiker:innen und Wirtschaftsvertreter:innen die Augen reiben. Allzu oft wird das Abkommen so dargestellt, als ob alle dabei gewinnen würden – vor allem in den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay. Nichts könnte weiter weg von der Realität sein. Um das zu verstehen, lohnt ein Blick auf den politischen Kontext der Mercosur-Länder.

Politische Lage im Mercosur

Nicht nur Brasilien, sondern die ganze Welt konnte aufatmen, als der damalige Präsident Jair Bolsonaro abgewählt wurde. Grund dafür ist nicht nur das Ende von Bolsonaros desaströser Amazonas- und Klimapolitik. Die Regierung von Lula arbeitet zwar daran, problematische Bestimmungen seines Vorgängers aufzuheben und demokratische Institutionen und Umweltschutzbehörden wiederherzustellen, allerdings muss uns klar sein, dass dies langfristige Prozesse sind. Brasilien ist ein riesiges Land, sein Kongress sowie lokale und regionale Regierungen werden teilweise stark von den Interessen der Agrarindustrie beeinflusst. Dies wird sich leider nicht so schnell ändern.

Anders ist die Lage in Argentinien, wenn auch keineswegs einfacher. Der Favorit auf den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober heißt Javier Milei. Der Rechtspopulist steht Mercosur kritisch gegenüber. Er verfolgt eine Wirtschaftspolitik, die Argentinien destabilisieren könnte. Zwar befürwortet er engere Beziehungen mit der „entwickelten westlichen Welt“, allerdings verfolgt er antidemokratische Positionen, die stark an Jair Bolsonaro erinnern.

In Paraguay gewann bei den letzten Wahlen erneut die Colorado-Partei, die seit den 1940er-Jahren jede Wahl bis auf eine gewonnen hat – sinnbildlich für den Zustand der Demokratie im Land. Die Colorado-Regierung ist eng mit der Agrarindustrie des Landes verbunden, welche dafür verantwortlich ist, dass Paraguay in den letzten Jahren zu den Ländern mit den höchsten Abholzungsraten gehört.

Uruguay ist die stabilste Demokratie in der Region. Die politische Landschaft hier ist vor den Wahlen im nächsten Jahr gespalten zwischen dem rechts-liberalen Lager um die Partido Nacional und dem Lager links der Mitte um die Frente Amplia. Der regierende neoliberale Präsident Luis Lacalle Pou von der Partido Nacional hat bereits gedroht, den Mercosur-Block zu verlassen, da er unzufrieden über fehlende neue Handelsabkommen ist. Uruguay litt heuer unter der schlimmsten Dürre seiner Geschichte, die zu einem großen Teil auf die intensive Viehzucht im Land zurückzuführen ist.

Im gesamten Mercosur-Raum kämpfen indigene Organisationen und soziale Bewegungen gegen die gravierenden sozialen und ökologischen Auswirkungen von Bergbau und Agrarindustrie. Beispielsweise kam es dieses Jahr im Norden Argentiniens, in der Region Jujuy, zu einem Aufstand indigener Gruppen gegen die Ausbeutung und Zerstörung ihrer Gebiete durch den Lithiumabbau – ein wichtiges Mineral für die Energiewende in Europa.

Handelsabkommen gegen Menschenrechte

Wie könnte sich das EU-Mercosur-Abkommen nun in diesen Kontext einfügen? Die bisherige Geschichte diesbezüglicher Handelsabkommen zeigt viele Nachteile für Lateinamerika: Die Bedingungen für menschenwürdige Arbeit verschlechtern sich, Investitionen fließen vor allem in die Rohstoff- und die Agrarindustrie. Das Handelsdefizit gegenüber Europa steigt, die Rolle als Rohstoffexporteur wird weiter zementiert. Abgesehen davon fehlt es an verbindlichen und durchsetzbaren Instrumenten für den Umweltschutz oder die Einhaltung internationaler Arbeitsnormen.

EU-Mercosur lässt „ein weiter wie bisher“ befürchten. Schon seine Entstehungsgeschichte ist problematisch. Das Abkommen wurde komplett intransparent ausgehandelt, ohne die Zivilgesellschaft oder die Parlamente zu konsultieren. Die Verhandlungen wurden unter der illegitimen brasilianischen Regierung von Michel Temer – er kam nur durch ein Amtsenthebungsverfahren gegen seine Vorgängerin Rousseff ins Präsidentenamt – beschleunigt und der Text wurde während der Amtszeit von Bolsonaro fertiggestellt.

Arbeitsrechte und Klimaschutz kein Thema

Im Abkommen werden weder die Einhaltung von grundlegenden Arbeitnehmer:innenrechten noch Umwelt- und Klimafragen als zwingende Voraussetzungen für dessen Gültigkeit und Aufrechterhaltung behandelt. Daran ändert auch die Erwähnung des Pariser Klimaabkommens nichts. Auch das Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung weist keinerlei Mechanismen, wie etwa Sanktionen, zu dessen verbindlicher Durchsetzbarkeit auf. Nicht nur darum erscheinen all diese Punkte wie bloße Lippenbekenntnisse. Trotzdem wird der Umweltschutz von Befürworter:innen oft als Argument benutzt, um die eigentlichen Ziele des Vertrags zu verschleiern: Vorteile für große Exportunternehmen, Privatisierung von Dienstleistungen und Liberalisierung des Kapitalverkehrs. Auch die von der EU vorgeschlagene Zusatzerklärung über „Klima, Umwelt und Menschenrechte“ löst diese Probleme nicht. Vielmehr handelt es sich um ein Dokument mit neokolonialen Zügen, das ausschließlich Forderungen an die Mercosur-Länder stellt.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Noch schlimmer, das Abkommen wird zentrale Triebkräfte für die Entwaldung in Südamerika verstärken: die Intensivierung der Produktion von landwirtschaftlichen und mineralischen Rohstoffen sowie den Infrastrukturausbau in Waldregionen. Studien deuten darauf hin, dass das Abkommen zu einem Anstieg der CO2-Emissionen und zur Zerstörung von Lebensräumen vor allem in Brasilien beitragen wird. Besonders die Agrarindustrie, deren Exportmengen sich durch EU-Mercosur erhöhen würden, bedroht hier die Lebensgrundlagen indigener und traditioneller Bevölkerungsgruppen, beeinträchtigt ihre territorialen Rechte und die Bedingungen für ihre wirtschaftliche Existenz sowie für ein würdiges Leben.

Zudem fördert das Abkommen den extensiven Einsatz von Pestiziden, die sich direkt auf die Gesundheit der Landarbeiter:innen sowie auf die Ernährungssicherheit der Bevölkerung auswirken. Die meisten dieser Pestizide sind in Europa verboten – und würden aus europäischen Ländern importiert, wo sie von großen Unternehmen wie Bayer hergestellt werden.

Mehr Konkurrenz für Klein- und Mittelbetriebe

Aber auch gesamtwirtschaftlich wird der Mercosur-Raum vom Abkommen mit der EU nicht profitieren. Mehreren Studien zufolge, etwa von der London School of Economics, der Boston University und dem Brasilianischen Institut für angewandte Wirtschaftsforschung, wird es die Deindustrialisierung in Brasilien vertiefen. Dasselbe gilt für Argentinien. Dies wird zu einem erheblichen Verlust von Arbeitsplätzen – vor allem solchen mit guten, menschenwürdigen Bedingungen – und einem geringeren Wirtschaftswachstum führen. Durch die Öffnung des öffentlichen Auftragswesens, das etwa 12 Prozent des brasilianischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht, müssten lokale Klein- und Mittelbetriebe in Zukunft mit europäischen multinationalen Unternehmen um Aufträge konkurrieren. Dies könnte erhebliche negative Auswirkungen auf die Beschäftigung und Wirtschaft in Regionen haben, die von den großen Wirtschaftszentren weiter entfernt sind. Auch Sektoren wie die bäuerliche Landwirtschaft und staatliche Programme Brasiliens wie das nationale Schulspeisungsprogramm, aber auch das öffentliche Gesundheitssystem wären direkt davon betroffen.

Wenn die politischen Ziele von Regierungen in der Europäischen Union sowie in den Mercosur-Ländern wirklich eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung mit guten Arbeitsplätzen, der Schutz von Umwelt und Klima sowie soziale und demokratische Stabilität sind, dann müssen sie internationale Abkommen schaffen, die diese ins Zentrum stellen. Handelsabkommen wie EU-Mercosur sind kein geeignetes Instrument dafür. Die Verhandlungen müssen zurück an den Start, denn eines ist klar: Nicht nur eine andere Handelspolitik, sondern auch eine andere Welt ist möglich!

Public Services International (PSI) ist ein globaler Gewerkschaftsverband mit mehr als 700 Gewerkschaften, die 30 Millionen Arbeitnehmer:innen in 154 Ländern vertreten.

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