Chemisches Spielzeug könnte der Auslöser für eine kleine Revolution im Reich der delegierten Gesetzgebung sein. Was bisher in Expert:innengruppen als Norm für die Zertifizierung von Produkten und Dienstleistungen erarbeitet und nur gegen Entgelt zugänglich war, muss in Zukunft nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs veröffentlicht und für alle Bürger:innen frei zugänglich sein. Das wirft zwei heikle Fragen auf, nämlich: Gilt das nur für Spielzeug und wer zahlt in Zukunft für die Entwicklung von Normen?
Worum geht es?
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Frühjahr 2024 im sogenannten „Malamud-Verfahren“ könnte das gesamte System der technischen Normung revolutionieren. Es geht um chemisches Spielzeug. Für die Sicherheit und den Schutz der Kinder beauftragte die EU-Kommission das europäische Normungsinstitut CEN, vier Normen zur Sicherheit von Spielzeug auszuarbeiten. Für Spielzeug, das diesen Normen entspricht und mit der entsprechenden EN-Kennziffer ausgezeichnet ist, gilt die Konformitätsvermutung. Dadurch soll der freie Warenverkehr gefördert und ein gleichwertiges Sicherheitsniveau in allen europäischen Ländern gewährleistet werden. Verbraucher:innen können davon ausgehen, dass derart ausgezeichnete Produkte die harmonisierten technischen Qualitätsstandards erfüllen. Darüber hinaus wird die Kompatibilität von Produkten befördert.
Transparenz und „Stechfliege des Internets“
Ausgangspunkt des Rechtsstreits war der Antrag einer kalifornischen NGO (Public.Resource.Org.Inc) und ihres irischen Ablegers (Right to Know CLG) auf Zugang zu vier harmonisierten technischen Normen. Es wird kolportiert, dass hinter den Klägern der US-Internetaktivist Carl Malamud steht, der sich seit Jahrzehnten für mehr Transparenz einsetzt – von Kritiker:innen deshalb auch als „Stechfliege des Internets“ bezeichnet.
Im Mittelpunkt des Verfahrens stand die EU-Transparenzverordnung. Kern der Auseinandersetzung war, inwieweit der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, also das öffentliche Interesse am freien Zugang zu Dokumenten der EU-Institutionen, eingeschränkt werden darf. Am Verfahren beteiligten sich u.a. elf Normungsinstitute aus den EU-Mitgliedstaaten.
Urheberrecht an Normen – fehlende Originalität
Der Zugang zu den in Frage stehenden Normen wurde seitens der EU-Kommission unter Berufung auf den Schutz geschäftlicher Interessen eischließlich des geistigen Eigentums abgelehnt. Das Europäische Gericht (EuG) bestätigte diese Entscheidung. Die Generalanwältin des EuGH wies in ihren Schlussanträgen darauf hin, dass das EuG einen Rechtsfehler begangen hätte, indem es die Vorfrage, ob Normen urheberrechtlich schutzfähig sind, unbeantwortet gelassen hatte. Sie führt dazu aus, dass Arbeitsaufwand oder Sachkenntnis allein keine Originalität i.S. des Urheberrechts begründen. Ebenso wenig bedeute die Länge eines Textes, dass dieser urheberrechtlich schutzfähig sei. Aus ihrer Sicht seien harmonisierte technische Normen typischerweise das Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchungen und gerade nicht kreativer geistiger Schöpfung.
Kein überwiegendes öffentliches Interesse am Zugang zu Normen?
Durch die infrage stehenden Normen wurden Bereiche standardisiert, in denen ein hohes Verbraucher:innenschutzniveau wesentlich ist, nämlich einerseits die Sicherheit von Spielzeug, andererseits die Festlegung der zulässigen Höchstwerte von Nickel in seiner Eigenschaft als Kontaktallergen und mögliches Karzinogen. Solche Normen sind für die Hersteller und alle anderen an der Lieferkette Beteiligten von Bedeutung. Jeder Kunde oder jede Kundin sollte die Norm kennen, um größtmögliche Sicherheit von Spielzeug zu gewährleisten. Aus diesen Gründen kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass am freien Zugang zu den vier Normen ein öffentliches Interesse besteht.
Die EU-Transparenzverordnung normiert den Grundsatz des freien Zugangs zum Recht: Dokumente sollen in größtmöglichem Umfang zugänglich gemacht werden, auch dort, wo Organe im Rahmen übertragener Befugnisse als Gesetzgeber tätig sind. Der EuGH legt den Grundsatz der Transparenz in ständiger Rechtsprechung weit aus, sodass selbst internen Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren das generelle Bedürfnis nach vertraulicher Behandlung abgesprochen wurde. Konsequent ist auch der Umkehrschluss (vgl. Urteil des EuGH, Rechtssache Stichting), in dem der EuGH darauf verweist, dass Normen für die Öffentlichkeit nicht verbindlich sind, wenn sie nicht im Amtsblatt veröffentlicht worden sind.
Abschließend stellt sich die Frage: Ist dieses öffentliche Interesse nur auf diese vier Spielzeug-Normen beschränkt? Die Frage wird im Hinblick auf die Ausführungen der Generalanwältin und des EuGH zur Drittwirkung von Normen sowie auf die enge Auslegung der Einschränkung des Transparenzgebotes zu verneinen sein. Auch die neue EU-Normungsstrategie bestätigt dieses Ergebnis: Grundlegende demokratische Werte und Interessen der EU sowie ökologische und soziale Grundsätze müssen berücksichtigt werden. Ziel der Strategie ist es auch, die Kontrolle über die Normen stärker von den europäischen Normungsorganisationen zur EU-Kommission zu verlagern, um bei der Ausarbeitung die Berücksichtigung des öffentlichen Interesses zu gewährleisten.
Alles nur freiwillig oder doch Teil der Gesetzgebung?
Seit dem Urteil des EuGH in der Rechtssache James Elliot ist klar: Harmonisierte europäische technische Normen, die im Amtsblatt veröffentlich wurden, sind Teil des Unionsrechts. Zwar wird mit ihrer Ausarbeitung eine privatrechtliche Einrichtung – eine Normungsorganisation – beauftragt. Aber nur die EU-Kommission ist befugt, den Auftrag zu erteilen, eine Norm zur Umsetzung einer Richtlinie oder Verordnung auszuarbeiten. Obwohl ihre Einhaltung nicht zwingend ist, wird die Konformität von Produkten und Dienstleistungen mit der Norm vermutet.
De facto entwickelt sie deshalb verbindliche Wirkung. Denn: Andere Verfahren zum Nachweis der Einhaltung einer Norm auf Basis des Unionsrechts wären für die Hersteller kostspieliger. Sie müssten zusätzlich investieren, um Methoden zu finden, mit denen zumindest ein gleichwertiges Schutzniveau wie das der Normen gewährleistet werden kann. Ein solches Nachweisverfahren begründet außerdem keine Vermutung der Konformität mit den wesentlichen Anforderungen der zugrundeliegenden Verordnung oder Richtlinie.
Somit sind harmonisierte technische Normen ein wesentliches Werkzeug, um das Recht auf freien Warenverkehr in Anspruch zu nehmen. Der Hersteller oder Dienstleister profitiert von der Konformitätsvermutung und kann sich in Haftungsfällen im Zusammenhang mit Problemen, Unfällen oder Rechtsstreitigkeiten auf diese Vermutung berufen. Er braucht nur nachzuweisen, dass er der Norm entsprochen hat.
In seiner Entscheidung lässt der EuGH die ungeklärte Frage nach der urheberrechtlichen Schutzfähigkeit von Normen weiterhin offen. Er begnügt sich damit, die Entscheidung des EuG als rechtsfehlerhaft einzustufen, weil es entschieden hatte, dass kein überwiegendes öffentliches Interesse im Sine der EU-Transparenzverordnung bestehe.
Wirtschaftliche Bedeutung – Rütteln am Status quo der Finanzierung
Des Pudels Kern des Verfahrens ist aber die Frage: Wird durch die Verpflichtung zur Transparenz und allgemeinen Zugänglichkeit zu Normen die wirtschaftliche Bestandsfähigkeit des europäischen Normungssystems ernsthaft gefährdet? Denn: Ein wesentlicher Bestandteil des Wirtschaftsmodells vieler Normungsorganisationen ist der Verkauf von Normen. Im Verfahren vor dem EuGH erwähnt die Generalanwältin, dass 4,6 Prozent des Normungsbudgets der drei europäischen Normungsorganisationen aus dem Verkauf von Normen stammt, während die Finanzierung durch die EU-Kommission 20 Prozent ausmacht. Ein Teil der Normen – beispielsweise von ETSI – sind kostenlos zugänglich.
Die EU-Mitgliedstaaten haben die Finanzierung ihrer Normungsorganisationen unterschiedlich geregelt: So erhält das ASI in Österreich seit der Reform des Normungsgesetzes 2016 1,6 Millionen Euro an Subventionen, die Beteiligung an der Entwicklung von Normen ist kostenlos; während in Deutschland bis dato Überlegungen zur Kostensenkung oder zum freien Zugang zu Normen durch staatlichen Zuschuss von der Industrie abgelehnt wurden.
Ausblick
Der EuGH hob mit seiner Entscheidung das Urteil des EuG auf und erklärte den Beschluss der EU-Kommission, mit dem diese den Zugang zu den in Frage stehenden Normen verweigerte, auf. Die EU-Kommission täte gut daran, im Hinblick auf die Ausführungen des EuGH den freien und kostenlosen Zugang zu EU-Normen mit Drittwirkung neu zu organisieren. Das Prinzip der Rechtstaatlichkeit und das in der einschlägigen Verordnung festgelegte strenge Transparenzgebot erfordern diesbezüglich entsprechende Schritte. Auch der Umgang mit Normen der Internationalen Organisation für Normung (ISO) sollte dabei mitgedacht werden.
Denn auf internationaler Ebene wird Normung vor allem von China als wesentliches wirtschaftliches Instrument eingesetzt. So besetzen Vertreter von chinesischen Unternehmen bereits einen Großteil der Leitungsposten in internationalen Standardisierungsgremien. China hat eine eigene Strategie verabschiedet, um bis zum Jahr 2035 zum führenden Standardsetzer weltweit zu werden. Die Finanzierungsfrage stellt sich hier nicht, sie ist klar dem Staat zugeordnet.
Das Malamud-Urteil könnte einen Teil des Geschäftsmodells der nationalen und europäischen Normungsinstitute in Frage stellen, soweit das öffentliche Interesse am unentgeltlichen Zugang im Sinne der Transparenzverordnung Vorrang genießt. Denn letztere gilt nach Artikel 16 „unbeschadet geltender Urheberrechtsvorschriften“.
Aktualisiert am 28. Mai 2024.