Europa verbinden – warum die Mobilitäts­wende eine neue Bahn- und Wirtschafts­politik braucht

05. Juni 2024

Die Europäische Union hat sich zu Recht ehrgeizige Ziele in der Klima- und Verkehrspolitik gesetzt. Um diese zu erreichen, muss sie sich von ihrem marktliberalen Paradigma verabschieden und eine sozial-ökologisch planende Wirtschaftspolitik umsetzen. Nur mit einer aktiven Industrie-, Beschäftigungs- und Investitionspolitik kann die Mobilitätswende gelingen.

Ehrgeizige Ziele der EU

Die gute Nachricht zuerst: Die Europäische Union hat sich zu Recht ehrgeizige Ziele in der Klima- und Verkehrspolitik gesetzt: Bis 2050 strebt sie bekanntlich Klimaneutralität an. Als Zwischenziele will sie die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 Prozent und wie jüngst angekündigt bis 2040 um 90 Prozent gegenüber 1990 senken.

Da der Verkehr für ein Viertel aller Treibhausgase in der EU verantwortlich ist, verfolgt die Union folgerichtig auch ehrgeizige Ziele für die Eisenbahn, die das energieeffizienteste und klimafreundlichste Verkehrsmittel ist: Der Hochgeschwindigkeitsbahnverkehr soll bis 2030 verdoppelt und bis 2050 verdreifacht werden, um auf Kurz- und Mittelstrecken eine Alternative zum Flugverkehr zu bieten. Außerdem will die Union den Schienengüterverkehr bis 2030 um 50 Prozent steigern und bis 2050 verdoppeln.

Kein Plan zur Umsetzung

Aber – und das ist die schlechte Nachricht – die Union hat keinen langfristigen und realistischen Plan, wie sie diese Ziele erreichen kann. Zu diesem Schluss kommt kein Geringerer als der Europäische Rechnungshof in einem Sonderbericht über das europäische Fernverkehrsnetz.

Diese Planlosigkeit liegt allerdings nicht am mangelnden Ehrgeiz der zuständigen Generaldirektion Mobilität und Verkehr. Schließlich hat sie sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten als umtriebige Akteurin der Liberalisierung des Verkehrssektors positioniert. Vielmehr steht das Fehlen einer aktiven wirtschaftspolitischen Strategie zur Erreichung der klima- und verkehrspolitischen Ziele im Einklang mit dem marktliberalen Paradigma, dem die Generaldirektion nach wie vor verhaftet zu sein scheint: Demnach besteht die Aufgabe der Politik darin, Ziele zu setzen und einen Ordnungsrahmen für die Liberalisierung vorzugeben. Den operativen „Rest“ erledigt dann gleichsam magisch die viel beschworene unsichtbare Hand des Marktes.

Spätestens in Zeiten einer sich dramatisch zuspitzenden Klimakrise, die schon jetzt unabhängig von der künftigen Politik bis 2050 zu einem Einkommensrückgang von rund 20 Prozent führen wird, wird jedoch immer deutlicher, dass die gesetzten Ziele nur mithilfe einer neuen aktiven Wirtschaftspolitik, die stärker auf Planung setzt, erreicht werden können.

Notwendige Investitionen

Dies wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, wie groß die Herausforderungen allein im Bereich der europäischen Eisenbahnen sind: So kommt eine kürzlich veröffentlichte Studie zu dem Ergebnis, dass das Ziel einer Verdreifachung des Hochgeschwindigkeitsbahnverkehrs Investitionen in die Infrastruktur von rund 550 Milliarden Euro braucht. Darüber hinaus hat die Kommission selbst errechnet, dass in der EU jährlich 46 Milliarden Euro in Schienenfahrzeuge investiert werden müssen. Und die Einführung des Europäischen Eisenbahnverkehrsleitsystems (ERMTS), das mehr Sicherheit und eine höhere Netzkapazität ermöglicht, erfordert bis 2050 Investitionen in Höhe von 190 Milliarden Euro.

Mit welchem Plan begegnet nun die Kommission diesen gewaltigen Herausforderungen? Zum einen mit viel zu geringen Investitionen: Die Connecting Europe Facility stellt jährlich rund 5 Milliarden Euro für alle transeuropäischen Netze (also auch Straßen) zur Verfügung, der Aufbaufonds insgesamt 55 Mrd. Euro für Eisenbahnprojekte – allerdings läuft dieser 2026 aus.

Liberalisierung gescheitert

Auf der anderen Seite setzt die EU-Kommission auf die weitere Liberalisierung des Schienenverkehrs, um ihre klima- und verkehrspolitischen Ziele zu erreichen. Zu Beginn der Liberalisierung hatte die Kommission noch argumentiert, man müsse abwarten, wie sich ihre Ausnahmen auswirken. Sie hatte auch für sich reklamiert, dass es angebracht sei zu beobachten, welche Effekte ihre Maßnahmen zeitigen. Nach mehr als 30 Jahren ist es jedoch an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Denn schon in der Richtlinie zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen von 1991, mit der die Liberalisierung eingeleitet wurde, hatte sich die Union zum Ziel gesetzt, den Anteil der Schiene am Verkehrsmarkt zu erhöhen. Doch der Anteil der Schiene ist im Güterverkehr im Vergleich zu 1995 von 15,6 Prozent auf 11,9 Prozent (2021) massiv gesunken und verharrt im Personenverkehr auf niedrigem Niveau. Die Arbeitsbedingungen, die bei ansonsten mehr oder weniger fixen Kosten für Energie und Schienenfahrzeuge die einzige zentrale Stellschraube für den Preiswettbewerb darstellen, haben sich seither aber massiv verschlechtert. Sie sind der Hauptgrund dafür, dass der gesamte Eisenbahnsektor derzeit unter einem ausgeprägten Arbeitskräftemangel leidet.

Weit entfernt von einer evidenzbasierten Politik reagiert die Generaldirektion Mobilität und Verkehr auf diese Bilanz. Nachdem das Eisenbahnsystem die Medizin der Liberalisierung nicht vertragen hat, erhöht sie nun die Dosis: Bereits 2016 wollte sie die verpflichtende wettbewerbliche Vergabe des gemeinwirtschaftlichen (d. h. nicht kostendeckenden) Schienenpersonenverkehrs durchsetzen. Damit scheiterte sie jedoch am Europäischen Parlament, das in der zugrundeliegenden PSO-Verordnung festhielt, dass das bisherige System der Direktvergabe unter Einhaltung bestimmter Kriterien weiterhin zulässig ist.

2023 veröffentlichte die Kommission nun Auslegungsleitlinien zur PSO-Verordnung, mit denen sie – quasi durch die exekutive Hintertür – doch noch ihr Ziel zu erreichen versucht. Sie will damit die Anwendung der Direktvergabe – entgegen dem Wortlaut der Verordnung des europäischen Gesetzgebers – nur noch in Ausnahmefällen zulassen. Zwei Professoren für Europarecht und öffentliches Recht kommen in einem dazu erstellten Gutachten zum Schluss, dass dies rechtswidrig und rechtsstaatlich bedenklich ist. Einmal mehr zeigt sich ein Muster: In der Krise des Marktliberalismus wird zunehmend mit exekutiven und undemokratischen Mitteln versucht, diesen zu vertiefen.

Tim Engartner, Professor für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Köln, der derzeit im Auftrag der Arbeiterkammer und der Gewerkschaft vida die Folgen der Liberalisierung in verschiedenen europäischen Ländern untersucht, sieht hingegen die Zukunft in einem öffentlichen Bahnsystem. Statt die Liberalisierung weiter voranzutreiben, müsse die EU-Kommission ihren Fokus auf staatliche Investitionen in die Bahninfrastruktur lenken.

Den positiven Zusammenhang zwischen öffentlichen Investitionen in das Eisenbahnsystem einerseits und mehr Verkehr auf der Schiene andererseits belegt er unter anderem mit einem Blick in die Schweiz. Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) beweisen täglich, wie ein staatlich organisiertes Bahnsystem hocheffizient, nahezu flächendeckend und mit breiter Akzeptanz in der Bevölkerung betrieben werden kann. Während in vielen EU-Staaten unter Druck der Liberalisierung und Kürzungspolitik immer mehr Strecken stillgelegt wurden und werden, beherzigt die Geschäftsführung der SBB mit dem Ausbau des Regional- und Nahverkehrs ein ehernes Gesetz der Verkehrswissenschaft: Angebot schafft Nachfrage.

Sozial-ökologische Planung für eine Mobilitätswende, die Europa verbindet

All dies zeigt, dass die Probleme der Zukunft nicht mit den überholten Mitteln der Vergangenheit gelöst werden können. Wenn die klima- und verkehrspolitischen Ziele der Union tatsächlich erreicht werden sollen, darf Verkehrspolitik nicht länger als Wettbewerbspolitik missverstanden werden. Notwendig ist eine aktive und planende Wirtschaftspolitik, die im Bereich der Eisenbahnpolitik aus mindestens drei Säulen besteht:

  1. Öffentliche Finanzierung der Mobilitätswende:
    Das europäische Eisenbahnsystem benötigt – wie oben dargestellt – rasch umfassende Investitionen, um die Mobilitätswende einzuleiten. Dazu braucht es einen Ausbau des Regionalverkehrs und des grenzüberschreitenden Fernverkehrs, um Pendler:innen und Reisenden Freiheit von Auto und Flugzeug zu ermöglichen.
    Sozial-ökologische Investitionen in den Schienenverkehr müssen daher von den EU-Fiskalregeln ausgenommen werden. Zudem braucht es ab 2026 einen Nachfolger für den Aufbaufonds, damit zusätzliche europäische Mittel für den Ausbau, die Vernetzung und die Modernisierung des Schienennetzes als genuin europäische Infrastruktur zur Verfügung stehen. Als Gegenfinanzierung bietet sich u. a. eine Kerosinsteuer in der EU oder zumindest in möglichst vielen EU-Ländern an.
  2. Aktive Industriepolitik zur Stärkung der europäischen Eisenbahnindustrie:
    Die europäische Bahnindustrie und ihre technologische Vorreiterrolle werden durch mehr als 659.000 Beschäftigte ermöglicht. Wenn die Produkte der Mobilitätswende – u. a. Schienenfahrzeuge, Schienen und E-Busse – schnell genug und auch in Zukunft möglichst regional und mit guten Arbeitsbedingungen hergestellt werden sollen, braucht es eine aktive und planende EU-Industriepolitik.
    Leider passiert auf EU-Ebene derzeit genau das Gegenteil: Im EU-Industrieplan für den Green Deal 2023 werden weder der Schienenverkehr noch die Bahnindustrie erwähnt, obwohl es sein ausdrückliches Ziel ist, „Netto-null-Technologien und -Produkte zu fördern, die zur Erreichung der ehrgeizigen Klimaziele Europas erforderlich sind“. Auch ist die Bahnindustrie bisher nicht als „wichtiges Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse“ definiert und darf daher weiterhin grundsätzlich keine öffentlichen Beihilfen erhalten. Es ist sachlich nicht zu rechtfertigen, dass mit der Begründung, klimapolitische Ziele erreichen zu wollen, z. B. die Batteriezellenproduktion und der Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur als wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse gefördert werden, während die Herstellung moderner Bahnprodukte außen vor bleibt.
  3. Offensive Beschäftigungspolitik und Verbesserung der Arbeitsbedingungen:
    Weil die Liberalisierung auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wurde, leidet der europäische Eisenbahnsektor bereits heute unter einem massiven Arbeitskräftemangel. Nur mit guten Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen wird es gelingen, das Personal für die notwendige Mobilitätswende zu gewinnen. Daher muss das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ auch im Eisenbahnsektor europarechtlich verankert werden. Arbeits-, Lenk- und Ruhezeiten müssen digital aufgezeichnet werden, um deren Umgehung durch die Eisenbahnunternehmen zurückzudrängen. Sicherheits- und Ausbildungsstandards dürfen nicht nach unten nivelliert werden, sondern müssen im Interesse der Beschäftigten und Fahrgäste auf höchstem Qualitätsniveau harmonisiert werden.
    Teil dessen muss sein, dass kein Zug ohne Zugbegleiter:in geführt wird und Züge mit vielen Fahrgästen von mindestens zwei Zugbegleiter:innen betreut werden. Dies erhöht die Sicherheit aller – vor allem in Notfällen –, entlastet die Triebfahrzeugführer:innen bei der Abwicklung der Notfallkette und ermöglicht die Unterstützung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen (insbesondere Ältere und Menschen mit Behinderung). Statt menschenleerer „Geisterbahnhöfe“ braucht es personell gut ausgestattete „Mobility Hubs“ als Umsteigedrehscheiben. Mehr Personal bedeutet mehr Sicherheit, mehr Komfort und gute Kommunikation – das macht Bahnfahren für viele attraktiver.

Um den für die Mobilitätswende notwendigen Personalaufbau realisieren zu können, benötigen die Eisenbahnunternehmen eine entsprechende Finanzierung. Darüber hinaus sind verstärkte Investitionen in Ausbildungsplätze und Weiterbildung notwendig.

Die Bahnen waren im 19. Jahrhundert Schrittmacher des Fortschritts, fristeten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch ein eher kümmerliches Dasein. Mit einer neuen sozial-ökologischen Wirtschaftspolitik auf europäischer und nationaler Ebene könnten „Unsere Bahnen“ jetzt zum Rückgrat einer Mobilitätswende werden, die für alle erschwinglich und zugänglich ist.

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