Alte Geschlechterstereotype in der neuen digitalisierten Welt

09. Februar 2023

Ob und wie sich der digitale Wandel auf berufliche Geschlechterstereotype auswirkt, wurde im EU-Projekt „DigiTyps“ von L&R Sozialforschung, dem Institut für höhere Studien (IHS), der bab Unternehmensberatung und dem Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen untersucht. Die Ergebnisse sind ernüchternd: Geschlechterstereotype halten sich auch in der digitalisierten Arbeitswelt hartnäckig. Mitarbeitende, Unternehmen, junge Menschen bei der Berufswahl und Berufsberater:innen schreiben soziale digitale Kompetenzen eher Frauen und technische digitale Skills eher Männern zu.

Unter der Oberfläche: stereotype Zuschreibungen liegen häufig im „Detail“

Stellt man jungen Menschen die Frage, ob das Geschlecht eine Rolle bei der Berufswahl spielt, dann wird – zumindest in unseren Fokusgruppen – meist einstimmig mit Nein geantwortet. Egal ob Frau, Mann oder abseits der Binarität – alle können machen, was sie wollen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings recht schnell, dass Berufe und das Interesse nach wie vor ein „Geschlecht“ haben: Frauen „interessieren“ sich mehr für die Pflege, Männer eher für handwerklich-technische Berufe. Damit einher geht auch die Zuschreibung von Kompetenzen: Männer können Technik, Frauen haben soziale Kompetenzen.

Auch in Unternehmen bleiben stereotype Zuschreibungen bestehen

Im Einklang mit traditionellen Geschlechterstereotypen werden soziale und kommunikative Kompetenzen branchenübergreifend (schulische Bildung, Gesundheit und Pflege, Produktion, Informations- und Kommunikationstechnologie/IKT) weiterhin eher bei Frauen verortet, generelle technische Kompetenzen und umfassende Kenntnisse zu Informations- und Kommunikationstechnologien eher bei Männern. Einerseits werden dabei von den Respondent:innen Kenntnisse und Fähigkeiten, die vermehrt Frauen zugeschrieben werden, als für zunehmend digitalisierte Arbeitsabläufe besonders wichtig erachtet. Andererseits wird vielfach eine Tendenz dazu beobachtet, dass Planung, Entwicklung und Wartung im Zusammenhang mit neuen Technologien häufiger durch Männer erfolgt, während bei der Nutzung neuer Technologien kaum Geschlechterunterschiede beobachtet werden.

Haben digitale Kompetenzen ein Geschlecht?

Neben den bestehenden Stereotypen kommen bezogen auf den digitalen Wandel neue alte Stereotype hinzu: Sowohl junge Menschen als auch Bildungs- und Berufsberater:innen schreiben ausgewählte digitale Kompetenzen entlang stereotyper Geschlechtervorstellungen weiter. Dies entspricht dem traditionellen Bild: Bei sozial-digitalen Kompetenzen (z. B. Umgang mit Sozialen Medien) werden Frauen besser eingeschätzt, bei technisch-digitalen (z. B. Programmieren) hingegen Männer. Bei den befragten jungen Menschen sehen wir darüber hinaus, dass junge Frauen verstärkt zu einer vergeschlechtlichten Zuschreibung tendieren.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Digitalisierung als Gegensatz zu „Menschlichkeit“

Auffallend ist, dass Digitales als konträr zu Tätigkeiten „am“ und mit Menschen verstanden wird. Die jungen Befragten sehen beispielsweise Berufe wie die Pflege als wenig digitalisiert, weil hier das „Soziale“ im Fokus steht.

Die befragten Bildungs- und Berufsberater:innen sehen darüber hinaus in der Digitalisierung mehr Chancen, junge Frauen für den MINT-Bereich zu begeistern als junge Männer für Gesundheits- und Erziehungsberufe. Dass hier die Möglichkeiten unterschiedlich bewertet werden, könnte darauf verweisen, dass Digitalisierung „männlich“ konnotiert wird und ihr somit in Männerdomänen mehr Einfluss zugeschrieben wird.

Kann die Digitalisierung dazu beitragen, Arbeitsmarktsegregation zu verringern?

Zu der Frage, ob Digitalisierung beitragen wird, Geschlechtersegregation am Arbeitsmarkt zu verringern bzw. Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen zu reduzieren, fallen die Antworten der befragten Unternehmen differenziert aus, wobei insgesamt pessimistische Einschätzungen leicht überwiegen. Dabei haben Männer der Tendenz nach stärker positive Erwartungen als Frauen. Auf Branchenebene zeigt sich ein im Vergleich optimistischeres Bild im IKT-Bereich und ein vergleichsweise pessimistischeres im Pflegesektor.

Die Berufswahl darf keine Frage des Geschlechts sein

Das hartnäckige Bestehen „geschlechtstypischer“ Zuschreibungen ist deswegen so bedenklich, weil sie Auswirkungen auf die Arbeitsmarktsegregation nach Geschlecht haben. Die große Mehrheit der befragten Bildungs- und Berufsberater:innen sieht traditionelle Geschlechterrollen als einen wichtigen Einflussfaktor bei der Berufswahl.

Eine aktive Gestaltung des digitalen Wandels unter Berücksichtigung der gewonnenen Erkenntnisse ist somit wichtig. Mögliche Handlungsfelder sind der Ausbau und die Verfolgung einer praxisnahen, prozessorientierten und gendersensiblen Berufs- und Bildungsorientierung, um Stereotype und Rollenerwartungen zu hinterfragen. Das Ziel soll es sein, dass junge Menschen jenseits gesellschaftlicher Erwartungen eine Berufswahl treffen können.

Pauschalisieren vermeiden! Die Lebenswelten junger Menschen sind sehr verschieden

Wenn auch die Ergebnisse dafür sprechen, dass stereotype Zuschreibungen weiterbestehen und fast ungebrochen in den digitalen Raum transformiert werden, sollte man vorsichtig mit Pauschalisierungen sein. Wir konnten bei den jungen Menschen eine sehr vielfältige Herangehensweise an das Thema sehen. Die berufliche Segregation nach Geschlecht wird kritisch hinterfragt, Geschlechterstereotype werden reflektiert und als „soziale Produkte“ verstanden. Diese Bandbreite und Diversität gilt es zu berücksichtigen!

Gemeinsam und alle zusammen: Stereotypen brechen

Zu guter Letzt: Die Studie verweist darauf, wie schwer es ist, traditionelle Rollenerwartungen und Geschlechterbilder zu durchbrechen. Das Aufbrechen von Stereotypen und der Anstoß zu Veränderungen muss deswegen auf vielen Ebenen und unter Einbezug verschiedener Akteur:innen passieren. Es braucht strukturelle Veränderungen und politisches Handeln, aber auch ein ständiges Hinterfragen von stereotypen Vorstellungen im (beruflichen) Alltag.

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