„Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt“, das war eine realistische Feststellung des Kommissionspräsidenten Jacques Delors 1992. Durch den Binnenmarkt haben sich zwar viele Chancen für die Beschäftigten eröffnet. Mobil Arbeitende, allen voran die Lkw-Fahrer:innen, werden jedoch mehr und mehr zur prekär Beschäftigten, indem die Mitgliedstaaten die großen Lohn- und Kaufkraftunterschiede als ein Mittel des Wettbewerbs der niedrigsten Standards nutzen. Folglich erleben immer mehr Beschäftigte einen Binnenmarkt, der ihnen weder arbeits- noch sozialrechtlichen Schutz bietet. Die von den europäischen Institutionen ins Leben gerufene Konferenz zur Zukunft Europas hat das Ziel, die konkreten Probleme und Erwartungen der Bürger*innen aufzunehmen und Lösungen zu erarbeiten. Für die Gewerkschaften eine wichtige Gelegenheit, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und gerechte Vergütung der Lkw-Fahrenden auf Europas Straßen einzufordern.
Die Begeisterung für die europäische Idee, die durch die Konferenz zur Zukunft Europas bestärkt werden soll, könnte durch eine wesentlich dynamischere Angleichung der Löhne und Arbeitsbedingungen positiv beeinflusst werden. Denn wenn wir bei dem bisherigen Tempo seit 1990 bleiben, würde sich eine solche Angleichung erst nach 2050 einstellen. Das ist für die europäischen Beschäftigten keine akzeptable Geschwindigkeit. Vielmehr brauchen wir endlich eine spürbare Dynamik, damit gerade die Menschen, die in Europa über Grenzen hinweg arbeiten, in ihrem Arbeitsalltag schnell eine Verbesserung erleben. Statt am täglichen Kampf gegen Lohndrückerei und Ausbeutung zu verzweifeln, könnten sie zu einer der Stützen der Zukunft Europas werden. Das gilt insbesondere für die Logistikbranche.
Moderne Lohnsklaverei auf den europäischen Straßen
Der Frachtverkehr in Europa ist nach wie vor durch Tarifflucht und Dumpinglöhne bestimmt. Das hat sich auch durch neue EU-Gesetze nicht geändert. Vor allem osteuropäische Lkw-Fahrende sind oft monatelang in ganz Europa unterwegs. Sie werden nach Regeln ihres Heimatlandes angestellt und bezahlt, obwohl sie nie zu Hause sind.
Das Herkunftsland erhält auf dieser Basis Steuern und Sozialversicherungsabgaben. Das Lohnniveau macht die vor allem in Westeuropa Fahrenden arm, denn der Lebensunterhalt dort ist deutlich teurer. Motels oder Handwerkerunterkünfte sind schlicht unbezahlbar. Zwangsläufig campieren die Fahrenden unter unzumutbaren Verhältnissen auf überfüllten Autobahnraststätten in den Lkws bzw. Sprintern.
Nur die – meist westeuropäischen – Auftraggeber profitieren, sie nutzen das Lohngefälle. Sie kaufen in Osteuropa günstig Transportleistung ein und unterlaufen so westeuropäische Tariflöhne. Mittelfristig werden Flächentarifverträge für Lkw-Fahrende durch Tarifflucht unwirksam. Deutsche Speditionen unterliegen bereits heute im Regelfall keinem Tarifvertrag mehr, da sie Arbeitgeberverbände mit Tarifbindung verlassen. Diese Praktiken haben den Fachkräftemangel in der Logistik zusätzlich verschärft: Laut Schätzungen beläuft er sich in Deutschland auf rund 80.000, in der gesamten EU auf 400.000.
Fahrermangel ist seit Jahrzehnten Dauerzustand auf diesem Markt, auf dem Regeln nicht eingehalten und kaum kontrolliert werden. So machte der „Brexit“ lediglich sichtbar, was seit Jahrzehnten das strukturelle Problem dieser Branche ist: Der EU-Binnenmarkt organisiert seinen Warentransport nicht effizient und volkswirtschaftlich sinnvoll; es gilt: Billig statt besser, egal wie weit. Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass vor einem Versorgungskollaps gewarnt wird.
Chancen bietet das im Folgenden vorgestellte Instrument der Aufwärtskonvergenz aber auch über den Lkw-Bereich hinaus. Im Verkehrssektor gibt es weitere Problembereiche, wie die neuen plattformbasierten Mobilitätsdienstleistungen, beispielsweise die Vermittlung von (Sammel-)Fahrten per App- bzw. Smartphone-Steuerung. Sie stecken im Niedriglohnbereich fest und sind für qualifizierte Beschäftigte unattraktiv.
Initiative „gerechte Vergütung durch Aufwärtskonvergenz“
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert auf EU-Ebene in der politischen Diskussion um das Mobilitätspaket seit 2017 gemeinsam mit ver.di, die Situation der Lkw-Fahrenden durch Änderungen bei den Lenk- und Ruhezeiten, den Entsenderegeln oder der digitalen Erfassung und Kontrolle der Fahrtzeiten zu verbessern. Doch Reformen waren nur halbherzig, der Güterverkehr ist von der novellierten EU-Entsenderichtlinie, die den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ stärkte, ausgenommen.
Deshalb stellen der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften bis zur Realisierung armutsfester europäischer Mindestlöhne nach der EU-Mindestlohn-Richtlinie einen neuen Lösungsansatz zur Diskussion:
- Sofern keine besseren tarifvertraglichen oder sonstigen Regelungen bestehen, ist den Kraftfahrenden im europäischen grenzüberschreitenden Verkehr der höchste national geltende Mindestlohn der europäischen Logistikbranche zu zahlen, sobald sie die Grenze ihres Heimatlandes überschritten haben. Gleiches gilt für die steuerrechtliche Spesenregelung – und unabhängig vom Zielland der Tour.
- Die Europäische Fahrerkarte erfasst ab 2024 die Überquerung von Ländergrenzen. Die Heimatländer der international tätigen Kraftfahrenden müssten daran interessiert sein, dass Steuern und Sozialabgaben dem höchsten europäischen Mindestlohn entsprechend abgeführt werden. Sie sollten daher zur Datenauswertung verpflichtet werden.
Mit diesem Vorschlag würden gleichzeitig weitere positive Entwicklungen angestoßen:
Durch die Verteuerung internationaler Lkw-Fahrten ist die Verlagerung auf die Schiene im kombinierten Verkehr zu erwarten – ein wichtiger Beitrag zum „Green Deal“ der Europäischen Union. Rastplätze auf den Autobahnen werden entlastet, da Motels und Handwerkerunterkünfte bezahlbar werden.
Die Europäischen Beschäftigten erwarten sich von der Konferenz zur Zukunft Europas, dass Reformen angestoßen werden, die den Binnenmarkt sozial gestalten. Eine seiner wichtigsten Säulen ist eine gut funktionierende grenzüberschreitende Logistik. Es liegt daher im Interesse der Unternehmen, attraktive Arbeitsbedingungen zu bieten, um den Fahrermangel zu stoppen. Aber auch den Mitgliedstaaten muss daran gelegen sein, die Aushöhlung der sozialen Sicherungssystem durch Lohndumping zu verhindern. Eine gerechte Vergütung der Lkw-Fahrenden ist dafür die Grundvoraussetzung.
Im Zuge der digitalen und grünen Transformation der europäischen Wirtschaft müssen wir die Herausforderung bewältigen, in vielen Dienstleistungsbereichen eine Dynamik für bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen in ganz Europa zu erreichen. Denn hier steigt der Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften. Solange hier aber die aktuellen Standards so schlecht sind, ist diese Branche für Industriebeschäftigte, die in der industriellen Produktion heute dank hoher Tarifbindung gutes Geld bei gesicherten Arbeitsbedingungen verdienen, nicht attraktiv. Die Initiative für eine Aufwärtskonvergenz ist also auch ein wichtiger Baustein für eine gelingende Transformation.