Prekarisierung migrierter Leiharbeiter*innen im Online-Versandhandel – digitale Kontrolle im Betrieb

17. Februar 2023

Günstige Paketlieferungen ermöglichten der Online-Versandhandelsbranche in den letzten Jahren ein explosives Wachstum. Um trotz niedriger Versandkosten rentabel zu wirtschaften, beuten Unternehmen in der Branche Arbeitnehmer*innen – die in den meisten Fällen auf eine Migrationsbiografie zurückblicken – maximal aus. Um die Ausbeutung durchzusetzen, üben die Vorgesetzten hohen Druck aus, überwachen die Arbeitsleistung digital und drohen regelmäßig mit Kündigungen oder entlassen Arbeitnehmer*innen. Bei den migrierten Angestellten und Leiharbeiter*innen der Verteilerzentren im Online-Versandhandel kommt es zu einer Verfestigung der prekären Stellung in Arbeitsmarkt und Gesellschaft. Das zeigen die Ergebnisse der Forschung meiner Masterarbeit, für die ich einen Monat während der Vorweihnachtszeit den Arbeitsprozess in einem Verteilerzentrum beobachtete und Interviews mit migrierten Arbeiter*innen aus der Branche auswertete.

Online-Versandhandel: hohe Umsätze, hoher Druck und Lohndumping

Seit 2014 ist die Paketmenge in Österreich von 150.000 Paketen auf ca. 300.000 im Jahr 2022 gewachsen und hat sich somit fast verdoppelt. Was für die Unternehmen hohe Gewinnspannen bedeutet, äußert sich allerdings in systematisch hohem Leistungsdruck und Lohndumping in der Online-Versandhandelsbranche, beides ist auch in Österreich seit 2012 dokumentiert.

In den Verteilerzentren wird am Fließband gearbeitet, und die Arbeit ist in sehr kleine Handgriffe aufgeteilt. Die kleinteiligen Arbeitsaufgaben werden wiederum digital getrackt, man spricht daher vom digitalen Taylorismus. In der Fachliteratur argumentieren manche Forscher*innen, dass digitale Kontrolle – wie digitale und audiovisuelle Anweisungssysteme oder das digitale Tracking von Arbeitsleistung – die Kontrolle des Arbeitsprozesses weniger willkürlich macht. Die Ergebnisse aus der Feldforschung, die diesem Beitrag zugrunde liegen, widerlegen das zumindest im untersuchten Fall. Hier wird die digitale Arbeitsleistungserfassung vom Management auf drei verschiedene Arten benutzt, um den Arbeiter*innen im Betrieb Druck zu machen.

Arbeitsdruck: digitale Kontrolle als Vorwand für Willkür

Erstens verfolgen Vorgesetzte in Echtzeit die Leistung aller Mitarbeiter*innen mit. Wenn sie sehen, dass die Arbeitsleistung einzelner Arbeiter*innen sinkt, gehen sie zu deren Positionen und drängen sie verbal zu schnellerer Arbeit. Da die Arbeitsleistung so angezeigt wird, dass die Arbeiter*innen in Rankings um die besten Plätze konkurrieren, zeigen Vorgesetzte Arbeiter*innen, zweitens, ihre individuelle Leistung. Damit schürt das Management die Konkurrenz zwischen den Arbeiter*innen. Vorarbeiter*innen sagen in diesen Fällen beispielsweise:

„Du bist auf Platz drei, du hast heute 1.000 Pakete gemacht. Das ist nicht schlecht, aber sieh dir die Kollegin mit 1.480 Paketen an. An der musst du dich orientieren.“ (Beobachtungsprotokoll)

Der Vergleich durch Vorgesetzte spaltet die Arbeiter*innen, da Erstere den Leiharbeiter*innen erzählen, sie können in die Festanstellung übernommen werden, wenn sie sich anstrengen. Allerdings wird das in den seltensten Fällen eingelöst. Nach den Spitzensaisonen der Branche – wie beispielsweise nach Weihnachten – werden die meisten Leiharbeiter*innen gekündigt. Die bevorstehenden Entlassungen verheimlicht das Management allerdings. Arbeiter*innen hoffen daher auf die Übernahme in die Festanstellung und strengen sich dafür besonders an, ihre Statistik zu optimieren.

Die dritte Art, auf die das Management die digitale Arbeitserfassung nutzt, um den Druck auf Arbeitnehmer*innen zu erhöhen, ist das Androhen von Kündigung. Ein Interviewter beschreibt, was passiert, wenn Arbeiter*innen „zu langsam“ arbeiten:

„Wenn (…) du heute müde bist und nicht gut arbeitest und der Chef [der Leiharbeitsfirma] zu dir kommt und sagt, er sieht alles, was du gemacht hast im Computer. Und wenn er zu dir kommt und sagt: ‚Du hast heute nicht sehr gut gearbeitet. Wenn du zweimal so arbeitest, bist du weg.‘“ (Ilias)

Durch diese Angstkultur und die Internalisierung des Arbeitsdrucks lagert das Management die Kontrolle zu einem Teil an die migrantischen Arbeiter*innen selbst aus.

Migrantisierung im Online-Versandhandel, Schranken zwischen Teilarbeitsmärkten

Weil der Großteil der Arbeiter*innen im Online-Versandhandel migriert ist, ist die Androhung der Kündigung ein besonders effektives Druckmittel. Denn die meisten migrierten Arbeiter*innen finden nur schwer andere Beschäftigungen:

„I applied to other jobs. Although they are easy and I could do them, they never reply to me. But when I apply for warehouse jobs [they say]: Komm, komm!” (Kovu)

Außerdem müssen Migrant*innen, insbesondere Drittstaatsangehörige, mittels der Anstellung ihren Aufenthaltstitel sichern. Daher nehmen viele Migrierte jede Arbeit an, die sie bekommen können, und setzen sich dem besonders hohen Druck aus. Manche Branchen sind dabei strukturell auf die Ausbeutung von migrantischer Arbeitskraft angewiesen, weshalb von migrantisierten Branchen oder Arbeitsmarktsegmenten gesprochen wird. Um einige Monate im Online-Versandhandel angestellt zu sein, nehmen Arbeiter*innen auch in Kauf, dass sie Überstunden nicht ausbezahlt bekommen und das, obwohl sie teilweise von den Firmen zu diesen gezwungen werden. Darüber hinaus erzählen Interviewte von undurchsichtigen Lohnabzügen oder dem Zwang, gratis „Minusstunden“ einzuarbeiten. Der Ausdruck „Minusstunden“ bezeichnet eine Praxis des Entgeltabzugs, die widerrechtlich ist. Arbeitnehmer*innen wird dabei erzählt, sie hätten eine konkrete Bringschuld, da sie beispielsweise an einem früheren Tag vor dem Arbeitsende vom Chef nach Hause geschickt wurden. Diese Praxis ist allerdings nicht legitim, denn sofern der Arbeitgeber die Arbeitnehmer*innen früher nach Hause schickt, gelten sie als freigestellt. Nicht zuletzt kommt es laut Interviewten zu Kündigungen wegen Krankenstand, wegen „langsamer“ Arbeit oder gar, da sie aufgrund einer Covid-19-Erkrankung die Quarantänepflicht erfüllten.

Prekarisierung: Verfestigung unsicherer Lebensbedingungen durch niedrige Entlohnung, regelmäßige Entlassungen und Lohnraub

Durch Lohnabzüge während des Arbeitsverhältnisses und regelmäßige Kündigungen, bei gleichzeitigem Ausschluss aus dem Restarbeitsmarkt, werden migrantische Arbeiter*innen strukturell diskriminiert. Diese Umstände wirken sich in einer Prekarisierung der Arbeiter*innen aus, da sowohl während der gering entlohnten Anstellung als auch danach die Finanzierung von Leben, Wohnen und Aufenthalt(sstatusansuchen) kaum möglich ist. Interviewte erzählen, dass das Einkommen selbst kaum ausreicht, um laufende Rechnungen für Wohnen, Heizen, Mobilität und Nahrung zu decken. Insbesondere für einen Antrag zur Staatsbürgerschaft reicht das Gehalt im Onlinehandel nicht aus – was auch erhebliche demokratiepolitische Ungleichheiten verstärkt und die Arbeitnehmer*innen weitaus anfälliger für Ausbeutung macht, da andere Arbeitsverhältnisse nicht erreichbar sind. In diesem Kontext wird auch von segmentierten Arbeitsmärkten gesprochen. Teilzeitbeschäftigung herrscht vor und Vollzeitverträge scheint es selten zu geben, vermutlich da Arbeiter*innen sonst schwer zu kostenlosen Überstunden (euphemistisch als „Minusstunden“ bezeichnet) gezwungen werden können.

Indem migrantische Leiharbeiter*innen in systemrelevanten Jobs kurzfristig gekündigt oder entlassen werden, können Unternehmen die Schwankungen des Marktes abfedern. Daher trifft ein volatiler Markt prekarisierte Personen in unserer Gesellschaft überproportional. Das Management der Online-Versandhandelsfirmen verspricht bereits vor Entlassung die Möglichkeit zur Wiedereinstellung, wenn die Marktlage wieder Bedarf schafft. Dadurch warten migrantische Arbeiter*innen meistens auf die Kontaktaufnahme seitens der Firma und versuchen nicht, entgangenen Lohn oder problematische Entlassungen bzw. Kündigungen rechtlich zu beeinspruchen.

Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen

Ein erster Schritt, um die prekären Arbeitsbedingungen von Leiharbeiter*innen in der Online-Versandhandelsbranche zu verbessern, ist es, geltendes Arbeitsrecht durchzusetzen. Zentral ist, den Arbeiter*innen bewusst zu machen, dass „Minusstunden“ nicht existieren. Wenn der Chef die Angestellten nach Hause schickt, obwohl die vereinbarte Dienstzeit noch nicht vorbei ist, bedeutet das eine zu entlohnende Freistellung durch den Arbeitgeber – und keine vermeintlichen „Minusstunden“ –, die auch später nicht eingearbeitet werden müssen. Die AK bietet einen Leitfaden für Arbeitnehmer*innen in solchen Situationen:

  1. Der oder die Arbeitnehmer*in muss sich arbeitswillig erklären.
  2. Wenn der oder die Chef*in die bzw. den Angestellte*n dennoch nach Hause schickt, muss man auf dem darauffolgenden Lohnzettel kontrollieren, ob es zu Abzügen gekommen ist.
  3. Auch wenn der oder die Chef*in zu einem späteren Zeitpunkt kostenlose Arbeit fordert („Einarbeiten von Minusstunden“), muss man darauf hinweisen, dass man arbeitswillig war und deshalb wie vereinbart nur gegen Entgelt arbeitet.

Judith Kohlenberger fordert in ihrem Beitrag auch die Nachbesserung des Gesetzes gegen Lohn- und Sozialdumping sowie mehr Kontrollen, die Aufstockung der Mittel und des Personals von Finanzpolizei und Arbeitsinspektorat.

In unsichtbaren, aber systemrelevanten Arbeitsfeldern braucht es mehr Rechtssicherheit und allgemein bessere Arbeitsbedingungen. Das gebietet bereits der Umstand, dass die Gesellschaft auf Branchen wie die Reinigung, den Einzelhandel oder den Online-Versandhandel (zumindest während der Covid-19-Pandemie) angewiesen ist. Der strukturellen Ausbeutung der meist migrierten Arbeiter*innen in diesen Branchen muss Einhalt geboten werden.

Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung