In Zeiten des demografischen Wandels und einer zunehmenden Internationalisierung des Arbeitsmarktes wird die Warnung vor einem steigenden Fachkräftemangel in Österreich immer lauter. Die Rekrutierung von Fachkräften aus EU-Drittstaaten ist in der Politik dennoch umstritten. Die Rot-Weiß-Rot-Karte, ein Zuwanderungsinstrument für Personen aus EU-Drittstaaten, die für die Dauer von zwei Jahren ausgestellt wird, ist vor allem innerhalb der Sozialpartnerschaft ein heiß diskutiertes Thema. Mit der Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte im Oktober 2022 wurde der Bewerbungsprozess digitalisiert und beschleunigt und der Kreis der Zielgruppen erweitert. Doch welche Rolle spielt die Rot-Weiß-Rot-Karte in der Fachkräftemangeldebatte in Österreich?
Dieser Beitrag basiert auf den Ergebnissen meiner Masterarbeit: Anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse von OTS-Presseaussendungen verschiedener politischer Akteur:innen und Expert:innen-Interviews wurden die Zeitpunkte der Einführung (2011) und der Reform (2022) der Rot-Weiß-Rot-Karte als Problemlösungsansatz innerhalb der Fachkräftedebatte verglichen und analysiert. Im Rahmen der Arbeit wurde die Frage beantwortet, wie sich die politische Kommunikation über den Fachkräftemangel in Österreich zwischen Einführung und Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte verändert hat.
Altbekannte Ansichten
Die Geschichte der österreichischen Arbeitsmarktpolitik verdeutlicht, dass mit einem Arbeitskräftemangel im Inland stets gleich umgegangen wurde – die Rekrutierung zusätzlicher Arbeitskräfte aus dem Ausland wurde intensiviert und Gastarbeiter:innen wurden für einen begrenzten Zeitraum ins Land gelassen. Nur haben sich heute im Gegensatz zu den 1960er und 1970er Jahren die Rahmenbedingungen geändert: Mit dem EU-Beitritt 1995 ging eine Internationalisierung des Arbeitsmarktes einher und potenzielle Arbeitskräfte aus den unmittelbaren Nachbarländern wurden EU-Bürger:innen mit (un)eingeschränktem Zugang zum Arbeitsmarkt. Gleichzeitig wurde Österreicher:innen der Zugang zum gesamten EU-Arbeitsmarkt ermöglicht.
Die Rot-Weiß-Rot-Karte kann als Maßnahme gewertet werden, um in diesem Rahmen proaktiv demografischen Entwicklungen und Internationalisierungsprozessen gegenzusteuern und eine Basis für die Beschäftigung von qualifizierten Arbeitskräften aus EU-Drittstaaten zu schaffen. Trotzdem zeigt sich in der Ausgestaltung der Rot-Weiß-Rot-Karte eine Pfadabhängigkeit zu früheren Gesetzen der Reglementierung der Ausländer:innenbeschäftigung in Österreich. Die OECD bewertete die Rot-Weiß-Rot-Karte 2011 als einen Versuch Österreichs, bestehende Gesetze in ein Punktesystem umzuwandeln.
Das Thema der Migration ist in Österreich negativ behaftet. Dies spiegelt sich auch in der Positionierung Österreichs bei den EU-Osterweiterungen im Jahr 2004, 2007 und im Rahmen des EU-Betritts Kroatiens 2013 deutlich wider: Österreich war mit Deutschland das einzige Land innerhalb der bestehenden EU, welches die 3+2+2-Formel bis zuletzt nutzte, um die Arbeitnehmer:innenfreizügigkeit für acht der zehn EU-Beitrittsländer 2004 sowie 2007 für Bulgarien und Rumänien und 2013 für Kroatien möglichst lange hinauszuzögern. Durch die Erweiterung des europäischen Arbeitsmarkts wurden ein Verlust an Humankapital, hohe Arbeitslosigkeitszahlen und sinkende Löhne befürchtet. Die Besorgnis bezüglich stärkerer Migrationsbewegungen und der möglichen Auswirkungen für die österreichische Volkswirtschaft überwog im politischen Diskurs und von positiven ökonomischen Effekten für Österreich wurde im Vergleich wenig berichtet.
So wurde auch im Jahr 2011 bei der Einführung der Rot-Weiß-Rot-Karte auf politischer Ebene eine Grundsatzdiskussion geführt, ob eine explizite Anwerbung von qualifizierten Arbeitskräften aus EU-Drittstaaten notwendig sei. Dabei äußerten besonders die Oppositionsparteien Kritik. Harald Vilimsky, ehemaliger Nationalratsabgeordneter der FPÖ, bezeichnete die Rot-Weiß-Rot-Karte im Jahr 2011 als eine „Einwanderungskarte in unser Sozialsystem, die zum Missbrauch regelrecht einlade“. Die Grünen sahen in der Rot-Weiß-Rot-Karte eine Maßnahme, die Integration in Österreich verhindere, und kritisierten die Regierung scharf.
Besser, schneller, weiter ist die Devise
Heute wird die Debatte rund um den Fachkräftemangel viel breiter und intensiver diskutiert. Während die Arbeitgeber:innen-Vertretung bereits vom Arbeitskräftemangel spricht, verneint die Arbeitnehmer:innen-Vertretung einen allgemeinen Fachkräftemangel. Die hohe Zahl der offenen Stellen würde mit den schlechten Arbeitsplatzbedingungen in bestimmten Branchen zusammenhängen. Die angespannte Lage am Arbeitsmarkt würde sich mit dem heimischen Arbeitskräftepotenzial lösen lassen und die Rekrutierung qualifizierter Fachkräfte aus EU-Drittstaaten sei nur ein Mittel, um Sozial- und Lohndumping zu betreiben.
Die Regierung vertritt in den Ausverhandlungen der Reform 2022 eine ökonomisch effiziente Perspektive und greift Argumente der Arbeitgeber:innen-Vertretung auf – Wirtschafts- und Arbeitsminister Kocher preist im April 2022 die Neugestaltung der Rot-Weiß-Rot-Karte mit den Worten „Besser, schneller, weiter“ an. Die Arbeitgeber:innen-Vertretung zeigt sich dementsprechend zufrieden, wurden doch ihre Forderungen, wie im Vortrag an den Ministerrat am 26.2.2020 zusammengefasst, berücksichtigt. Die Arbeitnehmer:innen-Vertretung scheint die große Verliererin in dieser Dreiecksbeziehung zu sein – sie kritisiert in der öffentlichen Diskussion vor allem ihre fehlende Einbindung in die Verhandlungen. Mit der Auflösung der großen Koalition 2017 und der SPÖ in der Opposition ist ihr Einfluss stark gesunken.
Mit der Reform im Jahr 2022 wurde eine Modernisierung und Anpassung an den Arbeitsmarkt vorgenommen: Die Antragstellung wurde vereinfacht, Anforderungen für Zielgruppen wurden heruntergesetzt und die Rot-Weiß-Rot-Karte wurde für mehr Personengruppen geöffnet. Der Fachkräftemangel hat eine Dringlichkeit erreicht, sodass Bedenken der Arbeitnehmer:innen-Vertretung und der Opposition bezüglich Arbeitnehmer:innen-Schutz und ihre Forderungen nach einer seriösen Bedarfserhebung vernachlässigt wurden.
Im Rahmen der Forderung nach einer seriösen Bedarfserhebung wird auf die Art und Weise Bezug genommen, wie in Österreich ein Mangelberuf festgestellt wird. Ob ein Beruf ein Mangelberuf ist, wird jährlich durch die Stellenandrangsziffer des AMS evaluiert – eine transparente, jedoch sehr simple Methode. Um einen Fachkräftemangel in einer Branche festzustellen, müssten unterschiedliche Aspekte berücksichtigt werden, das betonen alle Interviewparter:innen im Gespräch. In diesem Kontext wird Deutschland hervorgehoben, das mit Jänner 2023 ein Chancen-Aufenthaltsrecht eingeführt hat. Neben der Berücksichtigung der in Deutschland bereits ansässigen Personen wie Asylberechtigten, welche nun aktiv in den Arbeitsmarkt integriert werden, würde auch die Erhebung eines Fachkräftemangels qualitativ hochwertiger gestaltet. Für die sogenannte Engpassanalyse werden insgesamt 14 Indikatoren, wie die Statistikdaten von Bund und Ländern, die gemeldeten Stellen und die registrierten Arbeitslosen, herangezogen. Solch eine qualitative Methode zur Bedarfserhebung würde es in Österreich nicht geben, so die Kritik.
Dieses Bild vermitteln diverse Presseaussendungen in einem sechsmonatigen Zeitraum vor der Einführung der Reform im Oktober 2022. Jedoch ist das nur die halbe Wahrheit: Der Wille, den Fachkräftemangel in betroffenen Branchen gezielt zu minimieren und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit sind bei (allen) politischen Akteur:innen vorhanden. Doch es werden unterschiedliche Maßnahmen im Kampf gegen den Fachkräftemangel bevorzugt. Die Wirtschaftskammer und die Industriellenvereinigung, welche die Rot-Weiß-Rot-Karte im Jahr 2011 initiiert haben, preisen die Reform an und fokussieren sich in ihren Presseaussendungen auf diese. Die Arbeitnehmer:innen-Seite, welche andere Programme, wie Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen von jenen Personen, die bereits in Österreich Arbeit suchen, bevorzugt, bezieht sich mehr auf diese und versucht, jegliche Aspekte an der Reform zu kritisieren. Gleiches gilt für die SPÖ. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Arbeitgeber:innen-Vertretung keine anderen Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel unterstützt bzw. initiiert oder nicht bereit ist, über verbesserte Kriterien der Bedarfserhebung der Mangelberufe zu diskutieren, und auch nicht, dass die Arbeitnehmer:innen-Vertretung die Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte gänzlich ablehnt.
Anders sieht es die Freiheitliche Partei Österreichs: Diese lehnt (qualifizierte) Zuwanderung kategorisch ab und in ihren Parteistatuten wird klar festgehalten, dass Österreich kein Einwanderungsland sei und die FPÖ eine geburtenorientierte Familienpolitik verfolge. Die Kritik an der Rot-Weiß-Rot-Karte im Jahr 2011 spiegelt dies auch wider. Im Jahr 2022 äußert sich die Partei im Analysezeitraum (1.3.2022 bis 31.10.2022) jedoch nicht explizit zur Rot-Weiß-Rot-Karte. Das mag möglicherweise daran liegen, dass die Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte im Regierungsprogramm 2017–2022 von der FPÖ gemeinsam mit der ÖVP angekündigt worden ist und so Kritik schwerfällt. Nichtsdestotrotz versteht es die FPÖ, aktiv gegen Zuwanderung zu mobilisieren, wodurch das Thema der qualifizierten Zuwanderung ein schwieriges in der österreichischen Politik bleibt. Durch die Vermischung der Themen Asyl, Fluchtmigration und qualifizierter Zuwanderung scheint eine sachliche Diskussion über qualifizierte Zuwanderung aus EU-Drittstaaten zur Überwindung des akuten Fachkräftemangels fast unmöglich.
Nur ein Tropfen auf dem heißen Stein?
Die Rot-Weiß-Rot-Karte mag ein umstrittenes Thema und ein Tropfen auf dem heißen Stein – welcher sich Arbeitsmarkt nennt – sein, und doch darf sie nicht unterschätzt werden. Laut der Aufenthaltsstatistik 2022 des Innenministeriums gab es im Jahr 2022 6.802 Rot-Weiß-Rot-Karten-Träger:innen. Die Zahlen des Nachfolgemodells der Rot-Weiß-Rot-Karte, der Rot-Weiß-Rot-Karte plus, können nur teilweise mitberücksichtigt werden, da diese auch für Familienangehörige erteilt wird. Hier wird in der Aufenthaltsstatistik nicht unterschieden. Wirtschafts- und Arbeitsminister Kocher zufolge zeigt die Reform jedoch im März 2023 bereits erste Erfolge und er betont, dass die Reform der richtige Schritt war, um den österreichischen Standort international attraktiver zu machen.
Ein Erfolg der Reform ist auch dringend notwendig, denn die Registerzählung der Statistik Austria vermittelt ein unleugbares Bild: Der Trend einer immer älter werdenden Gesellschaft hält weiter an. Der Anteil der über 65-Jährigen ist von 17,8 Prozent im Jahr 2011 auf 19,4 Prozent im Jahr 2021 gestiegen, während der Anteil der 15- bis 64-Jährigen auf 66,2 Prozent und der Anteil der unter 15-Jährigen auf 14,4 Prozent gesunken ist. Das Thema des Fachkräftemangels hat in der österreichischen Politik im Zeitraum 2011 bis 2022 an Präsenz gewonnen und wird auch in Zukunft nicht an dieser verlieren, da die Auswirkungen des demografischen Wandels auf den Arbeitsmarkt noch nicht ansatzweise als gelöst bezeichnet werden können. Nicht zu vergessen: Die internationale Konkurrenz um qualifizierte Fachkräfte steigt kontinuierlich.
Doch welche Rolle spielt die Rot-Weiß-Rot-Karte in der Fachkräftemangeldebatte in Österreich? Um den Fachkräftemangel in betroffenen Branchen zu überwinden, bedarf es verschiedener treffsicherer Initiativen. Im Alleingang kann mit der Rot-Weiß-Rot-Karte kein Fachkräftemangel überwunden werden. Es benötigt unterschiedliche Initiativen, wie Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen im Inland, eine gezielte Attraktivierung von bestimmten Mangelberufen in Form von Lohnerhöhungen bzw. Verbesserungen der Arbeitsplatzbedingungen oder kleinräumige spezifische Initiativen von Arbeitgeber:innen im eigenen Betrieb. Eine qualitativ hochwertigere Methode, um einen Fachkräftemangel festzustellen, würde viele politische Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen um betroffene Branchen und Berufe beseitigen. Mit der Reform wurden bürokratische Hürden abgebaut und die Gruppe der angesprochenen Personen wurde erweitert, doch gilt es immer noch, den Standort Österreich in der internationalen Konkurrenz zu stärken. Mit der Einrichtung der Abteilung „Work in Austria“ der Austrian Business Agency wurde 2019 eine zentrale Anlaufstelle für potenziell qualifizierte Fachkräfte geschaffen, welche den Außenauftritt Österreichs koordiniert. Doch eine einheitliche Kommunikationsstrategie scheint bis heute auf politischer Ebene noch nicht gefunden. Der Arbeits- und Wirtschaftssoziologe Torben Krings meint im Interview, dass sie eventuell im Entstehen sei. Diese würde Österreich noch fehlen, um effektiv gegen den Fachkräftemangel vorgehen zu können. Doch fand im Jahr 2022 sicherlich nicht die letzte Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte statt. Solch ein Instrument gilt es kontinuierlich an die Gegebenheiten des Arbeitsmarkts anzupassen und zu verbessern, sodass die Rot-Weiß-Rot-Karte als effizientes Instrument gegen den Fachkräftemangel eingesetzt werden kann.